Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung des Bescheides über die Steuerbegünstigung des Bauvorhabens für den Unfallversicherungsschutz
Leitsatz (amtlich)
1. Die Inanspruchnahme eines Bauherrn durch einen nicht bindenden Bescheid der Bau-Berufsgenossenschaft auf Zahlung von Beiträgen wegen der Mithilfe eines Angehörigen des Bauherrn bei der Errichtung eines Wohngebäudes bewirkt kein "formales Versicherungsverhältnis" mit der Folge, daß Beiträge an die Bau-Berufsgenossenschaft selbst dann zu zahlen wären, wenn sich herausstellt, daß der mithelfende Angehörige in der Zeit, für die Beiträge gefordert werden, nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO beitragsfrei bei einer Gemeinde oder einem Gemeindeunfallversicherungsverband gegen Arbeitsunfall versichert war.
2. Zur Bedeutung des Bescheides einer Gemeinde, in dem die Anerkennung einer bereits fertiggestellten und vom Bauherrn bezogenen Wohnung als steuerbegünstigte Familienwohnung ausgesprochen ist, für die Entscheidung über die Beitragspflichtigkeit oder -freiheit der Tätigkeit eines Angehörigen des Bauherrn, der bei dem Bau mitgeholfen hat.
Orientierungssatz
Sowohl die Träger der Unfallversicherung als auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind an den Verwaltungsakt der zuständigen Stelle über die Anerkennung oder Ablehnung der Steuerbegünstigung gebunden. Jedoch wirkt eine nach dem Beginn des Bauvorhabens oder gar erst nach dessen Vollendung ergangene Entscheidung der zuständigen Stelle nur dann von Beginn des Bauvorhabens an, wenn die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen auch damals schon vorgelegen haben (vgl BSG 21.12.1977 2 RU 80/77 = BSGE 45, 258, 260 vom 29.2.1984 2 RU 2/83 = SozR 2200 § 539 Nr 7).
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 15 Fassung: 1963-04-30, § 657 Abs 1 Nr 8 Fassung: 1963-04-30; WobauG 2 § 7; WoBauG 2 §§ 8, 39, 82-83
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.05.1984; Aktenzeichen L 3 U 227/83) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 28.07.1983; Aktenzeichen S 2 U 118/81) |
Tatbestand
Der Kläger begann im Juli 1980 mit Bauarbeiten zur Errichtung und Erweiterung eines Wohngebäudes und einer Garage. Die Rohbau-, Dachdecker-, Zimmermanns-, Klinker- und Malerarbeiten wurden von ihm selbst unter Mithilfe seines Schwiegervaters ausgeführt. Wegen der Tätigkeit des Schwiegervaters forderte die Beklagte vom Kläger Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung für die Monate Juli bis September 1980 in Höhe von 336,00 DM (Bescheid vom 25. Februar 1981). Der Kläger erhob dagegen Widerspruch und trug ua vor, daß keine Sozialwohnung hergestellt werden sollte. Sein Schwiegervater sei in einem reinen Gefälligkeitsverhältnis und keinesfalls in einem Arbeitsverhältnis tätig geworden. Eine Beitragspflicht bestehe nicht. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 1981). Beitragsfreiheit nach § 539 Abs 1 Nr 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe nicht bestanden, da nach der Mitteilung des Klägers in Widerspruch keine "Sozialwohnung" hergestellt worden sei. Der Schwiegervater sei nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO wie ein Beschäftigter bei den nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten des Klägers tätig gewesen. Hierfür seien Beiträge zu entrichten.
Nachdem der Kläger am 2. Juli 1981 beim Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben hatte, beantragte er am 7. Dezember 1981 bei der Stadt U, die von ihm hergestellte und im Mai 1981 bezugsfertig gewordene Wohnung als steuerbegünstigte Familienwohnung anzuerkennen. Die Stadt U gab diesem Antrag mit Bescheid vom 27. September 1982 statt. Das SG hat daraufhin den Bescheid vom 25. Februar 1981 und den Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 1981 aufgehoben (Urteil vom 28. Juli 1983). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen zurückgewiesen (Urteil vom 15. Mai 1984). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Anerkennung der Steuerbegünstigung der Wohnung nach den §§ 82 und 83 II. WoBauG seien schon zur Zeit des Erlasses des Bescheides der Beklagten vom 25. Februar 1981 vorhanden gewesen, denn der Anerkennungsbescheid der Stadt U vom 27. September 1982 erfasse den Sachverhalt für den Um- bzw. Erweiterungsbau des Klägers vom Zeitpunkt des Baubeginns an. Das bedeute, daß im Zeitpunkt der Erteilung des Beitragsbescheides vom 25. Februar 1981 tatsächlich die Voraussetzungen für die Beitragsfreiheit nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO vorgelegen hätten. Ein formales Versicherungsverhältnis zur Beklagten sei nicht zustande gekommen, da deren Beitragsbescheid vom 25. Februar 1981 angefochten und daher nicht bindend geworden sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Sofern ein Antrag auf Anerkennung einer Wohnung als steuerbegünstigte Wohnung noch nicht gestellt oder jedenfalls noch nicht positiv beschieden worden sei, müsse sie den betreffenden Bauherrn auf Zahlung von Beiträgen in Anspruch nehmen. Damit trete eine Formalversicherung in Kraft ohne Rücksicht darauf, ob später die Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung erfolge. Der vorliegende Fall sei dadurch gekennzeichnet, daß der Antrag auf Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung erst nach Abschluß der Bauarbeiten gestellt und noch später beschieden worden sei. Die Gemeindeunfallversicherungsverbände würden eine beitragsfreie Versicherung nach § 539 Abs 1 Nr 15 iVm § 657 Abs 1 Nr 8 und § 770 RVO im Unfallzeitpunkt nicht mehr anerkennen, wenn in diesem Zeitpunkt ein Antrag auf Steuerbegünstigung oder öffentliche Förderung der Wohnung noch nicht gestellt gewesen sei. Spätestens seit dem Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Oktober 1982 (2 BU 117/82) seien die Gemeindeunfallversicherungsverbände dazu übergegangen, die Formalversicherung bei der Beklagten als maßgebend anzusehen.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Mai 1984 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 28. Juli 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf sein schriftsätzliches Vorbringen in den vorangegangenen Instanzen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Beklagte ist zwar der sachlich und örtlich zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Versicherte ua bei nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten, wenn für die geplante Arbeit mehr als sechs Arbeitstage tatsächlich verwendet werden (§ 2 Abs 1, § 3 Abs 3, § 4 der Satzung der Beklagten). Das gilt jedoch nicht in den Fällen des § 657 Abs 1 Nr 8 RVO (§ 3 Abs 3 der Satzung). Diese Vorschrift bestimmt die Gemeinden und Gemeindeunfallversicherungsträger zu Trägern der Unfallversicherung für Personen, die nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO wegen Tätigkeiten bei dem Bau eines Familienheimes im Rahmen der Selbsthilfe gegen Arbeitsunfall versichert sind, sofern durch das Bauvorhaben öffentlich geförderte oder steuerbegünstigte Wohnungen geschaffen werden sollen.
Der Beitragsanspruch der Beklagten für die Monate Juli bis September 1980, den die Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 1981 erhoben hat, ist somit nicht begründet, wenn der bei dem Bauvorhaben des Klägers mithelfende Schwiegervater des Klägers damals nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO gegen Arbeitsunfall versichert war. Das erfordert die Feststellung, daß der Schwiegervater des Klägers in den Monaten Juli bis September 1980 bei dem Bau eines Familienheimes (§§ 7 und 8 II. WoBauG) im Rahmen der Selbsthilfe tätig geworden war und durch dieses Bauvorhaben eine öffentlich geförderte oder steuerbegünstigte Wohnung geschaffen werden sollte (§§ 82 und 83 II. WoBauG). Eine solche Feststellung ist in diesem Streitverfahren nicht deshalb entbehrlich, weil der Kläger im Dezember 1981 bei der Stadt U beantragt hat, die von ihm geschaffene und inzwischen bezugsfertige Wohnung als steuerbegünstigte Wohnung anzuerkennen und die Stadt U diesem Antrag durch Bescheid vom 27. September 1982 entsprochen hat.
Der Senat hat zwar entschieden, daß sowohl die Träger der Unfallversicherung als auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit an den Verwaltungsakt der zuständigen Stelle über die Anerkennung oder Ablehnung der Steuerbegünstigung gebunden sind. Jedoch wirkt eine nach dem Beginn des Bauvorhabens oder gar erst nach dessen Vollendung ergangene Entscheidung der zuständigen Stelle nur dann von Beginn des Bauvorhabens an, wenn die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen auch damals schon vorgelegen haben (BSGE 45, 258, 260; BSG Urteile vom 20. Oktober 1983 -2 RU 53/82 - und vom 29. Februar 1984 -2 RU 2/83-).
Der dem Kläger von der Stadt U erteilte Anerkennungsbescheid vom 27. September 1982 sagt nichts darüber aus, daß das Bauvorhaben des Klägers, an dem sein Schwiegervater in den Monaten Juli bis September 1980 mitgearbeitet hat, schon damals die Voraussetzungen für die Anerkennung als steuerbegünstigte Familienwohnung erfüllt hat. Ob ein Bau, wie ihn der Kläger im Juli 1980 zu errichten begann, als Familienheim anzusehen ist, beurteilt sich, soweit es auf die Größe und den Grundriß ankommt (vgl § 39 II. WoBauG), nach objektiven Gesichtspunkten. Da aber nach § 7 Abs 1 II. WoBauG Familienheime nur solche Eigenheime sind, die abgesehen von der Größe und dem Grundriß (ganz oder teilweise) dazu bestimmt sind, dem Eigentümer und seiner Familie oder einem Angehörigen und dessen Familie als Heim zu dienen, muß, soll der Schwiegervater des Klägers vom Beginn des Bauvorhabens an in den Monaten Juli bis September 1980 nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO beitragsfrei gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sein, auch schon damals die Zweckbestimmung des Baues als Familienheim vorgelegen haben. Diese Zweckbestimmung und nicht die Eigennutzung, die während des Baues ohnehin noch nicht gegeben ist, gehört zu den Voraussetzungen der beitragsfreien Versicherung, die festgestellt sein müssen. Solche Feststellungen hat das LSG hier nicht getroffen.
Da das BSG diese Feststellungen nicht selbst treffen kann, muß die Sache an das LSG zurückverwiesen werden. Sofern sich nach erneuter Verhandlung ergibt, daß der Schwiegervater des Klägers in der Zeit von Juli bis September 1980 bei dem Bau eines Familienheimes im Rahmen der Selbsthilfe tätig und nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO versichert war, ist der Anspruch der Beklagten auf Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung unbegründet. Ein formales Versicherungsverhältnis ist dann nicht zustande gekommen.
Zu Unrecht sieht die Beklagte eine Unvereinbarkeit der in dieser Streitsache zum Ausdruck gekommenen Rechtsprechung des BSG mit einem Urteil des früher für Angelegenheiten der Unfallversicherung zuständig gewesenen 8. Senats des BSG vom 26. Juni 1973 (BSGE 36, 71). Die Beklagte beachtet nicht, daß der 8. Senat einen Fall entschieden hat, in dem im Zeitpunkt des Unfalls, der Verunglückte und seine Ehefrau unangefochten im Unternehmerverzeichnis der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft eingetragen waren und deshalb eine bindende Unternehmerversicherung nach § 539 Abs 1 Nr 5 RVO bestanden hat, obwohl im Zeitpunkt des tödlichen Unfalls des Unternehmers durch einen Arbeitsunfall kein landwirtschaftliches Unternehmen (mehr), sondern allenfalls ein Kleingarten vorhanden war. Die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, die aus Anlaß des Unfalls der Witwe des Verstorbenen vorläufige Leistungen (§ 1735 RVO) erbracht hatte, wurde als der für die Entschädigung endgültig leistungspflichtige Versicherungsträger erachtet. Ähnlich gelegen war der Rechtsstreit, der einer vom Senat entschiedenen Nichtzulassungsbeschwerde vom 19. Oktober 1982 (2 BU 117/82) zugrunde lag. Die bindende Heranziehung zur Beitragszahlung für nicht gewerbsmäßige (längere) Bauarbeiten hat im Falle eines Unfalls eines dabei Tätigen die Leistungspflicht der zuständigen Bau-Berufsgenossenschaft auch dann zur Folge, wenn die Voraussetzungen für die Versicherung bei der Bau-Berufsgenossenschaft tatsächlich nicht vorgelegen haben sollten. Deshalb müsse, so hat der Senat ausgeführt, die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage, ob eine beitragsfreie Versicherung nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO auch vorliegen könne, wenn der Bauherr im Unfallzeitpunkt nicht die Absicht gehabt habe, einen Antrag auf Steuerbegünstigung der zu bauenden Wohnungen zu stellen, im Revisionsverfahren unbeantwortet bleiben.
In Fällen, in denen - wie hier - kein bindender Beitragsbescheid einer Bau-Berufsgenossenschaft vorliegt oder ein bindender Beitragsbescheid auf Betreiben des in Anspruch genommenen Beitragsschuldners durch Aufhebung beseitigt wird (BSG, Urteil vom 29. Februar 1984 aaO), ist ein Beitragsanspruch nicht gegeben, wenn schon zu der Zeit, für die die Beiträge gefordert werden, die in Betracht kommenden Personen nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO gegen Arbeitsunfall beitragsfrei bei einer Gemeinde oder einem Gemeindeunfallversicherungsverband versichert waren.
Zu einer Änderung der Rechtsprechung sieht der Senat keinen Anlaß.
Bei erneuter Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen