Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung
Orientierungssatz
Der Entziehungsbescheid ist vom Gericht nach den Verhältnissen zur Zeit seines Erlasses nachzuprüfen. War er zur Zeit seines Erlasses rechtswidrig, so kann die Aufhebungsklage nicht deswegen abgewiesen werden, weil ein Rentenentziehungsbescheid, wäre er später aufgrund anderer Tatsachen erlassen worden, rechtmäßig wäre.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 17.02.1977; Aktenzeichen V JBf 21/75) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 27.02.1975; Aktenzeichen 15 J 925/73) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1977 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsrechtszuges zu erstatten.
Tatbestand
Im Prozeß geht es um die Frage, ob eine zur Rentenentziehung berechtigende Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist, wenn der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit bei gleichbleibenden gesundheitlichen Verhältnissen nach Rentenbewilligung wieder eine Tätigkeit aufnimmt (§ 1286 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der im Jahr 1929 geborene Kläger ist gelernter Hafner (Keramformer) und arbeitete bis 1968 als Fliesenleger. Er leidet an Wirbelsäulenbeschwerden. Von April 1970 bis Ende 1974 war er mit einer krankheitsbedingten Unterbrechung von Juli 1971 bis Juni 1973 bei einem Sicherheitstransportunternehmen beschäftigt und als Transportbegleiter, später auch in der Einsatzleitung eingesetzt. Seit Februar 1975 arbeitet er als Bote bei einer Bank.
In einem Rechtsstreit wegen Ablehnung von Versichertenrente bewilligte die Beklagte dem Kläger mit einem im Januar 1972 abgegebenen und im Juni 1972 angenommenen Anerkenntnis Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1971 an; dabei ging sie davon aus, daß der Versicherungsfall am 30. Juni 1971 eingetreten sei (Bescheid vom 31. August 1972). Nach ärztlicher Begutachtung entzog die Beklagte mit Bescheid vom 21. August 1973 die Rente zu Ende September 1973 mit der Begründung, das im Jahr 1971 festgestellte Wirbelsäulenleiden habe sich so weit gebessert, daß der Kläger mittelschwere Arbeit ohne schweres Heben, Tragen und häufiges Bücken verrichten könne; die Lungen- und Herzkreislauffunktion sei nicht eingeschränkt.
Der Kläger hat Klage auf Aufhebung des Entziehungsbescheides erhoben. Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat mit Urteil vom 27. Februar 1975 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 17. Februar 1977 das Urteil des SG und den Entziehungsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers hätten sich nicht geändert. Auch in sonstiger Hinsicht sei keine Änderung eingetreten. Eine solche lasse sich nicht allein aus der Ausübung einer Erwerbstätigkeit herleiten. Neue Kenntnisse und Fähigkeiten habe der Kläger weder als Transportbegleiter noch in der Einsatzleitung des Sicherheitstransportunternehmens noch als Bankbote erworben.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1286 RVO. Sie trägt vor, die Wiederaufnahme der Tätigkeit als Transportbegleiter sei eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung in den Verhältnissen des Klägers, und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. Februar 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Seiner Ansicht nach ist keine die Rentenentziehung begründende Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat ohne Gesetzesverletzung den Entziehungsbescheid als rechtswidrig aufgehoben.
Als Rechtsgrundlage für die Entziehung einer Rente kommt § 1286 RVO in Frage. Nach dieser Vorschrift (Abs 1 S 1) wird die Rente entzogen, wenn der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, gegen die keine Revisionsgründe vorgebracht sind und die deshalb den Senat binden, ist in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers keine Änderung im Sinn einer Besserung eingetreten; auch hat der Kläger weder durch die Tätigkeit als Transportbegleiter noch in der Einsatzleitung neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben. Die einzige Änderung, die eingetreten ist, liegt darin, daß der Kläger, der bei der Rentenbewilligung arbeitsunfähig war, im Zeitpunkt der Entziehung wieder als Transportbegleiter beschäftigt war. Eine solche Änderung kann zwar im Rahmen des § 1286 RVO wesentlich sein, wie der Senat bereits früher entschieden hat (Urteile vom 23. März 1977 - 4 RJ 1/76 - und vom 28. Februar 1978 - 4 RJ 43/77 - SozR 2200 § 1286 Nr 5; Urteil des 5. Senats vom 13. September 1978 - 5 RJ 108/77 -). Sie ist aber nicht, was nach § 1286 RVO erforderlich wäre, ursächlich ("infolge") für einen im Zeitpunkt der Entziehung etwa eingetretenen Wegfall der Berufsunfähigkeit gewesen.
Ob der Kläger im Zeitpunkt der Entziehung berufsunfähig war oder nicht, hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft. Das kann auch dahinstehen.
War der Kläger bei der Entziehung nicht berufsunfähig, etwa weil er auf die Tätigkeit eines Transportbegleiters zumutbar verwiesen werden konnte, dann ist dieser Zustand nicht erst durch die Wiederaufnahme der Tätigkeit verursacht worden. Denn auch schon im Zeitpunkt der Rentenbewilligung hätte der Kläger auf eine solche Beschäftigung verwiesen werden können; seine gesundheitlichen Verhältnisse sowie seine Kenntnisse und Fähigkeiten waren damals die gleichen, die Tätigkeit eines Transportbegleiters, die er schon vor der Rentenbewilligung bei demselben Arbeitgeber ausgeübt hatte, kam schon damals für ihn in Frage. Der Umstand, daß der Versicherte keinen Arbeitsplatz innehat, ist jedenfalls bei einer Vollzeitarbeitskraft allein kein Grund für die Bewilligung einer Rente (vgl Urteil vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - SozR 2200 § 1246 Nr 30 mit weiteren Nachweisen).
War der Kläger dagegen bei der Entziehung berufsunfähig, dann kam schon deswegen eine Rentenentziehung nicht in Betracht.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Beschäftigung des Klägers als Bankbote hier nicht heranzuziehen und nach § 1286 Abs 1, § 1246 Abs 2 RVO zu beurteilen; sie ist nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Der Kläger hat diese Beschäftigung erst eineinhalb Jahre nach Erlaß des Rentenentziehungsbescheides aufgenommen; sie wird von dem angefochtenen Bescheid nicht umfaßt. Die Angabe in der Revisionsbegründung (S. 3), die Tätigkeit als Bankbote sei Veranlassung für die Rentenentziehung gewesen, beruht wohl auf einem Mißverständnis. Der Entziehungsbescheid ist vom Gericht nach den Verhältnissen zur Zeit seines Erlasses nachzuprüfen. War er zur Zeit seines Erlasses rechtswidrig, so kann die Aufhebungsklage nicht deswegen abgewiesen werden, weil ein Rentenentziehungsbescheid, wäre er später aufgrund anderer Tatsachen erlassen worden, rechtmäßig wäre (vgl BSGE 7, 8, 13; 7, 129, 135; 15, 127, 131; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 240 b I; Meyer-Ladewig, SGG, Rn 32, 33 zu § 54; Eyermann-Fröhler, VwGO, 7. Aufl, Rn 2 zu § 113). Erweist sich dagegen der Entziehungsbescheid als rechtmäßig, wird aber mit der Klage auch die Wiedergewährung der Rente von einem späteren Zeitpunkt an beansprucht, so ist zu prüfen, ob nach Erlaß des Entziehungsbescheides bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen des Rentenanspruchs wieder eingetreten sind (BSG SozR Nr 5 zu § 1293 RVO aF). Da hier der Entziehungsbescheid rechtswidrig ist, war über etwa später eingetretene tatsächliche Änderungen nicht mitzuentscheiden.
An ein "Nachschieben" von Gründen für den umstrittenen Rentenentziehungsbescheid kann schon deshalb nicht gedacht werden, weil die "nachzubringende" Tatsache der Beschäftigung als Bankbote zur Zeit des angefochtenen Bescheides noch nicht vorhanden war (vgl BSG 45, 206, 208).
Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen