Leitsatz (amtlich)
Die nach Eintritt des Versicherungsfalls für vorhergehende Zeiten gemäß WGSVG § 10 nachentrichteten Beiträge sind auch dann auf die Wartezeit für diesen Versicherungsfall anzurechnen, wenn die für die Beitragsnachentrichtung erforderliche Vorversicherungszeit von 60 Kalendermonaten (WGSVG § 9) nur mit Ersatzzeiten erreicht wurde, die ihrerseits auf die Wartezeit für den Versicherungsfall nicht angerechnet werden können.
Normenkette
WGSVG § 10 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1970-12-22, § 9 S. 1 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.02.1977; Aktenzeichen L 1 J 1118/75-1) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 29.07.1975; Aktenzeichen S 12b J 675/74) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Februar 1977 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Umstritten ist, ob die Wartezeit erfüllt ist.
Für die im Jahr 1916 geborene Klägerin sind in der Zeit von 1932 bis 1945 Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung für 32 Monate entrichtet worden. Seit 1950 ist die Klägerin zu keiner regelmäßigen Arbeit mehr fähig und invalide. Sie gilt als Verfolgte, weil sie die Ehefrau eines Verfolgten ist.
Rentenanträge aus den Jahren 1951 und 1959 blieben erfolglos, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Die Beklagte anerkannte in den Jahren 1972 und 1973 Zeiten von April 1935 bis Mai 1943 mit Unterbrechungen als Ersatzzeit verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit. Sie ließ mit Bescheid vom 25. April 1973 die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen ua für die Zeit von Januar 1933 bis März 1934 und von Mai 1937 bis Juni 1939 (zusammen 41 Monate) nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) zu und forderte die Klägerin auf, die Zahlung bis zum 31. Mai 1973 vorzunehmen; die Klägerin entrichtete die Beiträge im Mai 1973.
Einen erneuten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 1974 ab, weil auch jetzt die Wartezeit noch nicht erfüllt sei; die nachentrichteten Beiträge könnten nur für einen späteren Versicherungsfall angerechnet werden. Die Klage ist vor dem Sozialgericht (SG) Freiburg (Urteil vom 29. Juli 1975) erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 24. Februar 1977 den Bescheid zum Teil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen Bescheid über die Gewährung von umgestellter Invalidenrente ab 1. März 1972 zu erteilen; im übrigen hat es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Wartezeit sei erfüllt. Die nachentrichteten Beiträge seien auch für einen bereits eingetretenen Versicherungsfall anzurechnen; § 10 WGSVG gestehe den Verfolgten eine von §§ 1418, 1419, 1233 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abweichende Sonderregelung zu; die Rente sei allerdings erst von dem dem Antrag auf Zulassung der Nachentrichtung folgenden Monat an zu zahlen.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 1253 RVO aF, Art 2 §§ 31, 32, 38 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) sowie §§ 9, 10 WGSVG. Sie trägt vor: Die Nachentrichtung sei nur unter Berücksichtigung der Ersatzzeit von 1939 bis 1943 möglich gewesen; diese Ersatzzeit sei jedoch für den Versicherungsfall des Jahres 1950 nicht anrechenbar und könne in bezug auf diesen Versicherungsfall keine rechtliche Wirkung erzeugen. Sie beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 24. Februar 1977 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 29. Juli 1975 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin für die Zeit vom 1. März 1972 an die Invalidenrente zusteht, weil auf die Wartezeit die nachentrichteten Beiträge anzurechnen sind. Der Versicherungsfall der Invalidität (§ 1254 RVO in der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung - aF -) ist im Jahr 1950 eingetreten. Die Ansprüche der Klägerin auf Leistungen der Rentenversicherung bestimmen sich nach dem Recht, das bei Eintritt des Versicherungsfalles im Jahre 1950 gegolten hat (Art 2 § 5 ArVNG). Nach diesem Recht mußte für die Invalidenrente die Wartezeit erfüllt sein (§ 1253 Abs 1 RVO aF); bei Eintritt des Versicherungsfalles mußten mindestens 60 Beitragsmonate zurückgelegt sein (§ 1262 Abs 1 RVO aF). Das ist hier der Fall, denn zu der zurückgelegten Beitragszeit von 32 Monaten sind die 41 nachentrichteten Beiträge hinzuzurechnen, so daß eine Wartezeit von über 60 Monaten vorliegt. Dies ergibt sich aus § 10 Abs 1 Sätze 1 bis 3 WGSVG, den auch die Beklagte der Zulassung der Beitragsnachentrichtung zugrunde gelegt hat. Danach können Verfolgte, die nach § 9 zur Weiterversicherung berechtigt sind, auf Antrag abweichend von der Regelung des § 1418 RVO ... für Zeiten vor Inkrafttreten dieses Gesetzes und vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1933 ... Beiträge nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Der Eintritt des Versicherungsfalles vor Ablauf der ersten zwölf Monate nach Inkrafttreten dieses Gesetzes steht der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegen; im übrigen gelten § 1419 Abs 1 und 2 RVO ... entsprechend. Nachentrichtete Beiträge ... gelten als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit.
Nach § 9 WGSVG setzt die Berechtigung zur Weiterversicherung ua eine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten voraus.
Das Berufungsgericht hat § 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG zutreffend dahin ausgelegt, daß die nachentrichteten Beiträge als in dem Zeitraum entrichtet gelten, für den sie bestimmt sind, also hier in der Zeit von 1933 bis 1939. Bei der Zulassung der Beitragsnachentrichtung hat die Beklagte zu Recht die vorausgesetzte Berechtigung zur Weiterversicherung nach § 9 WGSVG nach dem Recht zur Zeit der Geltung dieses Gesetzes beurteilt und deshalb die Verfolgungsersatzzeit in die erforderliche Vorversicherungszeit von 60 Kalendermonaten miteinbezogen. Wenn dann Beiträge wirksam nachentrichtet sind, so beurteilt sich aber ihre rechtliche Wirkung nur nach § 10 Abs 1, hier Satz 3, WGSVG. Die Regelung des § 10 Abs 1 Sätze 2 und 3 WGSVG, wonach der Eintritt des Versicherungsfalles (unter weiteren Voraussetzungen) der Nachentrichtung nicht entgegensteht und die nachentrichteten Beiträge als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung gelten, läßt erkennen, daß eine weitgehende und umfassende Begünstigung von Verfolgten (§ 1 Bundesentschädigungsgesetz - BEG - iVm § 1 Abs 1 WGSVG) beabsichtigt ist. Die begünstigten Verfolgten sollen so gestellt werden, wie wenn die nachentrichteten Beiträge schon in der Zeit, für die sie bestimmt sind, entrichtet worden wären. Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 10 Abs 1 WGSVG bieten keinen Anhalt für eine Einschränkung dahingehend, daß die Wirkung des Satzes 3 aaO nur eintrete, wenn die Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten, die Voraussetzung der Nachentrichtung war, auch auf den früheren Versicherungsfall anrechenbar sein müßte. Die Bedeutung der Vorversicherungszeit von 60 Kalendermonaten erschöpft sich in ihrer Voraussetzung für die Beitragsnachentrichtung.
Die Ausführungen des LSG über den Beginn der Rente treffen zu. Die Bestimmung des § 1420 Abs 1 Nr 2 RVO, wonach die Bereiterklärung zur Nachentrichtung unter den dort normierten Voraussetzungen der Entrichtung der Beiträge gleichsteht, gilt auch für das WGSVG (BSGE 39, 126, 128/129 und Urteil vom 1. Oktober 1975 - 1 RA 7/75 -). Die Klägerin hat die Nachentrichtung innerhalb des ihr von der Beklagten dafür gesetzten Zeitraumes, deshalb "binnen angemessener Frist" vorgenommen.
Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen