Leitsatz (redaktionell)
1. Nach RVO § 589 Abs 2 S 1 steht dem Tod durch Arbeitsunfall der Tod eines Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen ua einer als Berufskrankheit anerkannten Quarzstaublungenerkrankung um 50 oder mehr vH gemindert war. Das gilt nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht.
2. An eine Offenkundigkeit iS des RVO § 589 Abs 2 müssen strenge Anforderungen gestellt werden. Die Annahme eines offenkundigen Nichtvorliegens eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Silikose und Tod ist nur dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn nur eine ganz entfernte, mehr oder weniger theoretische Möglichkeit besteht, daß die Berufskrankheit den Tod des Versicherten mitverursacht oder um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Es kommt dabei nicht darauf an, ob es sich um eine unmittelbare oder mittelbare Ursache handelt.
3. Besteht ein Zusammenhang zwischen der Berufskrankheit Silikose und dem zum Tode führenden Leiden (Magenkrebs) insoweit, als eine erforderliche Operation, hier der Gallenblase, wegen der silikosebedingten Beeinträchtigung des körperlichen Zustandes erst wesentlich später - hier etwa 9 Monate - vorgenommen worden ist als vorgesehen, so fehlt es bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze an der Offenkundigkeit iS des RVO § 589 Abs 2 S 2, wenn es nach Meinung ärztlicher Sachverständiger
a) wahrscheinlich ist, daß bei einer um 9 Monate früher vorgenommenen Gallenoperation der Magenkrebs festgestellt worden wäre,
b) möglich ist, daß zu diesem früheren Zeitpunkt der Magenkrebs noch operabel gewesen ist und
c) bei einer operativen Entfernung des Carcinoms der Versicherte wahrscheinlich noch mehr als ein Jahr länger gelebt hätte.
Im Rahmen des von den ärztlichen Sachverständigen aufgezeigten möglichen Geschehensablaufes reicht es auch aus, wenn die Möglichkeit, daß das Krebsleiden zum Zeitpunkt der zunächst vorgesehenen Gallenoperation noch operabel war, ebenso groß ist, wie die Möglichkeit, daß es zu jenem Zeitpunkt bereits inoperabel gewesen ist.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30, S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. März 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist unter den Beteiligten, ob die Beklagte der Klägerin eine Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen hat, weil ihr am 14. Oktober 1968 im Alter von 66 Jahren verstorbener Ehemann (Versicherter) an einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) gelitten hat. Die Beklagte hatte dem Versicherten vom 27. Januar 1954 statt der bis dahin gezahlten 80%igen Rente die Vollrente gewährt.
Vom 21. Oktober bis zum 5. Dezember 1967 befand sich der Versicherte im Knappschaftskrankenhaus E. Er klagte u. a. über verstärkte krampfartige Schmerzen im rechten Oberbauch, zeitweiliges Erbrechen und Übelkeit. Es wurde eine ausgeprägte spastische Emphysem-Bronchitis bei einer mit 100% entschädigten Silikose und einer Cholezystitis (Gallenblasenentzündung) und Cholangitis (Entzündung des Gallengangssystems) bei Cholelithiasis (Gallensteinleiden) festgestellt. Von einer Cholecistektomie (operative Entfernung der Gallenblase) wurde jedoch im Hinblick auf das Vorliegen der cardio-pulmonalen Insuffizienz bei schwerer spastischer Emphysem-Bronchitis und Quarzstaublungenerkrankung Abstand genommen.
Der praktische Arzt Dr. W teilte der Beklagten mit Schreiben vom 8. November 1968 mit, der Versicherte habe sich gegen seinen Rat in seiner Verzweiflung über zunehmende Beschwerden doch zu einer Cholecistektomie entschlossen. Zu diesem Zweck sei er vom 8. August 1968 bis zum 12. September 1968 im V Krankenhaus in E gewesen. Am 19. August 1968 sei die steingefüllte Gallenblase operativ entfernt worden. Hierbei sei ein handflächengroßes Carcinom im Bereich des oberen Magenanteils mit Lebermetastasen festgestellt worden. Der Tod sei am 14. Oktober 1968 unter zunehmender Kachexie, Herz- und Kreislaufversagen eingetreten.
Aufgrund eines Obduktionsbefundes erstatteten Prof. Dr. M und Dr. D ein Gutachten vom 5. März 1969. Hiernach war der Versicherte an den Folgen eines Magencarcinoms mit nachfolgender Kachexie und Anaemie erkrankt. Unmittelbare Todesursache sei eine hypostatische, eitrige, peribronchiale Pneumonie gewesen, deren Entstehen durch die Folgen des Krebswachstums begünstigt worden sei. Das Todesleiden habe sich unabhängig von der Quarzstaublungenerkrankung entwickelt und habe in seiner bekannten und erfahrungsgemäß zu erwartenden Verlaufsweise, ohne durch die Quarzstaublungenerkrankung beeinflußt worden zu sein, direkt zum Tode geführt. Die Quarzstaublungenerkrankung habe den Tod weder verursacht noch mindestens ein Jahr vorverlegt.
Mit Bescheid vom 14. Mai 1969 lehnte die Beklagte Ansprüche der Witwe auf Entschädigung aus Anlaß der Berufskrankheit des Versicherten ab. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg mit Urteil vom 15. Oktober 1970 abgewiesen. Nach einem vom SG eingeholten Gutachten von Prof. Dr. W und Dr. G vom 1. Juli 1970 erschien es den Gutachtern durchaus möglich zu sein, daß bei einer Operation während des ersten Krankenhausaufenthaltes des Versicherten im Jahre 1967 der Magenkrebs noch operabel gewesen wäre, und der Versicherte nach einer damals durchgeführten Operation noch mindestens ein Jahr länger gelebt hätte. Es sei aber ebenso möglich, daß auch schon damals der Magenkrebs nicht mehr operabel gewesen sei.
Auf die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes Hinterbliebenenrente zu gewähren. Das LSG hörte als Sachverständigen Prof. Dr. P, der erklärte, es lasse sich nicht mehr klären, ob bereits im Jahre 1967 Metastasen des Magenkrebses vorgelegen hätten. Wenn man davon ausgehe, daß das nicht der Fall gewesen sei, müsse man annehmen, daß die Staublungenerkrankung den Tod des Versicherten um mindestens ein Jahr früher habe eintreten lassen. Daher sei es nach seiner Ansicht nicht offenkundig, daß der Tod nicht durch die Silikose mitbedingt gewesen sei. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Silikose sei zwar keine Ursache des tödlichen Krebsleidens, es sei aber dennoch nicht offenkundig, daß zwischen dem Tod und der Berufskrankheit kein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Prof. Dr. P habe in seinem Gutachten dargelegt, daß man schon bei einer Operation im Dezember 1967 mit großer Sicherheit den Magenkrebs diagnostiziert hätte. Die Diagnose des Magenkrebses sei wegen der Silikose erst etwa neun Monate später erfolgt. Ob das Magenkarzinom im Dezember 1967 noch operabel gewesen sei, könne nicht mit Sicherheit gesagt werden. Nach dem von Prof. Dr. P erstatteten Gutachten beständen jedoch nicht nur theoretische, sondern ernsthafte Zweifel an der Annahme, daß der Magenkrebs schon im Dezember 1967 inoperabel gewesen sei. Auch Prof. Dr. W und Dr. G hätten in ihren Gutachten die Ansicht vertreten, daß die Frage der Operabilität oder der Inoperabilität des Magenkrebses im Dezember 1967 nicht zu beantworten sei. Beide Möglichkeiten müßten gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Wäre der Magenkrebs des Versicherten im Dezember 1967 noch operabel gewesen, so wäre jedenfalls nicht ohne ernsthaften Zweifel auszuschließen, daß der Tod ein Jahr später eingetreten wäre. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte trägt mit der Revision vor, das Urteil des LSG beruhe auf einer Verletzung der Kausalgrundsätze des gesetzlichen Unfallversicherungsrechtes. Als unmittelbare Ursache für den Tod des Ehemannes der Klägerin komme nur die als Folge des schweren Magenkrebses entstandene Pneumonie in Betracht. Auf diesen zum Tode führenden Krankheitsverlauf habe die Silikose keinen Einfluß gehabt. Insoweit fehle es sowohl an einer unmittelbaren als auch an einer mittelbaren Verursachung des Todes durch die Berufskrankheit. Die Überlegungen des LSG stellten nur eine ganz entfernte, d. h. lediglich theoretische Möglichkeit dar, die im Rahmen einer unfallversicherungsrechtlichen Würdigung außer Betracht bleiben müsse. Die Begründung der ernsthaften Zweifel an einem offenkundig nicht mit der Silikose im Zusammenhang stehenden Tod des Versicherten beruhten auf folgenden Gedankengängen: Hätte der Versicherte nicht an der schweren Silikose gelitten, so wäre er mit Wahrscheinlichkeit bereits 1967 wegen des Gallenleidens operiert worden. Wäre er operiert worden, so wäre wahrscheinlich auch das Krebsleiden erkannt worden. Wäre die Krebserkrankung erkannt worden, so hätte die Möglichkeit bestanden, daß noch keine Metastasen vorhanden gewesen wären. Hätte es sich um einen noch nicht metastasierenden Krebs gehandelt, so wäre wahrscheinlich eine Magenresektion vorgenommen worden. Wäre die Magenresektion erfolgt, so hätte der Versicherte mit 34,7 bis 59,3 %iger Wahrscheinlichkeit eine Überlebenschance von mehr als zwei Jahren gehabt. Dabei sei jedoch offen, ob diese Chance tatsächlich auch für den Versicherten hätte gelten können, wenn gleichzeitig die dringend erforderliche Gallenoperation durchgeführt worden wäre und man darüber hinaus sein Alter von 64 oder 65 Jahren sowie die bei ihm vorhandene Emphysem-Bronchitis berücksichtige. Die vom LSG angenommenen ernsthaften Zweifel ließen sich also nur durch eine Ursachenkette von Möglichkeiten begründen, die jede für sich auf nicht konkretisierbaren Annahmen beruhe. Dadurch könne aber die Offenkundigkeit, daß der Tod mit der Berufskrankheit in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe, nicht in Frage gestellt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. März 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) steht dem Tod durch Arbeitsunfall der Tod eines Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen einer als Berufskrankheit anerkannten Quarzstaublungenerkrankung um 50 oder mehr v. H. gemindert war. Diese Voraussetzungen waren bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin erfüllt, jedoch gilt die Regelung des § 589 Abs. 2 Satz 1 nach Satz 2 dieser Vorschrift dann nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Quarzstaublungenerkrankung nicht im ursächlichen Zusammenhang gestanden hat. Es kommt also darauf an, ob es offenkundig ist, daß die Silikose keine rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten gewesen ist. Das bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Frage der Kausalität, daß die Silikose den Tod offenkundig nicht in medizinisch erheblichem Maße mitverursacht oder zumindest diesen offenkundig nicht um mehr als ein Jahr beschleunigt haben darf.
Der erkennende Senat hat bereits entschieden (SozR Nr. 4 zu § 589 RVO), daß der Begriff "offenkundig" in § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht die gleiche Bedeutung wie in § 1291 der Zivilprozeßordnung hat. Es kann sich nicht um eine allgemeinkundige oder gerichtskundige Tatsache handeln, weil die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens des Kausalzusammenhangs zwischen einer Berufskrankheit und dem Tod fast niemals ohne Hinzuziehung medizinischer Sachverständiger entschieden werden kann. Da der Gesetzgeber als Beweismittel für eine derartige Feststellung nur die Leichenausgrabung ausschließt, geht er erkennbar davon aus, daß zur Beweiserhebung über diese Frage alle anderen Beweismittel zulässig sind. Dennoch müssen an eine "Offenkundigkeit" im Sinne des § 589 Abs. 2 RVO strenge Anforderungen gestellt werden. Der Senat hat daher die Annahme eines offenkundigen Nichtvorliegens eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Silikose und Tod nur dann für gerechtfertigt angesehen, wenn nur eine ganz entfernte, mehr oder weniger theoretische Möglichkeit besteht, daß die Berufskrankheit den Tod des Versicherten mitverursacht oder um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Es kommt dabei nicht darauf an, ob es sich um eine unmittelbare oder mittelbare Ursache handelt.
Im vorliegenden Falle steht fest, daß bereits im Jahre 1967 die Gallenoperation vorgenommen worden wäre, wenn bei dem Versicherten keine schwere Silikoseerkrankung vorgelegen hätte. Es ist nach den ärztlichen Gutachten von Prof Dr. W Dr. G und Prof. Dr. P wahrscheinlich, daß man dann die Erkrankung an Magenkrebs schon etwa neun Monate früher festgestellt hätte, und es ist nach den Meinungen dieser Sachverständigen möglich, daß damals das Magencarcinom noch operabel und der Kläger nach einer operativen Entfernung des Carcinoms mehr als ein Jahr länger gelebt hätte. Die Möglichkeit, daß das Leiden im Jahre 1967 noch operabel war, ist ebenso groß wie die Möglichkeit, daß es schon damals inoperabel gewesen ist. Eine Gesamtwürdigung aller Umstände führt nicht zu dem Ergebnis, daß nur noch eine ganz entfernte, d. h. eine lediglich theoretische Möglichkeit dafür besteht, daß die Silikose keine mittelbare Ursache dafür war, daß der Tod des Versicherten um mindestens ein Jahr früher eingetreten ist, als er ohne die Erkrankung an Silikose eingetreten wäre. Diese Möglichkeit besteht vielmehr. Daher ist das LSG mit Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß das Nichtbestehen eines ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit der Berufskrankheit nicht offenkundig ist, so daß die Revision der Beklagten zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen