Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung
Orientierungssatz
1. War der Versicherte schon bei Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente fähig, die Tätigkeit eines Werkzeugausgebers auszuüben, bedeutet die spätere Aufnahme einer entsprechenden Tätigkeit keine für die Weitergewährung der Rente erhebliche Änderung der Verhältnisse.
2. In der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (Erlangung eines Arbeitsplatzes) könnte allenfalls dann eine Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 1286 Abs 1 S 1 gesehen werden, wenn das Fehlen einer entsprechenden Beschäftigung (Arbeitsplatz) für die Gewährung der Rente wesentlich mitursächlich gewesen war (vgl Urteil des BSG vom 1978-02-28 4 RJ 43/77 = SozR 2200 § 1286 Nr 5 S 19).
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 03.11.1977; Aktenzeichen V JBf 132/76) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 11.11.1976; Aktenzeichen 17 J 161/75) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. November 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist 1934 geboren und gelernter Maschinenschlosser. Seit 1955 war er als Schiffsbauer auf einer Hamburger Werft beschäftigt. Nach einer Operation im Mai 1968, bei der ein künstlicher Darmausgang angelegt wurde, bewilligte ihm die Beklagte zunächst eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie wandelte diese aber mit Bescheid vom 2. Dezember 1969 für die Zeit ab 1. Februar 1970 in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit um, nachdem bei einer Nachuntersuchung im November 1969 eine wesentliche Besserung im Gesamtzustand des Klägers festgestellt worden war; der Chirurg Dr. M hatte ihn in seinem bisherigen Beruf zwar nicht mehr für verwendbar gehalten, jedoch noch andere körperlich nicht zu sehr anstrengende Tätigkeiten ("evtl Expedient oder Lagerverwalter") als möglich angesehen. Daraufhin nahm der Kläger am 2. Februar 1970 bei seiner bisherigen Arbeitgeberin eine Tätigkeit als Werkzeugausgeber (Magaziner) auf; er verrichtet sie auch jetzt noch. An berufsfördernden Maßnahmen war er nicht interessiert, die Beklagte hielt sie auch nicht für erfolgversprechend.
Mit Ablauf des Monats Februar 1975 entzog die Beklagte dem Kläger die gewährte Berufsunfähigkeitsrente: Er verrichte seit Februar 1970 eine Tätigkeit als Werkzeugausgeber vollwertig mit entsprechender Entlohnung, könne sie nach dem Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung auch weiterhin ausüben und sei auf sie nach seinem beruflichen Werdegang verweisbar, so daß Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege (Bescheid vom 20. Januar 1975).
Das Sozialgericht (SG) hat den Rentenentziehungsbescheid aufgehoben und die Beklagte zur Weitergewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit verpflichtet (Urteil vom 11. November 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 3. November 1977). Es hat eine Änderung in den Verhältnissen des Klägers gegenüber der Zeit der Rentenumwandlung verneint; die gesundheitlichen Verhältnisse seien gleich geblieben; neue Kenntnisse und Fähigkeiten habe der Kläger durch seine Tätigkeit als Werkzeugausgeber nicht erworben, denn die dazu erforderlichen Kenntnisse habe er bereits aufgrund seiner früheren Tätigkeit besessen; eine Einarbeitung von mindestens drei Monaten sei nicht erforderlich gewesen. In der Aufnahme einer zumutbaren Tätigkeit allein liege keine Änderung der Verhältnisse, da die Tatsache der Ausübung einer Erwerbstätigkeit regelmäßig nicht zu den Verhältnissen gehöre, die für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit maßgebend seien. Der Fall, daß die Rente dem Kläger in der Annahme gewährt worden sei, der Arbeitsmarkt sei ihm praktisch verschlossen, sei hier nicht gegeben.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und ausgeführt: Das LSG habe zu Unrecht eine Änderung der Verhältnisse verneint; diese liege darin, daß der Kläger nunmehr ununterbrochen über einen längeren Zeitraum eine - ihm zumutbare - Tätigkeit als Werkzeugausgeber vollwertig mit entsprechender Entlohnung und bei voller Arbeitszeit verrichte; diese Tätigkeit setze auch besondere Kenntnisse von Werkzeugen und deren Instandhaltung voraus. Der vorliegende Fall ähnele einer früher vom erkennenden Senat in dem Urteil vom 23. März 1977 (4 RJ 1/76) entschiedenen Sache, in der ebenfalls in der Aufnahme einer zumutbaren Beschäftigung durch einen Empfänger einer BU-Rente eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse gesehen worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 3. November 1977 und das Urteil des SG Hamburg vom 11. November 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Da er als Werkzeugausgeber keine neuen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben habe, liege eine Änderung der Verhältnisse seit der Rentengewährung nicht vor.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben den angefochtenen Entziehungsbescheid zutreffend für rechtswidrig gehalten. Er muß schon deshalb aufgehoben werden, weil seit Gewährung der fraglichen Rente - durch Umwandlung der früher bezogenen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit - beim Kläger keine "Änderung in seinen Verhältnissen", die für die Rentengewährung maßgebend gewesen sind, eingetreten ist (§ 1286 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Ohne eine solche Änderung kann jedoch die Rente nicht entzogen werden (vgl BSGE 24, 7, 8).
Das LSG hat zunächst unangefochten festgestellt, daß sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers und sein dadurch bedingtes Leistungsvermögen seit der Begutachtung im November 1969, auf der der Umwandlungsbescheid vom 2. Dezember 1969 beruht, nicht geändert haben. Der Kläger hat damals wie heute nur körperlich leichte Arbeiten - wie die von ihm seit Februar 1970 ausgeübte Tätigkeit als Werkzeugausgeber - verrichten können, diese allerdings vollschichtig. Daß bei ihm nach der Rentenumwandlung eine Besserung des Gesundheitszustandes im Sinne einer weiteren Stabilisierung eingetreten oder ihm die Berufsunfähigkeitsrente als "Schonungsrente" gewährt worden sei, wie die Beklagte noch im Berufungsverfahren vorgetragen hatte, hat das LSG ausdrücklich verneint; die Beklagte hat auch ihr früheres Vorbringen im Revisionsverfahren nicht mehr wiederholt.
Das LSG hat ferner festgestellt, daß der Kläger durch seine Tätigkeit als Werkzeugausgeber keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe; die für diese Tätigkeit benötigten Kenntnisse habe er vielmehr schon vorher - aufgrund seiner Ausbildung und Beschäftigung als Maschinenschlosser und Schiffsbauer - besessen oder sich im Wege einer kurzen Einweisung angeeignet. Wenn die Beklagte mit der Revision geltend macht, die Tätigkeit als Werkzeugausgeber setze besondere Kenntnisse von Werkzeugen und deren Instandhaltung voraus, so ist diesem Vorbringen nicht zu entnehmen, daß der Kläger nach Ansicht der Beklagten die für eine Beschäftigung als Werkzeugausgeber erforderlichen Kenntnisse erst nachträglich erworben habe.
Ist hiernach davon auszugehen, daß sich das Leistungsvermögen des Klägers seit Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente weder in gesundheitlicher noch in beruflicher Hinsicht wesentlich geändert hat, so kann eine solche Änderung auch nicht darin gesehen werden, daß er alsbald nach Umwandlung der Rente eine Tätigkeit als Werkzeugausgeber aufgenommen und diese seitdem ununterbrochen als vollwertige Arbeitskraft verrichtet hat. Das gilt auch dann, wenn ihm diese Tätigkeit, was der Senat nicht zu entscheiden braucht, nach seinem beruflichen Werdegang zumutbar ist (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Das LSG hat insoweit mit Recht darauf hingewiesen, daß der Begriff der Berufsunfähigkeit nur die Fähigkeit des Versicherten zur Erzielung eines bestimmten Einkommens betrifft, nicht die tatsächliche Ausnutzung dieser Fähigkeit. War der Kläger aber schon bei Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente fähig, die Tätigkeit eines Werkzeugausgebers auszuüben - nach dem ärztlichen Gutachten vom November 1969 und den Feststellungen des LSG über seine beruflichen Vorkenntnisse kann daran kein Zweifel bestehen -, dann bedeutet die spätere Aufnahme einer entsprechenden Tätigkeit keine für die Weitergewährung der Rente erhebliche Änderung der Verhältnisse.
Etwas anderes ist auch nicht dem von der Beklagten genannten Urteil des Senats vom 23. März 1977 (4 RJ 1/76) zu entnehmen. Darin hat der Senat zwar im Anschluß an eine Entscheidung des 5. Senats vom 28. März 1973 (BSGE 35, 277) auch eine zu Unrecht gewährte Berufsunfähigkeitsrente unter bestimmten Voraussetzungen für entziehbar gehalten, sofern nämlich die Rente wegen falscher Anwendung des Rechts auf einen richtig festgestellten Sachverhalt gewährt worden sei und sich die Verhältnisse des Rentenempfängers nachträglich geändert hätten, insbesondere dadurch, daß dieser später neue Kenntnisse und Fertigkeiten erworben habe. Solche neuen Kenntnisse und Fertigkeiten hatte in dem damals entschiedenen Fall auch der früher als Dachdecker tätig gewesene Kläger durch seine neue Beschäftigung in einem Verpflegungslager der Bundeswehr erworben, wie in dem Urteil des Senats näher ausgeführt worden ist (vgl die Wiedergabe der Gründe in "Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz" 1978, 221, 222 rechte Spalte; auch der 5.Senat hatte in dem von ihm entschiedenen Fall eines früher im Bergbau beschäftigt gewesenen Hauers den Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten als Fahrer eines Elektrokarrens festgestellt, aaO S 279 unten; vgl ferner die Entscheidung des Senats in SozR 2200 § 1286 Nr 4 zur Änderung der Verhältnisse durch Erwerb einer Fahrerlaubnis).
In der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (Erlangung eines Arbeitsplatzes) könnte - für sich allein genommen - allenfalls dann eine Änderung der Verhältnisse iS des § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO gesehen werden, wenn das Fehlen einer entsprechenden Beschäftigung (Arbeitsplatz) für die Gewährung der Rente wesentlich mitursächlich gewesen war (Urteil des Senats vom 28. Februar 1978, SozR 2200 § 1286 Nr 5, S 19). Das kann insbesondere bei einer Einschränkung des Leistungsvermögens auf die Verrichtung von Teilzeittätigkeiten oder dann der Fall sein, wenn die Rente wegen Berufsunfähigkeit deswegen gewährt worden ist, weil keine konkret zu benennenden, beruflich zumutbaren, von Tarifverträgen erfaßten Tätigkeiten festzustellen seien, der Versicherte aber später eine solche Tätigkeit findet. Insoweit bietet indessen der vorliegende Sachverhalt keine Anhaltspunkte, daß die Beklagte dem Kläger die streitige Rente nur oder auch mit Rücksicht darauf gewährt hat, daß er im Zeitpunkt der Gewährung noch keinen seinem Leistungsvermögen entsprechenden zumutbaren Arbeitsplatz gefunden hatte.
Fehlt es somit im Falle des Klägers an einer für die Rentenentziehung erforderlichen rechtserheblichen "Änderung in seinen Verhältnissen" seit Gewährung der Rente, so ist ihm diese mit dem angefochtenen Bescheid zu Unrecht entzogen worden, wie das LSG zutreffend entschieden hat. Die Revision der Beklagten ist deshalb als unbegründet zurückgewiesen worden.
Über die Kosten des Revisionsverfahrens ist nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entschieden worden.
Fundstellen