Leitsatz (redaktionell)
Zur Sachaufklärung gehört auch, daß sich das LSG medizinisch darüber unterrichten lassen muß, ob ein altes - möglicherweise konstitutionell bedingtes - Herzleiden eines über 40 Jahre alten Mannes, das während des Wehrdienstes über 6 Monate hin in Lazaretten behandlungsbedürftig war, überhaupt wieder soweit abklingen kann, daß jedenfalls auch die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge (BVG § 1 Abs 3) auszuscheiden ist.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 106 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Dezember 1959 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1911 geborene, 1956 verstorbene Ehemann und Vater der Kläger, F M (M.), war 1940 zum Wehrdienst eingezogen worden. Er hatte den Frankreichfeldzug bei einer Infanterieeinheit ohne gesundheitliche Beschwerden mitgemacht und dann bis Februar 1941 Wirtschaftsurlaub erhalten. Während der Bereitstellung seiner Truppe im Raume Warschau vor dem Beginn des Rußlandfeldzuges erkrankte er, angeblich an einem Lungenschaden. Auf Grund der vorliegenden Lazarettmeldungen ermittelte die Deutsche Dienststelle in Berlin-Wittenau, daß M. am 5. März 1941 in das Kriegslazarett Brüssel aufgenommen, am 14. März 1941 in das Reservelazarett Jena verlegt und von dort am 5. September 1941 dienstfähig zu einem Infanterieersatzbataillon nach Köln entlassen worden war. Die Lazarettbehandlung erfolgte wegen eines "alten" Herzleidens. Vom Ersatztruppenteil wurde M. 1942 zum Reservelazarett Aschaffenburg versetzt und dort bis zum Kriegsende in der Schreibstube verwendet. Der Entlassungsschein aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft (2. August 1945) enthält hinsichtlich der Dienstunfähigkeit den Vermerk: "none, no disability". Im September 1950 beantragte M., ihm wegen Bronchialasthma als Folge einer beim Rußlandvormarsch übergangenen Lungenentzündung Versorgung zu gewähren. Das Versorgungsamt lehnte diesen Anspruch mit Bescheid vom 5. Juni 1951 ab, weil ein Herz- oder Lungenleiden weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung vorliege, daher weder eine Schädigungsfolge nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) noch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzunehmen sei. Die von M. betriebene Berufung wurde durch Urteil des Oberversicherungsamts (OVA) vom 14. September 1953 zurückgewiesen, das nach Anhörung des Dr. med. H als Sachverständigen, der den ursächlichen Zusammenhang in Richtung der Verschlimmerung bedingt bejaht hatte, den inzwischen eingeholten Gutachten des Städtischen Krankenhauses Aschaffenburg und der Medizinischen Universitätsklinik Würzburg folgend feststellte, daß der Leidens- und Krankheitszustand weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung irgendwie als Schädigungsfolge angesehen werden könne.
II. Der von M. hiergegen eingelegte Rekurs ist nach der Einführung der Sozialgerichtsbarkeit (1. Januar 1954) gemäß § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayer. Landessozialgericht (LSG) übergegangen. Nach seinem Tode (24. Februar 1956) haben die Ehefrau und die Kinder als Erben das unterbrochene Verfahren aufgenommen. Das LSG hat zusätzlich die Niederschrift über das Ergebnis der bei dem verstorbenen M. durchgeführten Sektion beigezogen sowie auf den gemäß § 109 SGG gestellten Antrag der Kläger das Gutachten des Prof. Dr. Wolff (I. Medizinische Klinik der Universität München) vom 24. August 1959 eingeholt. Auf Grund der Beweisaufnahme wurde (im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs. 2 SGG) die Berufung gegen das Urteil des OVA zurückgewiesen. Das LSG ging bei seiner Entscheidung (Urteil vom 9. Dezember 1959) davon aus, daß für eine Lungenerkrankung des M. und ihre Auswirkungen auf Herz und Kreislauf ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung angenommen werden könne. Was das nach den Angaben des Verstorbenen schon vorwehrdienstlich bestandene Herzleiden anbelange, so habe dieses durch den Wehrdienst nur eine vorübergehende und wieder abgeklungene Verschlechterung erfahren. Für die nach der Zeit des Wehrdienstes festgestellte Beeinträchtigung des Herzmuskels hätten der beim Verstorbenen seiner Konstitution nach vorhandene Bluthochdruck und die in den Nachkriegsjahren aufgetretene Fettsucht als schädigende Noxen überragende Bedeutung. Dies werde auch durch das Ergebnis der Obduktion bewiesen, bei der hochgradige allgemeine Adipositas sowie ein Fettherz festgestellt worden seien. Der Gutachter Dr. H, der von dem OVA gehört worden war und den ursächlichen Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung bei Teilnahme des Verstorbenen am Frankreichfeldzug bejahte, habe bei seiner Beurteilung übersehen, daß es hierbei nicht allein auf eine wehrdienstliche Belastung ankomme. sondern daß sich diese auch objektiv in einer gesundheitlichen Schädigung manifestiert haben müsse. Wenn der Gutachter Prof. Dr. W dann ebenfalls dazu gelangt sei, eine unter Einfluß des Wehrdienstes erfolgte Verschlimmerung des alten Herzfehlers in mäßigem Grade anzunehmen, so erscheine diese Auffassung nicht zwingend. Wäre die Herzerkrankung des Verstorbenen wirklich bleibend verschlimmert worden, hätte man annehmen müssen, daß sie ihm unmittelbar nach dem Kriege, wenn er schon ihretwegen ärztliche Behandlung nicht benötigte, zumindest subjektive Beschwerden bereitet hätte. Ferner sei im Entlassungsschein ein Herzleiden nicht vermerkt, der Antrag erst im September 1950 und nicht wegen der Herzerkrankung gestellt worden, und nach privatärztlicher Bescheinigung Behandlung wegen eines schweren Herzmuskelschadens erst Anfang Januar 1951 erfolgt. Auch das von Prof. Dr. W für seine Auffassung angeführte Argument, daß der Verstorbene während seiner Dienstleistung im Reservelazarett Aschaffenburg nur mehr av gewesen sei, sei nicht durchschlagend; denn abgesehen davon, daß er nach der Lazarettbehandlung zunächst dienstfähig zur Truppe entlassen wurde, stellte Prof. Dr. W selber die Bedeutung der Beurteilung "av" dadurch in Frage, daß er einräume, das Verbleiben des Verstorbenen im Reservelazarett bis zum Kriegsende könne sowohl Folge seines Herzleidens wie seiner Unentbehrlichkeit gewesen sein.
Revision wurde nicht zugelassen.
III. Mit der am 10. Februar eingelegten und am 4. März 1960 begründeten Revision gegen das am 10. Januar 1960 den Klägern zugestellte Urteil rügen diese die Verletzung der §§ 103 und 128 SGG. Das Gutachten des Prof. Dr. W sei eingeholt worden, weil zuvor der Sachverhalt nach Auffassung des LSG noch nicht geklärt gewesen sei. Dieser Sachverständige habe in seinem Gutachten dann festgestellt,
a) daß für das Herzleiden des Erblassers eine Verschlimmerung durch die Wehrdiensteinflüsse vorliege,
b) daß der Grad der Erwerbsminderung, die als ursächlich zu betrachten sei, mit 25 % bewertet werden müsse.
Das LSG habe sich über diese zu Gunsten der Kläger erfolgte Aufklärung des Sachverhalts nicht hinwegsetzen dürfen, ohne für noch zweifelhafte Punkte ein Ergänzungsgutachten einzuholen oder anderweitig einen Gutachter zu bestellen. Jedenfalls habe das Berufungsgericht aber nicht medizinische Feststellungen mit juristischen Argumenten als falsch würdigen und sich nicht bezüglich einer Herzerkrankung Kenntnisse beimessen dürfen, über die allein ein Arzt verfügen könne. Rechtlich habe das LSG nicht beachtet, daß für eine Anerkennung als Schädigungsfolge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genüge; "zwingend" brauche dieser nicht zu sein (S. 9 der Entscheidungsgründe). Also reiche hierfür die "ungewisse Möglichkeit" aus. Eine "objektive Manifestierung", wie sie das LSG offenbar nicht allein für die Schädigung selbst verlange (S. 9), bedeute bereits "Gewißheit", und diese werde vom Gesetzgeber nicht gefordert. Schließlich habe das Vordergericht gegen die Denkgesetze verstoßen, wenn es aus der möglicherweise in späteren Kriegsjahren einsetzenden Übung, im Sanitätsdienst auch Gesunde wegen Unentbehrlichkeit "av" zu schreiben, die Schlußfolgerung ziehe, deshalb müsse der Verstorbene gesund gewesen sein.
Die Kläger beantragten,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils dahin zu erkennen, daß ihnen als Erben Versorgungsbezüge gemäß dem Klageantrag zustehen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Nach seiner Meinung liegen weder Mängel in der Sachaufklärung noch eine Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung vor. Das Berufungsgericht habe den gesamten Prozeßstoff, insbesondere die ärztlichen Beweisunterlagen, eingehend gewürdigt und kritisch gegeneinander abgewogen. Dabei habe es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen die Denkgesetze nicht verstoßen.
IV. Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Kläger rügen zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.
Unbedenklich erscheinen die vorderrichtlichen Feststellungen, daß für eine Lungenerkrankung des verstorbenen M. und ihre Auswirkungen auf Herz und Kreislauf ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst nicht anzunehmen ist. Offenbar haben die Kläger daher auch insoweit keine Bemängelung erhoben. Dagegen rügen sie zutreffend, das LSG habe die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist dies der Fall, wenn die Tatsachenrichter in einer besondere Fachkunde erfordernden Frage von dem Gutachten eines Sachverständigen abweichen und die hierzu erforderliche eigene Sachkunde nicht in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil darlegen (vgl. SozR SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2, Da 19 Nr. 45, Da 26 Nr. 61). Dies trifft hier zu. Das LSG hat jedenfalls nicht über ausreichende medizinische Unterlagen dafür verfügt, stichhaltig und erschöpfend festzustellen, daß die Herzerkrankung des verstorbenen M. durch den Wehrdienst nur eine vorübergehende und wieder abgeklungene Verschlechterung erfahren habe. Die Ärzte des Städtischen Krankenhauses Aschaffenburg (Gutachten vom 16. Mai 1952) wie der Sachverständige Prof. Dr. W (Gutachten vom 24. August 1959) gehen davon aus, daß M. mit einem alten Herzleiden behaftet war. Wenn die Aschaffenburger Ärzte hierzu bemerken: "Nach unserer Meinung kann man wohl annehmen, daß das Herzleiden durch die fieberhafte Erkrankung im Februar 1941 vorübergehend verschlimmert wurde. Die Verschlimmerung ist aber durch die Lazarettbehandlung behoben worden. M. wurde am 5. September 1941 dienstfähig zum Ersatztruppenteil entlassen und blieb für die Dauer des Krieges "av", so stehen dem nicht nur die vorausgegangenen gutachtlichen Ausführungen des Dr. med. H, sondern insbesondere entgegen, daß der nachfolgende Sachverständige Prof. Dr. W erklärt hat: "In den vorausgegangenen Gutachten hat die Tatsache der 6-monatigen Lazarettbehandlung eines alten Herzleidens keine entsprechende Würdigung gefunden. Immerhin weist das Aschaffenburger Gutachten - noch in der Annahme einer 1941 durchgemachten Lungenentzündung - auf die Möglichkeit einer vorübergehenden Verschlimmerung eines alten Herzleidens hin. Man muß aber wohl doch annehmen, daß die Verschlimmerung des alten Herzleidens - wodurch auch immer sie ausgelöst wurde - durch die Lazarettbehandlung in Brüssel und Jena nicht völlig behoben wurde, da der Kläger anschließend nur av war. Es muß daher eine bleibende, wenn auch verhältnismäßig geringe Verschlimmerung des alten Herzfehlers des M. durch Wehrdiensteinflüsse angenommen werden". Der offenkundige Widerspruch in den verschiedenen Gutachten, die in Ansehung einer wehrdienstbedingten Verschlimmerung zu Ergebnissen kommen, die miteinander unvereinbar sind, hätte das LSG zu einer weiteren Klärung veranlassen müssen, sei es durch Einholung eines Nachtrags- und Ergänzungsgutachtens oder aber durch Anhörung eines Obergutachters. Anlaß hierfür bot allein schon die Tatsache einer urkundlich erwiesenen 6-monatigen Lazarettbehandlung im Jahre 1941, woran anschließend M. bis zum Zusammenbruch als av geführt und verwendet worden ist. Die Bekundung eines Zeugen, daß gegen Kriegsende die in Heimatlazaretten tätigen Sanitätsdienstgrade allgemein "av" eingestuft worden seien, reicht jedenfalls nicht dafür aus, um den verstorbenen M. persönlich für die Zeit nach 1941 als von einer Gesundheitsstörung, die Schädigungsfolge nach § 1 Abs. 1 bis 3 BVG sein könnte, nicht betroffen zu beurteilen. Das LSG hätte sich u. a. medizinisch darüber unterrichten lassen müssen, ob ein altes - möglicherweise konstitutionell bedingtes - Herzleiden eines über 40 Jahre alten Mannes, das während des Wehrdienstes über lange Dauer hin in Lazaretten behandlungsbedürftig gewesen ist, überhaupt wieder soweit abklingen kann, daß jedenfalls auch die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge (§ 1 Abs. 3 BVG) auszuscheiden ist. Die Erwägung, daß der verstorbene M. nach Kriegsende bis zur ersten privatärztlichen Behandlung 1951 subjektive Beschwerden am Herzen nicht gehabt habe, erwächst nicht aus erhobenen Tatsachen, sondern stützt sich lediglich auf Vermutungen und Unterstellungen. Der Umstand, daß im Entlassungsschein aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft ein Herzleiden nicht vermerkt war, könnte nur von medizinischer Bedeutung sein, wenn unmittelbar vor dem Entlassungstermin eine ärztliche Untersuchung und deren Ergebnis mit Sicherheit nachgewiesen wäre. Daß M. selbst 1950 seinen Versorgungsantrag zunächst mit Bronchialasthma begründet hätte, schließt weitergehende Schädigungsfolgen nicht aus. Letztlich steht der Sektionsbefund von 1959, der damals u. a. Adipositas und Fettherz ergeben hatte, nicht die Möglichkeit entgegen, daß bei der Antragstellung und in den Jahren danach partiell ein Herzschaden im Sinne der Verschlimmerung beim verstorbenen M. bestanden hat. Nach alledem beruht die Schlußfolgerung des LSG von der "abgeklungenen Verschlechterung" nicht auf bewiesenen Tatsachen. Eigene Sachkunde vermochte das LSG hierfür nicht zu verwerten. Seine Beweiswürdigung war in wesentlichen Punkten nicht schlüssig. Die angenommene richterliche Überzeugung war aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht zu gewinnen.
Mithin hat das LSG gegen §§ 128 Abs. 1 und 103 SGG verstoßen; dies ist von der Revision zutreffend gerügt. Damit ist dieses Rechtsmittel bereits statthaft, weshalb dahinstehen kann, ob etwa auch noch ein Verstoß gegen die versorgungsrechtlicher Kausalitätsnorm (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) in Betracht kommt.
V. Die Revision ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts sowie bei verfahrensrechtlich einwandfreier Würdigung der Beweise zu anderen medizinischen Feststellungen und damit auch zu anderen rechtlichen Schlußfolgerungen kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Die Feststellung, daß eine wehrdienstbedingte Verschlimmerung des Herzleidens im Zeitpunkt der Antragstellung und später nicht mehr vorgelegen habe, ist von den Klägern mit Erfolg angegriffen worden; sie ist daher für das BSG nicht bindend (§ 163 SGG). Eigene Feststellungen insoweit darf der Senat jedoch nicht treffen. Die Sache ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 u. Abs. 4 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen