Leitsatz (amtlich)
Hat der Versicherungsträger auf Grund der bei Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides objektiv vorliegenden und vom Rentenversicherungsträger auch richtig erkannten Verhältnisse die Rente wegen Berufsunfähigkeit infolge falscher Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter die Sachnorm zu Unrecht gewährt, so kann er die Rente später entziehen (bzw umwandeln), wenn der Versicherte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen - die falsche Subsumtion als richtig unterstellt - nicht mehr berufsunfähig ist.
Normenkette
RKG § 86 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1967-12-21; RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. April 1971 und des Sozialgerichts Dortmund vom 24. April 1970 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Dezember 1969 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1937 geborene, nach Abschluß einer Berglehre als Gedingearbeiter im Steinkohlenbergbau tätig gewesene Kläger hat im Jahr 1961 einen Arbeitsunfall und hierdurch eine dauernde Gebrauchsbeeinträchtigung des rechten Arms erlitten. Von 1962 an arbeitete er bis zu seiner Abkehr vom Bergbau im Jahre 1968 als Wächter. Seither ist er in einer Zahnräderfabrik als Fahrer eines Elektrokarrens beschäftigt.
Die dem Kläger durch bindend gewordenen Bescheid vom 11. Februar 1963 wegen Berufsunfähigkeit bewilligte Knappschaftsrente wandelte die Beklagte durch den angefochtenen Bescheid vom 28. Oktober 1969, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1969, ab 1. Dezember 1969 in die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit um: Der Kläger beweise durch die Tat - Ausübung der zumutbaren Tätigkeit eines Elektrokarrenfahrers -, daß er nicht mehr berufsunfähig sei.
In dem gegen die Rentenentziehung angestrengten Streitverfahren hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg.
Mit der angefochtenen Entscheidung vom 27. April 1971 hat das Landessozialgericht (LSG) das die Rentenumwandlung aufhebende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt und ausgeführt: Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. März 1966 (5 RKn 140/64) sei weder ein Lehrhauer noch ein Gedingeschlepper berufsunfähig, wenn er noch Tätigkeiten der Lohngruppe IV über Tage vollschichtig verrichten könne. Schon bei Rentenbewilligung im Jahre 1963 sei der Kläger nach seinem Gesundheitszustand fähig gewesen, solche Übertagearbeiten - wie die eines Markenausgebers und Platzarbeiters - vollschichtig zu verrichten.
Sei aber der Kläger schon bei Rentengewährung nicht berufsunfähig gewesen, so habe eine Berufsunfähigkeit durch eine Änderung in seinen Verhältnissen auch nicht im Sinne des § 86 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) beseitigt werden können. Daran ändere auch die Tatsache nichts, daß der Umfang der beruflichen Verweisbarkeit eines Gedingearbeiters zur Zeit der Rentenbewilligung noch nicht höchstrichterlich geklärt gewesen sei.
Diesem Urteil tritt die Beklagte mit der zugelassenen Revision entgegen. Sie trägt vor: Bis zu der vom LSG genannten Entscheidung des BSG vom Jahre 1964 sei sie - Beklagte - zur Frage der beruflichen Verweisbarkeit von Gedingearbeitern - Hauern, Lehrhauern und Schleppern - nach von ihr aufgestellten Richtlinien verfahren, die eine Verweisung dieser Personengruppe auf die Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage nicht zugelassen hätten. Nach Erlaß neuer Gesetze - hier der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze vom Jahre 1957 - müßten bis zur höchstrichterlichen Klärung Richtlinien dieser Art insbesondere bei zugunsten der versicherten Personen getroffenen Entscheidungen auch bei rückschauender Betrachtung als weiterhin Rechtens angesehen werden. Sie - Beklagte - habe daher im Jahre 1963 dem Kläger zu Recht die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt. Wegen einer durch die tatsächliche Arbeitsleistung des Versicherten nachgewiesenen Änderung der Verhältnisse sei der Kläger jetzt aber nicht mehr berufsunfähig. Er könnte die Tätigkeit eines Elektrokarrenfahrers auch im Bergbau bei einer Entlohnung nach Lohngruppe II über Tage zumutbar ausüben.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24. April 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend. Die Beklagte übersehe insbesondere, daß er bereits bei Rentengewährung im Jahre 1963 auf eine Tätigkeit der Lohngruppe IV für den Bergbau habe verwiesen werden können.
II
Die zulässige Revision ist begründet.
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß die Beklagte dem Kläger die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit durch den bindend gewordenen Bescheid vom 11. Februar 1963 zu Unrecht gewährt hat. Zwar ist die Beklagte zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger nach seinem Gesundheitszustand (nur) noch in der Lage war, Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V übertage der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau zu verrichten, doch hat sie hiervon ausgehend, zu Gunsten des Klägers zu Unrecht entschieden, daß der Kläger nach § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 Abs. 2 RVO) berufsunfähig ist. In Wirklichkeit war der Kläger - gleichgültig ob man vom Hauptberuf des Lehrhauers oder des Gedingeschleppers ausgeht - nach der allerdings erst später ergangenen Rechtsprechung des BSG (SozR Nr. 16 zu § 46 RKG) nicht berufsunfähig. Es handelt sich bei diesem Rentenbewilligungsbescheid um einen von Anfang an rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt, der nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts jedenfalls grundsätzlich hätte zurückgenommen werden können, der aber nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, abgesehen von den Ausnahmefällen des § 1744 RVO, nicht zurückgenommen werden kann. Diese Rechtslage ist vergleichbar mit der Rechtslage nach § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO), wonach für die Rechtskraft eines Zivil-Urteils, in welchem zu wiederkehrenden Leistungen verurteilt worden ist, eine Abänderung verlangt werden kann, wenn sich die Verhältnisse, die für die Verurteilung maßgebend waren, wesentlich geändert haben. Dem entspricht für das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren im wesentlichen § 86 RKG (= § 1286 RVO), nach welchem bei einer Änderung der Verhältnisse mit Ablauf des auf die Zustellung des Rentenentziehungsbescheids folgenden Monats die Rente entzogen oder in eine Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umgewandelt werden kann, wenn der Berechtigte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Auch hier handelt es sich um eine die sachliche Bindung eines Verwaltungsakts für die Zukunft durchbrechende Vorschrift.
Zu Unrecht hat das LSG angenommen, daß im vorliegenden Fall die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit nicht in eine Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umgewandelt werden kann. Nach § 86 Abs. 1 Satz 3 RKG wird die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit in eine Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umgewandelt, wenn der Berechtigte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig, aber noch vermindert bergmännisch berufsfähig ist. Das LSG ist zwar zu Recht davon ausgegangen, daß der Versicherungsträger nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die Rente nach § 86 Abs. 1 RKG (= § 1286 RVO) nicht entziehen oder umwandeln kann, wenn er bei Rentenbewilligung von Verhältnissen ausgegangen ist, die zwar die Annahme von Berufsunfähigkeit rechtfertigen, die aber objektiv nicht vorgelegen haben (vgl. BSG in SozR Nr. 6, 8, 14 u. 18 zum - dem § 86 RKG entsprechenden - § 1286 RVO). Es besteht kein Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Jedoch hat das LSG nicht erkannt, daß der konkrete Fall anders liegt als diejenigen Fälle, über die das BSG bisher entschieden hat, und daß er daher eine besondere Beurteilung verlangt. Die Beklagte hat - anders als bei den bisher entschiedenen Fällen - der Rentenbewilligung den objektiv richtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, hat aber auf diesen Sachverhalt § 46 Abs. 2 RKG (§ 1246 Abs. 2 RVO) unrichtig angewandt.
Bei richtiger Anwendung dieser Vorschrift hätte die Beklagte den Kläger bereits bei Erlaß des Bescheids vom 11. Februar 1963 - wie es der späteren Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. März 1966 (SozR Nr. 16 zu § 46 RKG) entspricht - auf die seinen gesundheitlichen Kräften entsprechende Tätigkeit eines Markenausgebers, Maschinen- und Lampenstubenwärters sowie auf ähnliche Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V Übertage der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau im Rahmen des § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 RVO) zumutbar verweisen können, gleichgültig ob der Kläger im Hauptberuf Lehrhauer oder Gedingeschlepper ist. Diese unrichtige Subsumtion steht jedoch der Rentenentziehung nach § 86 Abs. 1 RKG (= § 1286 RVO) bei einer später eintretenden wesentlichen Änderung der für die Rentenbewilligung maßgebenden Verhältnisse nicht entgegen, falls der Kläger infolge dieser Änderung nicht mehr berufsunfähig ist. Die Beklagte wird zwar zugunsten des Klägers an dieser unrichtigen rechtlichen Einordnung festgehalten, doch kann sie die wegen Berufsunfähigkeit gewährte Knappschaftsrente in eine Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umwandeln, weil der Kläger infolge der Änderung der bei Rentengewährung gegebenen, von ihr richtig erkannten tatsächlichen Verhältnisse - die unrichtige Anwendung des § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 Abs. 2 RVO) als richtig unterstellt - nicht mehr berufsunfähig, sondern nur noch vermindert bergmännisch berufsfähig ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Rentenentziehung (Rentenumwandlung) vorliegen, muß in einem solchen Falle die unrichtige Einordnung des festgestellten Sachverhalts auf die Sachnorm hingenommen werden, weil die Bindungswirkung des Rentenbewilligungsbescheids im Rahmen des § 86 Abs. 1 RKG (= § 1286 RVO) nur durch die Veränderung der für die Rentengewährung maßgebenden Verhältnisse und nur in dem durch sie bedingten Umfang durchbrochen werden darf.
Eine Änderung der Verhältnisse liegt nach der ständigen, gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann vor, wenn der Versicherte neue Kenntnisse und Fertigkeiten erlangt hat, auf Grund derer er nunmehr eine nach den einschlägigen Rechtsvorschriften zumutbare Erwerbstätigkeit ausführen kann. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat der Kläger nach Bewilligung der Berufsunfähigkeitsrente solche neuen Kenntnisse und Fertigkeiten dadurch erlangt, daß er als Fahrer eines Elektrokarrens tätig ist; er kann also auf diese Tätigkeit verwiesen werden. Diese Tätigkeit ist, wie sich u. a. aus ihrer tariflichen Einstufung ergibt, als eine unter Berücksichtigung des bisherigen Berufs des Versicherten i. S. des § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 Abs. 2 RVO) zumutbare Tätigkeit anzusehen.
Da der Kläger somit, die unrichtige Subsumtion bei der Rentenbewilligung als richtig unterstellt, infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig, sondern nur noch vermindert bergmännisch berufsfähig ist, ist der angefochtene Rentenumwandlungsbescheid der Beklagten in der Gestalt des bestätigenden Widerspruchsbescheids nicht zu beanstanden. Die diesen Bescheid abändernden Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Im Kostenpunkt beruht die Entscheidung auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1669573 |
BSGE, 277 |