Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen eines Meniskusscha-dens zusteht. Der im Jahre 1925 geborene Kläger war von 1949 bis 1978 im Steinkohlenbergbau unter Tage als Schlepper, Gedinge-schlepper, Lehrhauer, Hauer, Streckensicherungsarbeiter und als angelernter Metallhandwerker beschäftigt. Die technische Abteilung der Beklagten gelangte zu dem Ergebnis, bei besonders kniestrapazierenden Arbeiten sei der Kläger in einem Zeitraum von etwa 25 Mona-ten vom 2. November 1950 bis zum 23. September 1952 und 10 Wochen lang im Jahre 1957 eingesetzt worden. Erkrankungen im Bereich der Kniegelenke führten bei ihm zur Arbeitsunfähigkeit vom 4. Mai bis zum 5. Juni 1950 wegen einer Knieprellung, vom 3. April bis zum 27. Mai 1963 wegen einer Quetschung des linken Beines und vom 1. März bis zum 8. Juni 1973 wegen einer Arthrosis deformans beider Kniegelenke.
Am 1. Februar 1977 stieß sich der Kläger lt. Unfallanzeige der Zeche beim Absteigen vom Gummiband das linke Knie an der Bandauf-hängung. Der linke Innenmeniskus wurde am 15. Februar 1977 operativ entfernt. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung aus Anlaß einer Berufskrankheit nach Nr. 2102 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) mit Bescheid vom 8. Februar 1978 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen eines Meniskusschadens als Berufskrankheit Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH ab 2. Februar 1977 zu gewähren (Urteil vom 14. November 1980). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Februar 1985). Es hat unterstellt, für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Klägers unter Tage und dem Meniskusschaden spreche der Beweis des ersten Anscheins, der jedoch hier widerlegt sei. Im übrigen könne nicht bewiesen werden, daß die bergmännischen Arbeiten ursächlich für die Entstehung oder Verschlimmerung des Meniskusschadens gewesen seien.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 551 der Reichsversiche-rungsordnung (RVO) i.V.m. Nr. 2102 der Anlage zur BKVO und § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG vom 28. Februar 1985 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 14. November 1980 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung noch nicht zu.
Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat der Kläger gem. § 581 Abs. 1 RVO, wenn er infolge eines Arbeitsunfalles um wenigstens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Dabei gilt als Arbeitsunfall auch eine Berufskrankheit (§ 551 Abs. 1 Satz 1 RVO). Zu den Berufskrankheiten zählen nach Nr. 2102 der Anlage zur BKVO Meniskusschäden nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tage. Hat der Versicherte diese Voraussetzung der dreijährigen Tätigkeit erfüllt, so begründet das zwar keine unwiderlegbare Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Beschäftigung im Bergbau unter Tage und dem Meniskusschaden. Der Beweis des ersten Anscheins kann aber für eine solche kausale Verknüpfung sprechen (vgl. Urteile des Senats in BSGE 8, 245, 247; SozR 5677 Anl. 1 Nr. 42 Nr. 1; Urteil vom 21. Februar 1980 - 5 RKnU 4/79 -). Für den Nachweis des ursäch-lichen Zusammenhangs zwischen der Tätigkeit unter Tage und dem Meniskusschaden hat der Senat (aaO) es als notwendig angesehen, daß der Versicherte während der erforderlichen drei Jahre kniestrapazierende Arbeiten ausgeführt hat. Nicht erbracht ist der Nachweis dann, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles den Kausalzusammenhang ausnahmsweise nicht als wahrscheinlich erscheinen lassen (so Urteil vom 21. Februar 1980).
Der Anscheinsbeweis erstreckt sich auf Fälle eines bestimmten typischen Geschehensablaufs (vgl. BSGE 41, 297, 300). So ist der Ver-ordnungsgeber bei der Aufnahme der Meniskusschäden in die Liste der Berufskrankheiten von dem den Anscheinsbeweis tragenden Erfahrungssatz ausgegangen, daß nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft Bergleute in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen bei der Arbeit ausgesetzt sind (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO), die zu Meniskusschäden führen können. Um den Beweis des ersten Anscheins zu entkräften ist es notwendig, die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensab-laufs im konkreten Fall nachzuweisen. Diese Möglichkeit muß aus konkreten Tatsachen abgeleitet und voll bewiesen werden. Es muß sich also - entgegen dem ersten Anschein - um einen atypisch gestalteten Sachverhalt handeln (so Leipold in Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung - ZPO -, 20. Auflage, § 286 Rz. 98 m.w.N.). Übertragen auf die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet das: Da die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs für eine Entschädigungspflicht des Versicherungsträgers ausreicht, kann für das Entkräften des Anscheinsbeweises nicht der Nachweis eines anderen, von der versicherten Tätigkeit unabhängigen Geschehensablaufs gefordert werden. Es genügt vielmehr insoweit die Wahrscheinlichkeit der ernsthaften anderen Möglichkeit. Das setzt Feststellungen darüber voraus, welche Bedingungen unabhängig, von der versicherten Tätigkeit zum Eintritt der Schädigung - hier Meniskusschaden beigetragen haben können. Die nächste Frage hat dann zu lauten, in welchem Maße eine Erkrankung unabhängig von der versicherten Beschäftigung wahrscheinlich ist und ob diese Wahrscheinlichkeit so groß ist, daß die ernsthafte Möglichkeit des atypischen Geschehens-ablaufs bejaht werden kann.
Zu prüfen ist ferner, inwieweit die Erkrankung auf ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren - geschützte Bedingungen (kniestrapazierende Arbeiten) und davon unabhängige (z.B. eine anlagemäßige Disposition zur speziellen Erkrankung) - zurückgeführt werden kann. Da in der gesetzlichen Unfallversicherung dann, wenn mehrere, in ihrer Bedeutung annähernd gleichwertige Bedingungen zum Eintritt des Erfolges beigetragen haben, jede dieser Bedingungen Ursache im Rechtssinne ist, kann die im obigen Sinne unabhängige Bedingung grundsätz-lich nicht geeignet sein, den Anscheinsbeweis zu entkräften.
Unter Beachtung dieser Grundsätze sind die Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil nicht ausreichend, den Beweis des ersten Anscheins als entkräftet anzusehen. Es hat zugunsten des Klägers unterstellt, "daß ihm zunächst der Beweis des ersten Anscheins dafür zugute kommt, daß die bei ihm vorhandenen Meniskusschäden auf seine Untertagetätigkeit zurückzuführen sind". Unterstellt werden also während der bergmännischen Tätigkeit kniestrapazierende Arbeiten von mindestens drei Jahren Dauer. Das LSG hat sodann festgestellt, schon vor 1977 habe beim Kläger eine allgemeine Arthrose, eine O-Bein-Bildung sowie eine Knorpelknochenerkrankung im Bereich der inneren Oberschenkelrolle links und an der korrespondierenden Stelle des inneren Schienbeinkopfes bestanden. Es hat offen gelassen, ob die Knorpelknochenerkrankung mit deutlichen arthrotischen Veränderungen des linken Kniegelenks ursächlich für die Meniskus-schäden sind. Insoweit sind also offenbar Feststellungen nicht getroffen worden. Andererseits, heißt es dann in den Entscheidungsgründen des LSG, selbst wenn es die Knorpelknochenerkrankung nicht einmal als ernsthafte Möglichkeit einer anderen Ursache für die Meniskus-schäden "betrachten wollte", komme es nicht umhin, zumindest die O-Bein-Bildung als solche anzusehen. Die Ausführungen des LSG sind zu diesem Punkte nicht frei von Widersprüchen. Für den Senat ist nicht mit hinreichender Klarheit zu erkennen, ob das LSG die Knorpel-knochenerkrankung unberücksichtigt gelassen oder ob es sie nicht doch als ernsthafte Möglichkeit einer anderen Ursache für den Menis-kusschaden betrachtet hat.
Bei dieser Sachlage muß erwogen werden, ob das Berufungsgericht allein wegen der O-Bein-Bildung den Beweis des ersten Anscheins als "widerlegt" angesehen hat. In diesem Zusammenhang fehlt es jedoch an ausreichenden Feststellungen der konkreten Tatsachen, die eine Entkräftung des Anscheinsbeweises tragen. Das LSG hat sich damit begnügt, auf einen solchen regelwidrigen Körperzustand hinzuweisen. Wenn dieser neben der Belastung durch die bergmännische Tätigkeit besteht, so schließt das wechselseitige Auswirkungen und eine gemeinsame Möglichkeit der Verursachung von Meniskusschäden ohne nähere Begründung nicht aus. Es fehlen Ausführungen darüber, ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Häufigkeit (Wahrscheinlichkeit) die O-Bein-Bildung zu Meniskusschäden führt und ob die ggf. damit verbundene Disposition für Meniskusschäden eine solche Bedeutung bei kniestrapazierenden Arbeiten im Bergbau unter Tage hat, daß man allein wegen der O-Bein-Bildung einen "atypischen" Sachverhalt annehmen könnte. Somit ist keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die Entkräftung des Anscheinsbeweises vorhanden. Das hat der erkennende Senat - auch ohne entsprechende Rüge in der Revisionsbegründung - von Amts wegen zu prüfen. Das LSG wird die somit noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Erst dann läßt sich nachprüfen, ob der Beweis des ersten Anscheins im Falle des Klägers entkräftet ist.
Darüber hinaus wird geprüft werden müssen, ob die Meniskusschädigung des Klägers Folge des Arbeitsunfalles vom 1. Februar 1977 ist. Insoweit hätte sich das LSG nicht mit der unterstellten Richtigkeit der Annahme, daß "hier die Unfälle offensichtlich als Gelegenheitsursa-che betrachtet" würden in einem Klammerzusatz begnügen dürfen.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits am 25. August 1961 entschieden hat (vgl. BSGE 15, 41, 45 f), stehen Arbeitsunfall (§ 548 Abs. 1 RVO) und Berufskrankheit (§ 551 Abs. 1 RVO) hinsichtlich des Entschädigungsanspruchs nicht beziehungslos nebeneinander; sie sind vielmehr rechtlich miteinander verknüpft. Liegt die Möglichkeit nahe, daß die beim Versicherten vorhandene Gesundheitsstörung, falls sie nicht als Berufskrankheit anzusehen ist, durch einen Arbeitsunfall verursacht sein könnte, so muß das Gericht auch bei der - im Hinblick auf § 1569a Nr. 1 RVO rechtswidrigen - Unterlassung einer diesbezüglichen Entscheidung des Versicherungsträgers in der Regel von Amts wegen prüfen, ob der Rentenantrag des Klägers aufgrund eines Arbeitsunfalls begründet ist. Für das LSG bestand - trotz des nur als Entschädigung einer Berufskrankheit formulierten Klageantrags - kein Anhalt zu der Vermutung, der Kläger wolle den geltend gemachten Rentenanspruch bewußt nur auf die BKVO beschränken. Das LSG hätte jedenfalls einen sachdienlichen, den Arbeitsunfall einbeziehenden Antrag anregen müssen (§§ 106 Abs. 1, 112 Abs. 2 Satz 2 SGG; vgl. BSG vom 25. August 1961 aaO). Veranlassung dazu bot insbeson-dere das medizinische Gutachten vom 25. Oktober 1984, worin der Sachverständige ausgeführt hat, der Riß des linken Innenmeniskus sei auf das während der bergmännischen Arbeit des Klägers eingetretene Unfallereignis vom 1. Februar 1977 zurückzuführen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen