Entscheidungsstichwort (Thema)
Alkoholbedingter Leistungsabfall. Alkoholgenuß am Arbeitsplatz. Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes
Orientierungssatz
Führt der Alkoholgenuß nur zu einem Leistungsabfall, besteht bei einem Unfall kein Versicherungsschutz, wenn es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall fehlt, weil der alkoholbedingte Leistungsabfall die rechtlich allein wesentliche Bedingung des Unfalls ist (vgl BSG 8.10.1981 2 RU 45/80 = HVGBG RdSchr VB 35/82). Es kann nicht darauf abgestellt werden, daß bei einer vorgestellten anderen Gestaltung der Örtlichkeit im Bereich der Unfallstelle möglicherweise oder wahrscheinlich die Unfallfolgen nicht so schwerwiegend gewesen wären.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.10.1985; Aktenzeichen L 2 Ua 2232/80) |
SG Ulm (Entscheidung vom 20.12.1980; Aktenzeichen S 6 U 1981/78) |
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin, R. J. (J.), ist am 9. Juni 1978 tödlich verunglückt. Die Klägerin begehrt Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Tod durch einen Arbeitsunfall herbeigeführt wurde, oder ob ein alkoholbedingter Leistungsabfall die rechtlich allein wesentliche Ursache für den Unfall war.
Der Ehemann der Klägerin war bei seiner Arbeitgeberin als Betriebsschlosser beschäftigt und wurde außerdem als Aushilfsfahrer im Steinbruch eingesetzt. Am Unfalltag fuhr er einen Muldenkipper, den er auch früher schon gefahren hatte, von der Aufbereitungsanlage des Steinbruchs zu einem Freilager, um das Fahrzeug dort zu beladen. Das Fahrzeug war 2,50 m breit und hatte einen Radstand von 2,80 m. Die Fahrstraße ging nach einem leichten Gefälle in eine waagerechte Gerade von etwa 30 m über. Danach folgte eine Rechtskurve mit einem Radius von etwa 25 bis 30 m. Am Anfang der Rechtskurve war die Fahrbahn auf beiden Seiten mit Freisteinen (sog Knäppern) mit den Abmessungen von ca 1 m x 1 m x 0,7 m ausgelegt. Die Fahrbahnbreite zwischen den Knäppern betrug ca 4,30 m. Neben der Fahrbahn befanden sich Steilabfälle. Der Abstand zwischen dem im Scheitelpunkt der Kurve rechts liegenden Stein und dem folgenden betrug ca 3,50 m bis 6 m, zwischen dem zweiten und dritten ca 6,50 bis 10 m, zwischen dem dritten und vierten ca 8 bis 10 m. Der Ehemann der Klägerin stieß mit dem Fahrzeug gegen den im Scheitelpunkt der Kurve rechts liegenden Freistein und sodann gegen den zweiten, der dabei um 180 Grad gedreht und um ca 1 m in Fahrtrichtung verschoben wurde. Der dritte Stein wurde überfahren und vom abstürzenden Fahrzeug nach unten gerissen. Das Fahrzeug stürzte ca 9 bis 10 m ab. Der Ehemann der Klägerin wurde tödlich verletzt. Seine Blutalkoholkonzentration (BAK) betrug im Unfallzeitpunkt 2,08 o/oo.
Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Entschädigung ab, weil alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich wesentliche Unfallursache gewesen sei und deshalb die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht vorlägen (Bescheid vom 26. Juli 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 20. November 1980). Eine alkoholbedingte Beeinträchtigung des Fahrvermögens sei die wesentliche Bedingung des Unfalls gewesen. Betriebsbedingte Gegebenheiten, die annähernd gleiches Gewicht als Unfallursache hätten, seien nicht festzustellen gewesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente an die Klägerin verurteilt (Urteil vom 23. Oktober 1985). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin sei mit einer BAK von 2,08 o/oo trotz einer alkoholbedingten erheblichen Einschränkung seines Reaktionsvermögens noch in der Lage wesen, bei den ihm obliegenden Verrichtungen eine unternehmensfördernde Arbeit zu leisten. Allerdings sei ein alkoholbedingter Leistungsabfall eine wesentliche Ursache des Unfalls und seiner Folgen. Die Auslösung und der Beginn des Unfallgeschehens seien durch drei alternative, typischerweise auf Alkoholeinfluß zurückzuführende Möglichkeiten zu erklären. Die nächstliegende Möglichkeit sei, daß das Anfahren des ersten Steines durch eine typisch alkoholbedingte Aufmerksamkeitsstörung verursacht worden sei. Es sei auch möglich, daß der Ehemann der Klägerin unter dem Eindruck, sich auf der leicht abfallenden Strecke zu schnell der Rechtskurve zu nähern, nach rechts gesteuert habe, um der Fliehkraft nach links entgegenzuwirken, und dabei wegen der alkoholbedingten Ausfallerscheinungen den Fahrweg nicht richtig abgeschätzt habe. Als dritte Möglichkeit komme ein Abkommen - in einer "Schlafspur" - infolge eines alkoholbedingten Unwohlseins in Frage. Bei allen drei in Betracht kommenden Möglichkeiten für die Auslösung des Unfallgeschehens handele es sich um typisch alkoholbedingtes Fehlverhalten. Dennoch sei der Versicherungsschutz nicht entfallen, weil neben den alkoholbedingten Leistungsabfall als einer wesentlichen Unfallursache vor allem bezüglich der Folgen des Unfalls - dem Tod - eine gleichwertige und damit ebenfalls rechtlich wesentliche betriebsbezogene Ursache getreten sei. Sie liege in der Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes. Neben den Fahrwegen des Steinbruchs befänden sich Steilabfälle, und an der Unfallstelle betrage die Höhe des Abgrundes etwa 10 m. Nach der Überzeugung des LSG sei die schwere Folge des Unfalls, der Tod des Ehemannes der Klägerin, auf diese besondere Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes zurückzuführen. Ein Anstoßen mit dem Muldenkipper an eine Fahrwegabsicherung durch Knäpper in einem ebenen Gelände hätte mutmaßlich nicht zum Tode des Versicherten geführt. Würde man der Auffassung der Beklagten folgen, angesichts der Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes komme dem Alkoholeinfluß überragende Bedeutung zu, würden betriebliche Umstände mit erhöhter Unfallträchtigkeit in nicht zu rechtfertigender Weise entwertet. Ein Versicherter, der eine Tätigkeit mit höherem Unfallrisiko ausübe, dürfe keinen geringeren Versicherungsschutz genießen als ein Versicherter, der eine Beschäftigung mit geringerem Unfallrisiko verrichte. Die Bedeutung von Alkoholgenuß an Arbeitsplätzen mit hohem Risiko für Eintreten oder Schwere eines Unfalls sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: In einem Fall der vorliegenden Art seien wegen der gleichartigen fahrtechnischen Vorgänge die auf den allgemeinen Straßenverkehr abgestellten Grenzwerte der BAK zur Feststellung alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit anzuwenden. Schon deshalb sei hier der Versicherungsschutz entfallen. Jedenfalls aber habe das LSG zu Unrecht in dem alkoholbedingten Leistungsabfall nicht die allein rechtlich wesentliche Ursache für das Zustandekommen des Unfalls gesehen. Die Folgen eines Unfalls könnten nicht als Maßstab für eine mitwirkende Unfallursache herangezogen werden. Darüber hinaus habe das LSG bei der Tatsachenfeststellung Verfahrensvorschriften verletzt.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Ulm vom 20. November 1980 zurück- zuweisen, hilfsweise Zurückverweisung an die Vorinstanz.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Gründe des Urteils des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Witwenrente, weil ihr Ehemann nicht infolge eines Arbeitsunfalls gestorben ist (§§ 548, 589, 590 RVO).
Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 54O und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Der Ehemann der Klägerin war aufgrund eines Arbeitsverhältnisses bei seiner Tätigkeit als Fahrer eines Muldenkippers gegen Arbeitsunfall versichert (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Im Unfallzeitpunkt stand er - bei einer BAK von 2,08 o/oo - unter Alkoholeinwirkung. Er war aber nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG trotz einer erheblichen alkoholbedingten Einschränkung seines Reaktionsvermögens noch in der Lage, bei den ihm obliegenden Verrichtungen eine unternehmensfördernde Arbeit - seine versicherte Tätigkeit - zu leisten. Führt der Alkoholgenuß nur zu einem Leistungsabfall, besteht bei einem Unfall kein Versicherungsschutz, wenn es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall fehlt, weil der alkoholbedingte Leistungsabfall die rechtlich allein wesentliche Bedingung des Unfalls ist (s ua BSGE 45, 176, 178; 48, 224, 226; BSG Urteile vom 31. Mai 1978 - 2 RU 67/76 - und vom 8. Oktober 1981 - 2 RU 45/80 -; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 484 und Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 70 - jeweils mwN). Zwar werden grundsätzlich nicht schon jede durch den Alkohol herbeigeführte Minderung der Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit und jedes damit verbundene Absinken der Leistungsfähigkeit und der Arbeitsqualität als ein Leistungsabfall zu werten sein (BSG aaO). Dies entspräche nicht der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm, nach der ein Arbeitsunfall auch anzunehmen ist, wenn die versicherte Tätigkeit nur eine von mehreren wesentlichen Bedingungen ist. Hier aber hat das LSG - insoweit zutreffend - aus dem Fehlverhalten des Ehemannes der Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einen alkoholbedingten Leistungsabfall geschlossen. Die drei alternativen Möglichkeiten, die zu dem Unfallgeschehen geführt haben, sind, wie auch das LSG angenommen hat, typisch für einen alkoholbedingten Leistungsabfall. Dies gilt gleichermaßen für die Fälle, daß das Anfahren des ersten Steines durch eine Ausfallerscheinung in Form einer Aufmerksamkeitsstörung, durch eine falsche Abschätzung des Fahrweges oder durch ein alkoholbedingtes Unwohlsein verursacht wurde. Eine Ursache, die ihren Grund nicht in dem vorausgegangenen Alkoholgenuß haben könnte, ist nach den Feststellungen des LSG für das Abstürzen des Muldenkippers nicht ersichtlich. Bei dieser Sachlage ist in dem durch alkoholbedingten Leistungsabfall hervorgerufenen Fehlverhalten des Ehemannes der Klägerin die rechtlich allein wesentliche Bedingung für den Eintritt des Unfalls zu sehen. Betriebsbezogene Umstände - die Enge der Fahrbahn - treten für den Eintritt des Unfalls demgegenüber als rechtlich wesentlich in den Hintergrund. Davon scheint im Grunde auch das LSG auszugehen, indem es betont, daß in einer Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes - den Steilabfällen neben dem Fahrweg - nur "bezüglich der Folgen des Unfalls" eine ebenfalls rechtlich wesentliche Ursache liege. Für die Herbeiführung des Unfalls - und darauf kommt es hier an - waren die betriebsbezogenen Umstände keine rechtlich wesentliche Bedingung. Es kann entgegen der Auffassung des LSG nicht darauf abgestellt werden, daß bei einer vorgestellten anderen Gestaltung der Örtlichkeit im Bereich der Unfallstelle möglicherweise oder wahrscheinlich die Unfallfolgen nicht so schwerwiegend gewesen wären. Entscheidend ist, daß der Unfall an dieser Stelle wesentlich allein durch den alkoholbedingten Leistungsabfall verursacht worden ist und auch die Folgen nicht wesentlich durch andere Betriebseinrichtungen oder andere Betriebsvorgänge beeinflußt worden sind. Auch bei Unfällen unter Alkoholeinwirkung im Straßenverkehr wird dem Umstand, daß infolge der örtlichen Gegebenheiten besonders schwerwiegende Folgen eines Unfalls eingetreten sind, bei der Wertung der zum Unfall führenden Bedingungen keine rechtliche Bedeutung beigemessen.
Der Unfall des Ehemannes der Klägerin war danach kein Arbeitsunfall. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen