Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung von freiwilligen Rentenversicherungsbeiträgen nach dem WGSVG
Leitsatz (amtlich)
Eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung kann auch dann iS des WGSVG § 9 aus Verfolgungsgründen beendet worden sein, wenn der Versicherte Deutschland vor 1933 verlassen hatte, um sich im Ausland (hier: USA) beruflich weiterzubilden, die beabsichtigte Rückkehr und Wiederaufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in Deutschland jedoch aus Verfolgungsgründen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme unterlassen hat.
Orientierungssatz
1. Nach der Entstehungsgeschichte des WGSVG, das ein Teil des Wiedergutmachungsrechts ist (§ 138 BEG), hat sich der Gesetzgeber dabei "von dem Bestreben leiten lassen, das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, daß den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung erlitten haben".
2. Alle Vorschriften des WGSVG sind deshalb im Lichte dieser Zielsetzung des Gesetzgebers auszulegen.
3. Sie ist auch zu berücksichtigen, wenn der Richter vor der Frage steht, ob ein im WGSVG nicht ausdrücklich geregelter Sachverhalt unentschädigt bleiben soll oder ob es sich nicht vielmehr um eine planwidrige Lücke im Gesetz handelt, die unter Beachtung von Zweck und Systematik des WGSVG zu schließen ist.
4. Von diesen Grundsätzen ist auch bei der Auslegung der §§ 9 und 10 WGSVG und der Abgrenzung ihres Anwendungsbereichs auszugehen.
Normenkette
WGSVG § 9 Fassung: 1970-12-22, § 10 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1957-02-23; WGSVG § 10a Fassung: 1975-04-28; BEG § 138
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 09.12.1981; Aktenzeichen L 6 J 111/81) |
SG Berlin (Entscheidung vom 16.07.1981; Aktenzeichen S 24 J 157/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, gemäß §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter nachzuentrichten.
Die 1909 geborene Klägerin ist laut Urteil des Kammergerichts in Berlin vom 31. Mai 1979 rassisch Verfolgte nach dem Berliner Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) vom 13. April 1956. Sie war von 1923 bis 1930 zunächst als Lehrling und sodann als Schneiderin bei der Firma M. J. in P. im V. beschäftigt. Am 20. Juli 1930 ging sie in die USA, deren Staatsangehörigkeit sie 1946 erwarb. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) R. stellte die Versicherungsunterlagen für die Zeit vom 1. April 1926 bis 20. Juli 1930 wieder her. Seit 1967 lebt die Klägerin in Berlin und bezieht von der Beklagten ab 1. August 1974 Altersruhegeld, wobei auch eine Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 203 Monaten (1. Februar 1933 bis 31. Dezember 1949) berücksichtigt ist.
Mit Bescheid vom 30. August 1979 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom August 1975 auf Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG mit der Begründung ab, daß keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden sei. Der letzte Beitrag zur Rentenversicherung sei bereits am 20. Juli 1930 entrichtet worden. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1980). Das Sozialgericht (SG) Berlin gab der Klage statt und verurteilte die Beklagte, der Klägerin die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß §§ 9, 10 WGSVG zu gestatten (Urteil vom 16. Juli 1981). Es führte zur Begründung aus, im Jahre 1930 habe lediglich eine Unterbrechung, aber noch keine endgültige Beendigung der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung stattgefunden. Diese sei erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme erfolgt, als sich die Klägerin entschlossen habe, wegen der sich in Deutschland abzeichnenden Verfolgung nicht zurückzukehren.
Auf die Berufungen der Beklagten und der während des Klageverfahrens beigeladenen LVA Freie und Hansestadt Hamburg (die mit Bescheid vom 1. April 1981 den Antrag der Klägerin auf Beitragsnachentrichtung gemäß Art 16 der Vereinbarung zur Durchführung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit iVm den §§ 10 und 10a WGSVG abgelehnt hatte) hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Dezember 1981). Das LSG hat auch den Bescheid der Beigeladenen, über den das SG nicht befunden hatte, aufgrund des § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Gegenstand des Berufungsverfahrens angesehen, weil er "im Prinzip geeignet" gewesen sei, den Bescheid der Beklagten vom 30. August 1979 zu ersetzen. In der Sache hat das LSG zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin sei nicht berechtigt, Beiträge nach den §§ 9, 10 WGSVG nachzuentrichten, weil ihre rentenversicherungspflichtige Beschäftigung, die sie bis 1930 ausgeübt habe, nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden sei. Die Unterbrechung eines Beschäftigungsverhältnisses liege begrifflich nur dann vor, wenn später eine Fortsetzung der Beschäftigung erfolge. Das sei hier nicht gegeben, so daß die Klägerin im Jahre 1930 die bis dahin ausgeübte Beschäftigung als Schneiderin bei der Firma J. in P. beendet habe, als sie nach Amerika gegangen sei. Die Klägerin habe selbst nicht vorgetragen, daß das damalige Beschäftigungsverhältnis für die Dauer ihres Aufenthalts in Amerika dem Grunde nach fortbestanden habe und sie lediglich bis zu ihrer Rückkehr beurlaubt gewesen sei. Die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, die demnach im Jahre 1930 stattgefunden habe, habe indes nicht auf Verfolgungsgründen beruht. Das Vorbringen der Klägerin, sie sei nach 1933 wegen der nationalsozialistischen Verfolgung gehindert worden, in Deutschland erneut ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen, könne selbst bei unterstellter Richtigkeit des Vorbringens nicht zur Beitragsnachentrichtung nach den §§ 9, 10 WGSVG führen. Die auf Verfolgungsgründen beruhende Verhinderung, ein Beschäftigungsverhältnis (wieder -) einzugehen, sei vom Gesetzgeber nicht als Tatbestandsmerkmal der §§ 9, 10 WGSVG berücksichtigt worden. Auch eine analoge Anwendung dieser Vorschriften scheide aus. Dies würde voraussetzen, daß eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke vorliege. Diese sei jedoch nicht gegeben, da der Gesetzgeber in § 10a WGSVG geregelt habe, welche Personen durch eine Nachentrichtungsmöglichkeit entschädigt werden sollen, die aus Verfolgungsgründen an der Eingehung eines Beschäftigungsverhältnisses gehindert worden sind. Zu diesem Personenkreis gehöre die Klägerin ebenfalls nicht. Sie könne somit weder nach § 10 noch nach § 10a WGSVG Beiträge nachentrichten.
Mit der - vom Senat mit Beschluß vom 24. Juni 1982 zugelassenen - Revision wendet sich die Klägerin gegen die nach ihrer Auffassung zu enge Auslegung der §§ 9, 10 WGSVG durch das LSG. Das Berufungsgericht habe Sinn und Zweck der Regelung, die enge Verbindung zu den einschlägigen entschädigungsrechtlichen Vorschriften und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht hinreichend beachtet. Im Rahmen des § 9 WGSVG müsse ein Verfolgungstatbestand auch dann angenommen werden, wenn sich der Versicherte aufgrund des allgemeinen Verfolgungsdrucks zur Auswanderung entschlossen habe, um drohenden Gefahren zuvorzukommen. Diejenigen Verfolgten, die nach ihrem bisherigen Berufsleben zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen zu rechnen seien, durch die Verfolgung aber derartige Tätigkeiten nicht hätten fortsetzen können, seien durch die Möglichkeit einer Beitragsnachentrichtung zu entschädigen. Entscheidend sei, ob die weitere Teilnahme am Arbeitsleben als versicherungspflichtiger Beschäftigter unterbrochen oder beendet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) liege ein verfolgungsbedingter Berufsschaden auch dann vor, wenn sich jemand vor 1933 zu Weiterbildungszwecken im Ausland aufgehalten und nach dem 30. Januar 1933 aus Verfolgungsgründen den Entschluß gefaßt habe, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Analog zu dieser entschädigungsrechtlichen Betrachtung müsse auch eine Berechtigung im Rahmen des WGSVG gegeben sein und gegebenenfalls die lückenhafte Regelung des WGSVG durch die Rechtsprechung zu ihren Gunsten geschlossen werden. § 10a WGSVG könne dem nicht entgegenstehen, weil dadurch nur ein bestimmter Kreis von Verfolgten nachträglich einbezogen, die Lückenhaftigkeit der §§ 9, 10 WGSVG im übrigen aber nicht beseitigt worden sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufungen gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie sind übereinstimmend der Auffassung, daß eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke nicht vorliege.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Soweit das LSG auch über den Bescheid der Beigeladenen vom 1. April 1981 entschieden hat, ist das Urteil schon formell unrichtig, denn dieser während des Klageverfahrens ergangene Bescheid war entgegen der Auffassung des LSG nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden. Er hat den mit der Klage angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 30. August 1979 weder abgeändert noch ersetzt. Die Voraussetzungen, unter denen in der Rechtsprechung des BSG § 96 SGG über seinen Wortlaut hinaus, vor allem aus Gründen der Prozeßökonomie, entsprechend angewendet worden ist (vgl BSG SozR Nr 23 zu § 96 SGG; SozR 1500 § 96 Nrn 7 und 14), liegen hier nicht vor. Die Bescheide der Beklagten und der Beigeladenen betreffen weder denselben Anspruch noch dasselbe Dauerrechtsverhältnis. Der von der Beklagten abgelehnte Anspruch auf Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG ist nicht identisch mit dem von der Beigeladenen abgelehnten Nachentrichtungsanspruch nach dem deutschamerikanischen Sozialversicherungsabkommen. Obwohl auch für den letztgenannten Anspruch Vorschriften des WGSVG (hier § 10) mit zu prüfen sind (Art 16 Abs 2 Buchst a der Durchführungsvereinbarung), haben beide Ansprüche nicht dieselbe Rechtsgrundlage, sondern stehen alternativ nebeneinander. Die Nachentrichtungsmöglichkeit nach dem Abkommen geht zudem einerseits über das bisherige Wiedergutmachungsrecht hinaus, weil für die geforderte Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten nunmehr auch amerikanische Beiträge berücksichtigt werden, andererseits verlangt sie zusätzliche Voraussetzungen, nämlich die amerikanische Staatsangehörigkeit und den gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherten in den USA. Selbst wenn, wie das LSG meint, eine positive Entscheidung der Beigeladenen die Klägerin gegenüber der Beklagten klaglos gestellt hätte, würde dies nicht eine Anwendung des § 96 SGG rechtfertigen. Die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 14. April 1981 (SozR 2200 § 1630 Nr 3), auf die das LSG Bezug nimmt, betrifft einen Fall, in dem ein zweiter, später durch Wohnsitzwechsel zuständig gewordener Versicherungsträger über einen Teil desselben Prozeßstoffs, eine Dauerrente, entschieden hatte. Diese Voraussetzung, nämlich mindestens teilweise die Identität des Streitgegenstandes, liegt hier nicht vor. Das SG hat somit zu Recht über den vom Klageverfahren nicht erfaßten Bescheid der Beigeladenen vom 1. April 1981 nicht entschieden, so daß ihn auch das LSG nicht zum Gegenstand seiner Entscheidung machen durfte.
Den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG hat das LSG mit der Begründung verneint, die bis 1930 ausgeübte rentenversicherungspflichtige Beschäftigung sei nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden. Einer auf Verfolgungsgründen beruhenden Verhinderung, ein neues Beschäftigungsverhältnis einzugehen, hat das LSG keine rechtliche Bedeutung beigemessen, weil dieser Fall vom Gesetzgeber nicht als Nachentrichtungsgrund iS der §§ 9, 10 WGSVG anerkannt worden sei. Diese Begründung reicht nach Auffassung des erkennenden Senats nicht aus, um die Abweisung der Klage zu rechtfertigen.
Nach der Entstehungsgeschichte des WGSVG, das ein Teil des Wiedergutmachungsrechts ist (§ 138 des Bundesentschädigungsgesetzes -BEG-), hat sich der Gesetzgeber dabei "von dem Bestreben leiten lassen, das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, daß den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung erlitten haben" (BT-Drucks VI/1449, S 1 unter A I 2; zu der Absicht des Gesetzgebers, den Verfolgten mit dem WGSVG eine möglichst umfassende Entschädigung zu gewähren, vgl auch SozR 5070 § 9 Nr 1, § 10 Nr 8 und Nr 20, § 10a Nr 2). Alle Vorschriften des WGSVG sind deshalb im Lichte dieser Zielsetzung des Gesetzgebers auszulegen. Sie ist auch zu berücksichtigen, wenn der Richter vor der Frage steht, ob ein im WGSVG nicht ausdrücklich geregelter Sachverhalt unentschädigt bleiben soll oder ob es sich nicht vielmehr um eine planwidrige Lücke im Gesetz handelt, die unter Beachtung von Zweck und Systematik des WGSVG zu schließen ist (vgl dazu die Ausführungen des BGH in RzW 1964, 323).
Von diesen Grundsätzen ist auch bei der Auslegung der §§ 9, 10 WGSVG und der Abgrenzung ihres Anwendungsbereichs auszugehen. Nach den genannten Vorschriften haben Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 RVO (oder den entsprechenden Vorschriften der anderen Rentengesetze) zurückgelegt haben, ein Recht zur Weiterversicherung (§ 9) und ein Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen (§ 10). Welcher "Plan" dieser Regelung zugrunde liegt, ist in einer Entscheidung des Senats vom 26. Oktober 1976 näher ausgeführt worden (SozR 5070 § 9 Nr 1). Der vorliegende Fall gibt Anlaß zu einer Ergänzung dieser Ausführungen. Danach läßt § 9 Abs 1 WGSVG erkennen, daß der Gesetzgeber die genannten Rechte nur Verfolgten hat einräumen wollen, die bereits eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hatten und deshalb "nach ihrem Beruf zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen gehören" (BT-Drucks aaO, S 3 zu §§ 9, 9a). Nicht berücksichtigt hatte demgemäß das WGSVG in der ursprünglichen Fassung Verfolgte, die sich bei Beginn der Verfolgung noch in Ausbildung befanden. Sie sind erst später - durch das 18. Rentenanpassungsgesetz vom 28. April 1975 (BGBl I 1018) - in das WGSVG einbezogen worden (§ 10a; vgl dazu BT-Drucks 7/3235, S 2 unter A V, und S 6 unter Nr 7).
Aber auch diejenigen, die vor der Verfolgung bereits eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausgeübt hatten, sind nach § 9 Abs 1 WGSVG nur berechtigt, wenn sie diese Tätigkeit entweder bis zum Beginn der Verfolgung fortgesetzt hatten, ihre Tätigkeit also "aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist", oder aber wenn sie bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 RVO zurückgelegt hatten, weil ihre versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vorher durch eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, durch eine Schwangerschaft oder durch eine mindestens einmonatige Arbeitslosigkeit "unterbrochen" worden war. Die Gleichstellung dieser zweiten Gruppe von Verfolgten mit den noch bei Beginn der Verfolgung Erwerbstätigen zeigt, daß der Gesetzgeber die Anwendung des § 9 WGSVG nicht von dem - häufig zufälligen - Umstand hat abhängig machen wollen, daß der Beginn der Verfolgung gerade mit einer Zeit der Erwerbstätigkeit zusammenfällt. Andererseits hat er von den in diesem Zeitpunkt nicht beschäftigten Verfolgten nur solche berücksichtigen wollen, deren Beschäftigung lediglich "unterbrochen" war, die also nur vorübergehend (zeitweise) keine Beschäftigung ausgeübt hatten, die jedoch - eben weil nur eine "Unterbrechung" und keine Beendigung der Beschäftigung vorlag - noch nicht aus dem Kreis der versicherungspflichtigen Erwerbstätigen ausgeschieden waren (wie zB die in § 1259 Abs 1 Nrn 5 und 6 RVO genannten Rentenbezieher, die deshalb auch in § 9 WGSVG nicht erwähnt sind). Damit gewinnt das Merkmal der Zugehörigkeit zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen, auf das auch die Begründung zu § 9 WGSVG abhebt, für dessen Auslegung und Anwendung entscheidende Bedeutung.
Das gilt insbesondere für Fälle, die der Gesetzgeber in § 9 WGSVG nicht ausdrücklich geregelt hat, namentlich für den - hier vorliegenden - Fall, daß ein bisher versicherungspflichtig Beschäftigter eine nicht versicherungspflichtige (weitere) Ausbildung aufgenommen hat. Waren dafür Verfolgungsgründe maßgebend gewesen, wie häufig bei Verfolgten in der Zeit nach 1933, so bestehen gegen eine unmittelbare Anwendung des § 9 WGSVG keine Bedenken (vgl den vom Senat am 17. März 1981 entschiedenen Fall einer vor der Auswanderung absolvierten Ausbildung, 12 RK 13/80, Amtl. Mitt LVA Rheinpr 1982, 230). Hatte dagegen bei Beginn der Ausbildung noch keine Verfolgung vorgelegen (wie im Falle der 1930 in die USA ausgereisten Klägerin), so kommt nur eine entsprechende Anwendung des § 9 WGSVG in Betracht.
Sie setzt nach dem Gesagten voraus, daß der Auszubildende bis zum späteren Beginn der Verfolgung zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen gehört hat. Das aber ist nach Ansicht des Senats (nur) anzunehmen, wenn bei Antritt der (weiteren) Ausbildung deren Ende absehbar war und der Auszubildende bis zum Einsetzen der Verfolgung die Absicht gehabt hat, nach Abschluß der Ausbildung wieder in eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zurückzukehren. Nur dann kann nämlich die Ausbildungszeit noch als eine - zwischen mehrere Beschäftigungen eingeschobene - vorübergehende "Unterbrechung" einer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit angesehen und der Auszubildende noch zum Kreis der versicherungspflichtigen Erwerbstätigen gerechnet werden. Daß eine - bis zum Beginn der Verfolgung vorhanden gewesene - Rückkehrabsicht wegen der Verfolgung nicht verwirklicht und deshalb die unterbrochene Erwerbstätigkeit nicht fortgesetzt worden ist, kann dem Verfolgten entgegen der Ansicht des LSG nicht zum Nachteil gereichen. Auch der BGH hat in einem solchen Fall (vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit zum Zwecke der beruflichen Weiterbildung im Ausland) den an der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit aus Verfolgungsgründen verhinderten Verfolgten einem Arbeitslosen iS des § 88 Nr 4 BEG gleichgestellt und demgemäß für entschädigungsberechtigt gehalten; dabei hat er auch eine längere Unterbrechung von mehreren Jahren noch als vorübergehend angesehen (RzW 1964, 322, 323).
Liegen die genannten Voraussetzungen vor, so scheitert eine entsprechende Anwendung des § 9 WGSVG nicht daran, daß eine zum Zwecke einer (weiteren) Ausbildung erfolgte Unterbrechung der Beschäftigung in der Regel auf einem freien Entschluß des Versicherten beruht, was bei den in § 9 WGSVG ausdrücklich genannten Unterbrechungstatbeständen, insbesondere bei einer Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit, im allgemeinen nicht zutrifft. In der schon genannten Entscheidung vom 26. Oktober 1976 hatte der Senat die Frage noch offen gelassen, ob nur solche Unterbrechungen der Beschäftigung, auf die der Betreffende regelmäßig keinen Einfluß hat, den gesetzlich geregelten Tatbeständen gleichzustellen sind. Die frühere Entscheidung betraf einen Verfolgten, der im Anschluß an eine versicherungspflichtige Beschäftigung eine - als Ersatzzeit angerechnete - Arbeitsdienstzeit abzuleisten gehabt hatte; "zumindest" für Fälle dieser Art hatte der Senat damals eine entsprechende Anwendung des § 9 WGSVG bejaht (SozR aaO, S 2). Das gleiche muß aber nach Ansicht des Senats auch für freiwillige Unterbrechungen der Beschäftigung gelten; denn in der - für die Anwendung des § 9 WGSVG entscheidenden - Frage, ob trotz einer vorübergehenden (zeitweisen) Unterbrechung der Beschäftigung die Zugehörigkeit zum Kreis der versicherungspflichtigen Erwerbstätigen fortbestanden hat, macht es keinen rechtlich erheblichen Unterschied, ob die Unterbrechung freiwillig oder unfreiwillig erfolgt ist (vgl auch das schon genannte Urteil des BGH, das ebenfalls nicht zwischen einem arbeitslosen und einem wegen einer weiteren Berufsausbildung zeitweise nicht erwerbstätig gewesenen Verfolgten unterscheidet). Andererseits erfordern der - bereits erwähnte - Zweck des WGSVG, den Verfolgten des NS-Regimes eine möglichst vollständige und umfassende Entschädigung zu gewähren, und eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Gleichbehandlung aller Verfolgten (Art 3 GG) die Einbeziehung auch freiwilliger Unterbrechungsfälle in den Anwendungsbereich des § 9 WGSVG (zu dessen verfassungskonformer Ergänzung vgl SozR aaO, S 4). Diese Vorschrift ist somit auch dann anwendbar, wenn ein Verfolgter seine bisherige rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit freiwillig unterbrochen und eine (weitere) nicht versicherungspflichtige, aber ihrer Dauer nach absehbare Ausbildung aufgenommen hatte, sofern er die Ausbildung bis zum Beginn der Verfolgung fortgesetzt und mit ihr die - von ihm glaubhaft zu machende (§ 3 WGSVG) - Absicht verbunden hatte, nach ihrem Abschluß wieder in eine versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit einzutreten.
Im Falle der Klägerin steht bisher nur fest, daß sie bis Juli 1930 rentenversicherungspflichtig beschäftigt war und rassisch Verfolgte ist. Ihre Verfolgung kann frühestens mit der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 begonnen haben. Ob sie damals tatsächlich begonnen hat (die Beklagte hat dies offenbar angenommen, da sie eine Verfolgungszeit ab 1. Februar 1933 anerkannt hat), hängt davon ab, ob die Klägerin seinerzeit (noch) eine Rückkehr nach Deutschland ernstlich beabsichtigt und davon nur wegen einer ihr damals drohenden Verfolgung abgesehen hat (vgl BSGE 44, 236). Ist dies der Fall gewesen, so genügt dies allein noch nicht für die Anwendung des § 9 WGSVG, und zwar selbst dann nicht, wenn die früher versicherungspflichtig gewesene Klägerin durch ihren - nunmehr unfreiwillig gewordenen - Auslandsaufenthalt zugleich an der weiteren Teilnahme am deutschen Arbeitsleben (durch Wiederaufnahme einer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit) gehindert worden ist. Die Anwendung des § 9 WGSVG erfordert vielmehr nach dem vorher Ausgeführten außerdem, daß der Verfolgte entweder bis zum Beginn der Verfolgung eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausgeübt oder bis dahin mindestens zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen gehört hat. Im Falle der Klägerin kommt nur das letztere in Betracht, wäre aber auch zu bejahen, wenn ihr Aufenthalt in den USA ihrer weiteren, der Dauer nach absehbaren Berufsausbildung gedient und sie von vornherein die - auch später nicht aufgegebene - Absicht gehabt hatte, nach Abschluß der Ausbildung nach Deutschland zurückzukehren und dort wiederum eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit auszuüben, daran jedoch durch einen unfreiwilligen Auslandsaufenthalt gehindert worden ist. Ob diese Voraussetzungen bei der Klägerin vorgelegen haben, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht entscheiden. Er hat deshalb den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, das zunächst die notwendigen Feststellungen nachzuholen hat und bei der abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden wird.
Fundstellen