Leitsatz (redaktionell)

Soll ein beim SG anhängiger Rechtsstreit mit einer rechtlich nicht einfachen und im Tatsächlichen umstrittenen Lage nach SGG § 96 in die Verhandlung und Entscheidung des Berufungsgerichts miteinbezogen werden, müssen die Prozeßbeteiligten schon vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter hierauf aufmerksam gemacht werden. Unterbleibt diese Belehrung, wird das rechtliche Gehör gemäß SGG §§ 62, 128 Abs 2 verletzt.

 

Orientierungssatz

Zur Begründetheit einer Revision wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil Hinweis auf Einbeziehung eines anderen Rechtsstreits im Vorverfahren unterbleibt.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 08.12.1972; Aktenzeichen VI ARBf 12/71)

SG Hamburg (Entscheidung vom 23.09.1971; Aktenzeichen 5 AR 68/71)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Dezember 1972 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger bezog vom 14. April bis 18. Mai 1969, vom 11. März bis 14. Juli 1970 und vom 9. August bis 29. November 1970 Arbeitslosengeld (Alg). Danach bezog er bis zum 14. März 1971 Arbeitslosenhilfe (Alhi). Der Kläger war mit der Berechnung der Leistungen nicht einverstanden und vertrat die Auffassung, daß ein anderer Einheitslohn als der von der Beklagten zugrunde gelegte berücksichtigt werden müsse. Vom 15. Juli bis 8. August 1970 war die Zahlung unterbrochen, weil der Kläger mitgeteilt hatte, er werde am 15. Juli 1970 eine selbst gesuchte Stellung beim Niedersächsischen Landesverwaltungsamt in Hannover antreten. Die Beklagte versagte die vom Kläger begehrte Nachzahlung durch Bescheid vom 14. September 1970 mit der Begründung, bis zum 9. August 1970 habe der Kläger der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden. Erst an diesem Tage habe das Arbeitsamt (ArbA) erfahren, daß der Kläger die Beschäftigung nicht aufgenommen habe. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970).

Die vom Kläger wegen der Höhe des Alg für die Zeit vom 14. April bis 18. Mai 1969, vom 11. März bis 14. Juli 1970 und vom 9. August bis 29. November 1970 und der anschließend bis 14. März 1971 bezogenen Alhi gegen die Leistungsbescheide der Beklagten eingelegten Widersprüche blieben ebenfalls erfolglos (Widerspruchsbescheide vom 29. Juli 1970 und zweiter Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970).

Auf die gegen alle drei Widerspruchsbescheide erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg nach Verbindung der Verfahren 5 AR 68/71 und 5 AR 70/71 unter dem Aktenzeichen 5 AR 68/71 die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1970 und den zweiten Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970, die die Höhe der Leistungen für die Zeit bis 14. Juli 1970 und ab 9. August 1970 betrafen durch Urteil vom 23. September 1971 abgewiesen. Die Klage wegen des Alg für die Zeit vom 15. Juli bis 9. August 1970 (Bescheid vom 14. September 1970, erster Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970) lief davon getrennt unter dem Aktenzeichen 6 AR 71/71. Das SG ordnete hier eine umfangreiche Beweisaufnahme an.

Die gegen das Urteil des SG vom 23. September 1971 (5 AR 68/71) eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg durch Urteil vom 8. Dezember 1972 zurückgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen, auf deren Inhalt im übrigen Bezug genommen wird, ausgeführt: Das SG habe die Klagen wegen der Höhe und der Unterbrechung der Leistungen durch Urteil vom 23. September 1971 abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens sei gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch der Bescheid des Arb Hannover vom 14. September 1970 in Gestalt des (ersten) Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 1970 gewesen, durch den dem Kläger die Nachzahlung für die Zeit vom 15. Juli bis 8. August 1970 verweigert worden sei. Diese habe zwar die streitbefangenen Leistungsbescheide nicht ersetzt oder geändert. Er habe aber seinerseits die vorangegangene formlose Änderung des angefochtenen Leistungsbescheides bestätigt. Seinem Inhalt nach sei er daher ein Änderungsbescheid im Sinne des § 96 SGG. Da die Klage wegen der Höhe des ab 11. März 1970 gewährten Alg schon seit dem 27. August 1970 anhängig gewesen sei, seien auch die zeitlichen Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 SGG erfüllt. Der ändernde Verwaltungsakt sei "nach Klageerhebung" erteilt worden. In der Sache selbst sei die Berufung nicht begründet. Die Höhe und die Dauer des Alg und der Alhi, wie die Beklagte sie berechnet und festgestellt habe, stünden im Einklang mit dem Gesetz.

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine unrichtige Anwendung des § 96 SGG und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs. 2 SGG). Er führt dazu in der Revisionsschrift, auf die Bezug genommen wird, aus: Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß das SG im angefochtenen Urteil auch über das Verfahren wegen der Leistungen in der Zeit vom 15. Juli bis 8. August 1970 entschieden habe. Dieses Verfahren sei unter dem Aktenzeichen 6 AR 71/71 beim SG anhängig. Im übrigen habe aber das Berufungsgericht ihm das rechtliche Gehör versagt. Er habe keine Möglichkeit gehabt, sich zu dem Verfahren wegen der Zeit vom 15. Juli bis 8. August 1970 zu äußern. Es sei nicht zu erkennen gewesen, daß über die Sache 6 AR 71/71 ebenfalls vor dem LSG mitverhandelt werden sollte. Da der Beschluß des erkennenden Senats über die Bewilligung des Armenrechts dem Kläger am 14. Juli 1973 zugestellt worden ist, begehrt er wegen Versäumung der Revisionsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß ein wesentlicher Verfahrensmangel nicht vorliegt und im übrigen das angefochtene Urteil richtig ist.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist statthaft. Sie ist in der richtigen Form (§ 164 SGG), aber nicht rechtzeitig eingelegt. Da das Urteil des LSG dem Kläger am 17. Januar 1973 zugestellt worden ist, lief die Frist zur Einlegung der Revision am 19. Februar 1973 ab (der 17. und 18. Februar waren Samstag und Sonntag). Die Revision ist indessen erst am 31. Juli 1973 eingegangen. An der fristgerechten Einlegung des Rechtsmittels war der Kläger aber ohne sein Verschulden, nämlich durch seine Armut, verhindert. Ihm ist daher auf seinen Antrag nach § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das LSG hat zwar das Rechtsmittel nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zugelassen, es ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Nach dieser Vorschrift ist das dann der Fall, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts in einer der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprech enden Form gerügt worden ist und auch vorliegt (BSG 1, 150). Das trifft hier zu.

Mit Recht hat die Revision eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, §§ 62, 128 Abs. 2 SGG) gerügt. Das Urteil des LSG geht im Tatbestand zu Unrecht davon aus, daß das bei ihm angefochtene Urteil des SG auch über "die Unterbrechung der Leistungen" (damit kann nur die Zeit vom 15. Juli bis 8. August 1970 gemeint sein) durch Abweisung der Klage entschieden habe. Demgemäß hat das LSG auch hierzu "die Berufung zurückgewiesen". Tatsächlich betrifft aber das Urteil des SG vom 23. September 1971 nur die vom SG miteinander verbundenen Verfahren 5 AR 68/71 und 5 AR 70/71, in denen über die Höhe des Alg für die Zeit vom 14. April bis 18. Mai 1969 sowie für die Zeit ab 11. März 1970 gestritten wurde. Der Streit um den Anspruch auf Alg (dem Grunde nach) für die Zeit der Unterbrechung vom 15. Juli bis 8. August 1970 (Bescheid vom 14. September 1970, erster Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970) war Gegenstand eines besonderen Verfahrens vor dem SG (6 AR 71/71), in dem aufgrund der dort umfangreich gewechselten Schriftsätze und einer umfangreichen Beweisaufnahme noch kein Urteil ergangen ist. Im Verfahren vor dem Berufungsgericht ist in den zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätzen von dem Unterbrechungsstreit und seiner Einbeziehung in das Verfahren an keiner Stelle die Rede. Die Akten 6 AR 71/71 sind erst Ende Oktober 1972 zu den Akten des LSG beigefügt worden. Die Ladung des Klägers zur mündlichen Verhandlung vom 8. Dezember 1972 enthält keinen Hinweis auf die Einbeziehung des Rechtsstreits 6 AR 71/71. In der Sitzungsniederschrift werden die Akten 6 AR 71/71 allerdings unter mehr als zehn anderen Akten als "vorliegend und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht" aufgeführt. Die zu Protokoll genommenen Erklärungen des Klägers betreffen nur seine Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse. Im Antrag des Klägers wird der Bescheid vom 14. September 1970 selbst nicht genannt, wohl aber zwei Widerspruchsbescheide vom 9. Dezember 1970, wovon der eine den Bescheid vom 14. September 1970 aus dem Verfahren des SG 6 AR 71/71 betraf. Im Antrag des Klägers wird u. a. Gewährung von Alg für die Zeit vom 11. März bis 29. November 1970 begehrt, so daß hier die Zeit aus dem Verfahren 6 AR 71/71 miteinbegriffen ist. Der Kläger rügt nun zu Recht die Versagung des rechtlichen Gehörs hinsichtlich der Einbeziehung des Streites über die Unterbrechungszeit. Bei der rechtlich nicht einfachen und im Tatsächlichen umstrittenen Lage, wie sie sich aus dem Verfahren 6 AR 71/71 ergab, hätten die Beteiligten schon vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter des LSG darauf aufmerksam gemacht werden müssen, daß dieser Streit nach § 96 SGG in die Verhandlung und Entscheidung miteinbezogen werden könne (BSG 5, 158, 164). Eine Belehrung darüber fehlt auch in der Verhandlungsniederschrift, die im übrigen ausführlich gehalten ist. Aus der Erwähnung der Akten über das Verfahren 6 AR 71/71 unter zehn anderen Akten im Protokoll der mündlichen Verhandlung konnten die Beteiligten nicht ersehen, daß über dieses Verfahren im Rahmen des § 96 SGG mitentschieden werde. Da die Beteiligten insoweit sich nicht zu den vom LSG verwerteten Tatsachen und Beweisergebnissen äußern konnten, ist das rechtliche Gehör gemäß §§ 62, 128 Abs. 2 SGG verletzt.

Die somit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthafte Revision des Klägers ist auch begründet. Es läßt sich nicht ausschließen, daß bei einem fehlerfreien Verfahren unter Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Beteiligten eine für den Kläger günstigere Entscheidung ergehen wird. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß es noch eines Eingehens auf das Vorliegen weiterer gerügter Verfahrensmängel bedarf. Da es für den Senat gemäß § 170 Abs. 2 SGG untunlich ist, in der Sache selbst zu entscheiden, war der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das LSG in dem abschließenden Urteil mitzuentscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646483

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