Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Zulässigkeit der Berufung im Revisionsverfahren. Verfahrensmängel. Anwendung des § 148 Nr 2 SGG
Leitsatz (amtlich)
Eine sozialgerichtliche Entscheidung über einen Ausgleich nach § 85 Abs 1 SVG ist für den Versorgungsanspruch nach § 80 SVG nur verbindlich, wenn auch über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung rechtskräftig entschieden worden ist.
Orientierungssatz
1. Bei einer zugelassenen Revision hat das Revisionsgericht auch ohne eine entsprechende Rüge der Beteiligten zu prüfen, ob von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel vorliegen. Das sind Verstöße gegen prozeßrechtliche Grundsätze, welche im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- oder Berufungsverfahren betrifft. Zu diesen von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmängeln gehört die rechtsirrige Annahme des Berufungsgerichts, daß die Berufung zulässig gewesen sei (vgl BSG vom 1981-04-23 1 RA 25/80 = SozR 1500 § 46 Nr 12 und BSG vom 1983-01-26 1 RA 55/81 = SozR 1500 § 146 Nr 14).
2. Bei Streitigkeiten, für die nach dem SVG der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist, ist § 148 Nr 2 SGG anzuwenden (vgl BSG vom 1980-01-30 9 RV 34/78 = SozR 1500 § 148 Nr 4).
Normenkette
SVG § 85 Abs 1, §§ 80-81, 88 Abs 7 Nr 3; SGG § 148 Nr 2, § 150 Nr 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.07.1982; Aktenzeichen L 15 V 28/81) |
SG München (Entscheidung vom 17.10.1980; Aktenzeichen S 25 V 1781/78) |
Tatbestand
Der Kläger leistete vom 4. Oktober 1976 bis zum 14. März 1978 als Wehrpflichtiger Dienst bei der Bundeswehr. Am 5. Oktober 1977 fuhr er, ohne im Besitz eines Berechtigungsscheins zu sein, trotz mehrfach geäußerten Verbots einen Gabelstapler aus einer Wartehalle und verlor dabei auf dem abschüssigen Kasernengelände wegen überhöhter Geschwindigkeit die Herrschaft über das Fahrzeug. Dieses stürzte um und begrub ihn unter sich. Dabei erlitt er eine inkomplette Querschnittslähmung.
Den Antrag des Klägers, ihm wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung für die Dauer seiner Dienstzeit einen Ausgleich (§ 85 Abs 1 Soldatenversorgungsgesetz -SVG-) zu gewähren, lehnte das Wehrbereichsgebührnisamt V mit Bescheid vom 1. März 1978 ab. Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wies die Wehrbereichsverwaltung am 13. Oktober 1978 zurück.
Der Antrag des Klägers, ihm für die Zeit nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen Folgen einer Wehrdienstbeschädigung Versorgung zu gewähren (§ 80 SVG), wurde durch das Versorgungsamt München II abgelehnt (Bescheid vom 8. Juni 1978 und Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1978).
Gegen die Bescheide des Wehrbereichsgebührnisamtes V hat der Kläger Klage auf Zahlung eines Ausgleichs gemäß § 85 SVG erhoben. Diese Klage ist durch das Sozialgericht (SG) abgewiesen worden, weil eine Wehrdienstbeschädigung iSd § 81 SVG nicht vorliege. In der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung hat der Kläger beantragt, ihm Ausgleich gemäß § 85 Abs 1 SVG zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers in der Sache zurückgewiesen und die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen, weil die Rechtssache hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung grundsätzliche Bedeutung habe. Hierzu hat das LSG ausgeführt: Die Berufung sei zulässig; zwar handele es sich bei dem in diesem Prozeß erhobenen Anspruch auf Ausgleich nur um Leistungen für einen abgelaufenen Zeitraum (§ 148 Nr 2 SGG); auf der anderen Seite sehe jedoch § 88 Abs 5 Nr 3 (jetzt Abs 7 Nr 3) SVG vor, wenn ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit in Angelegenheiten des Ausgleichsanspruchs über die Frage einer Wehrdienstbeschädigung und den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Tatbestand einer Wehrdienstbeschädigung rechtskräftig entschieden habe, so sei diese Entscheidung insoweit auch für eine auf derselben Ursache beruhende Rechtsstreitigkeit über einen Anspruch auf Versorgung verbindlich. Da dieser Versorgungsanspruch jedoch keinen abgelaufenen Zeitraum umfasse, müsse er mit einbezogen werden bei der Prüfung, ob die Berufung nach § 148 Nr 2 SGG ausgeschlossen sei.
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 81 SVG durch das LSG.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juli 1982 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger auf Grund seiner Wehrdienstbeschädigung Ausgleich nach § 85 SVG zu gewähren.
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie meinen, daß der Kläger zur Zeit des Unfalls keinen wehrdienstlichen Verpflichtungen nachgekommen sei.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Die Revision war mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG als unzulässig zu verwerfen ist.
Das LSG hat die Berufung des Klägers als zulässig angesehen. Sie hätte jedoch als unzulässig verworfen werden müssen. Allerdings hat der Kläger eine hierauf abzielende Verfahrensrüge nicht erhoben und mangels Beschwer auch nicht erheben können. Aber auch ohne eine solche Rüge ist der Senat zu einer Überprüfung der Zulässigkeit der Berufung berechtigt und verpflichtet. Bei einer zugelassenen Revision hat das Revisionsgericht auch ohne eine entsprechende Rüge der Beteiligten zu prüfen, ob von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel vorliegen. Das sind Verstöße gegen prozeßrechtliche Grundsätze, welche im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- oder Berufungsverfahren betrifft. Zu diesen von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmängeln gehört die rechtsirrige Annahme des Berufungsgerichts, daß die Berufung zulässig gewesen sei (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 12 und 14).
Entgegen der Ansicht des LSG ist die Berufung unzulässig gewesen, weil es sich bei dem Streitgegenstand um einen Anspruch für einen bereits abgelaufenen Zeitraum (§ 148 Nr 3 SGG) handelt.
Der Senat hat bereits entschieden, daß bei Streitigkeiten, für die nach dem SVG der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist, § 148 Nr 2 SGG anzuwenden ist (Urteil vom 30. Januar 1980 - 9 RV 34/78 - in SozR 1500 § 148 Nr 4).
In diesem Rechtsstreit geht es um den vom Wehrbereichsgebührnisamt abgelehnten Ausgleich. Hierbei handelt es sich um den Anspruch nach § 85 Abs 1 SVG, der bestimmt, daß Soldaten wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung während ihrer Dienstzeit einen Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerbeschädigtenzulage nach § 30 Abs 1 und § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhalten. Da die Dienstzeit des Klägers bereits mit dem 14. März 1978 endete, handelte es sich zur Zeit der Berufungseinlegung im Januar 1981 bei dem Ausgleich um einen Anspruch für eine abgelaufene Zeit. Zwar hatte der Kläger wegen desselben Unfallereignisses auch für die Zeit nach Beendigung seiner Dienstzeit Versorgung beantragt. Dieser ebenfalls abgelehnte Anspruch richtete sich nach § 80 SVG. Hiernach erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Es handelt sich bei den Ansprüchen aus § 85 SVG auf Ausgleich und § 80 SVG auf Versorgung um zwei selbständige nebeneinander stehende Ansprüche, die nach § 88 Abs 1 SVG einmal von den Behörden der Bundeswehrverwaltung und zum anderen von den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden festgestellt werden. Die Ansprüche auf Ausgleich und Versorgung können auch nicht als Einheit bei der Prüfung betrachtet werden, ob die Berufung zulässig ist. Das LSG hat sie als Einheit betrachtet, weil andernfalls eine Entscheidung über den durchweg unbedeutenderen Anspruch auf Ausgleich ohne die Berufungsmöglichkeit für den umfangreichen, oft viele Jahre betreffenden Anspruch auf Versorgung, der für sich berufungsfähig wäre, verbindlich würde. Dem ist jedoch nicht so.
In § 88 Abs 5 Nr 3 (jetzt Abs 7 Nr 3) SVG ist angeordnet, daß die Entscheidung über den Ausgleich für eine auf derselben Ursache beruhende Rechtsstreitigkeit über den Versorgungsanspruch verbindlich ist, wenn in der Angelegenheit über den Ausgleich über die Frage einer Wehrdienstbeschädigung und den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Tatbestand des § 81 SVG rechtskräftig entschieden worden ist. Aus dem Wortlaut ergibt sich, daß nur dann eine Bindung für den Versorgungsanspruch eintritt, wenn sowohl über die Frage einer Wehrdienstbeschädigung als auch über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem entsprechenden Tatbestand entschieden worden ist. Der vollständige Text dieser Vorschrift läßt diese Aussage jedoch nicht so klar erkennen, weil er in der ersten Satzhälfte neben einer Wehrdienstbeschädigung noch eine gesundheitliche Schädigung iSd § 81a SVG mit dem Wort "oder" verbunden hat und in der zweiten Satzhälfte neben den Tatbestand des § 81 den des § 81a oder auch das Vorliegen einer Gesundheitsstörung iSd § 81 Abs 5 Satz 2 SVG ebenfalls mit "oder" einbezogen hat. Das bedeutet, daß vor dem "und" in dieser Vorschrift zwei Alternativen nebeneinander gestellt worden sind und nach dem "und" sogar drei verschiedene Umstände gleichrangig nebeneinander aufgeführt werden. Es ist deshalb erforderlich, daß wenigstens eine der Alternativen aus dem vorderen Halbsatz und eine der drei Möglichkeiten aus dem zweiten Halbsatz Gegenstand der Entscheidung gewesen sind. Daraus folgt, daß eine Bindungswirkung nur dann eintritt, wenn sowohl über einen Gegenstand des ersten Halbsatzes als auch über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Umstand des zweiten Halbsatzes entschieden worden ist. Wenn das der Fall ist und über den ursächlichen Zusammenhang eine Entscheidung erfolgte, dann ist die Berufung nach § 150 Nr 3 SGG zulässig, auch wenn es sich nur um den Ausgleich für eine bereits abgelaufene Zeit handelt, denn diese Vorschrift bestimmt, daß die Berufung ungeachtet des § 148 SGG zulässig ist, wenn der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung streitig ist.
Diese dem Wortlaut folgende Auslegung entspricht auch dem Sinn des § 88 Abs 5 Nr 3 (jetzt Abs 7 Nr 3) SVG. Er beschränkt die verbindliche Wirkung des einen Prozesses auf einen anderen nur für eine engumgrenzte Fallgruppe. Dafür kann die ungewöhnliche Rechtskrafterstreckung auch hingenommen werden, weil jedenfalls der Rechtsmittelzug nicht eingeschränkt ist. Insoweit kann das Anliegen dieser Vorschrift als sinnvoll angesehen werden, weil sie nicht nur divergierende Entscheidungen vermeidet, sondern die unter Umständen umfangreichen Prüfungen über den ursächlichen Zusammenhang für beide Ansprüche auf ein Verfahren begrenzt.
Im vorliegenden Verfahren hat das SG den Anspruch des Klägers abgelehnt, weil es bereits die Voraussetzungen für eine Wehrdienstbeschädigung iSd § 81 SVG verneint hat. Zu der Prüfung eines ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Wehrdienstbeschädigung konnte es deshalb nicht mehr kommen. Damit erstreckt sich die Entscheidung des SG nicht auch auf den Anspruch des Klägers auf Versorgung. Eine Festlegung für irgendeine Voraussetzung des Versorgungsanspruchs des Klägers ist durch dieses Verfahren nicht erfolgt. Auf der anderen Seite hat somit das SG nur über einen Anspruch entschieden, der einen abgelaufenen Zeitraum betraf. Dieser Anspruch ist nicht berufungsfähig (§ 148 Nr 2 SGG). Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG war deshalb als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen