Leitsatz (redaktionell)
Bedeutung des AVG § 26:
Diese Vorschrift führt für die Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1945-04-01 und dem 1956-12-31, für die er nach AnVNG Art 2 § 8 gilt, nicht die Ersatzzeiten des AVG § 28 ein. AVG § 26 erfüllt für das neue Recht die Aufgaben der früheren Anwartschaftsvorschriften.
Normenkette
AVG § 26 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 8 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. September 1957 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Oberversicherungsamts N... vom 4. November 1953 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin (geboren 1906) ist Heimatvertriebene aus dem Sudetenland. Sie begehrt die Gewährung einer Rente (Ruhegeld) wegen Berufsunfähigkeit. Seit dem Jahre 1940 hat sie Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten geleistet; nachgewiesen sind nach den Feststellungen des Landessozialgerichts 59 Beitragsmonate. Seit 1949 ist die Klägerin berufsunfähig.
Die Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken in B..., die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung mit wahrnahm, lehnte den Rentenantrag ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 11.8.1952). Die Berufung gegen diesen Bescheid wies das Oberversicherungsamt N... zurück (Urteil vom 4.11.1953). Die Revision der Klägerin gegen dieses Urteil ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht über. In das Verfahren vor diesem Gericht trat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA.) als neue Beklagte ein. In der mündlichen Verhandlung beschränkte die Klägerin ihren Berufungsantrag auf die Rentengewährung für die Zeit vom 1. Januar 1957 an, nachdem ihr die Beklagte einen neuen Bescheid über ihren Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 1956 in Aussicht gestellt hatte. Das Landessozialgericht hob das Urteil des Oberversicherungsamts und den Bescheid der Landesversicherungsanstalt auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 1. Januar 1957 an die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren: Auf den Rentenanspruch der Klägerin seien über Art. 2 §§ 43 und 8 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) die Vorschriften in den §§ 26 bis 28 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) n.F. anzuwenden. Zu den nachgewiesenen 59 Beitragsmonaten seien noch 17 Kalendermonate der Vertreibungszeit als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 AVG n.F. hinzuzurechnen, so daß die Wartezeit erfüllt und der Rentenanspruch vom 1. Januar 1957 an gegeben sei (Urteil vom 20.9.1957).
Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 23. November 1957 zugestellte Urteil am 16. Dezember 1957 Revision ein mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie begründete die Revision am 21. Dezember 1957: § 28 AVG sei auf Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 nicht anzuwenden; dies ergebe sich zwingend aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschriften sowie aus den Gesetzesmaterialien.
Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision. Nach ihrer Auffassung wird in Art. 2 § 8 AnVNG auf den ganzen Gesetzeskomplex der §§ 26 bis 28 AVG verwiesen. Sie findet ihre Auffassung auch in der Neuregelung des Knappschaftsversicherungsrechts bestätigt.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Streitig ist, ob die Klägerin die Rente aus der Angestelltenversicherung vom 1. Januar 1957 an beanspruchen kann. Weil die Wartezeit mit den von ihr nachgewiesenen Beiträgen nicht erfüllt ist, die übrigen Voraussetzungen jedoch gegeben sind, hängt die Entscheidung über den Rentenanspruch nur davon ab, ob ihr Ersatzzeiten nach § 28 AVG n.F. für die Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden können. Das Landessozialgericht hat zwar mit Recht angenommen, daß Art. 2 § 8 AnVNG im vorliegenden Falle anzuwenden ist, weil es sich um eine schwebendes Verfahren im Sinne von Art. 2 § 43 AnVNG handelt und weil der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 31. März 1945 eingetreten ist. Nicht richtig ist jedoch die weitere Annahme des Landessozialgerichts, wegen der in Art. 2 § 8 angeordneten Geltung des § 26 AVG müsse auch § 28 AVG angewandt werden.
Wie der Senat entschieden hat (SozR. § 1251 RVO n.F. Bl. Aa 1 Nr. 1), führt § 26 AVG für die Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956, für die er nach Art. 2 § 8 AnVNG gilt, nicht die Ersatzzeiten des § 28 AVG n.F. ein. Zwar scheint auf den ersten Blick der Wortlaut des § 26 AVG - auf den Art. 2 § 8 AnVNG hinweist - für die gegenteilige Auffassung zu sprechen; in dieser Vorschrift wird zur Erläuterung des Begriffs "Versicherungszeiten" durch einen Klammerzusatz auf § 27 AVG und hier wiederum für die Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) auf § 28 AVG verwiesen. Prüft man jedoch genauer, welche Bedeutung § 26 AVG für neue Versicherungsfälle und welche Bedeutung Art. 2 § 8 AnVNG für die von ihm erfaßten alten Versicherungsfälle hat, so zeigt sich, daß die Auffassung des Landessozialgerichts nicht richtig sein kann. § 26 AVG erfüllt für das neue Recht die Aufgaben der früheren Anwartschaftsvorschriften. Er bringt gegenüber dem bisherigen Recht eine Verbesserung insofern, als Versicherungszeiten seit dem 1. Januar 1924 nicht mehr verfallen können und eine Verschlechterung insofern, als Versicherungszeiten vor dem 1. Januar 1924 nicht mehr durch Halbdeckung, sondern nur noch bei Entrichtung mindestens eines Versicherungsbeitrages in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 anrechenbar bleiben. Art. 2 § 8 AnVNG übernimmt in seinem Satz 1 diese Anwartschaftsregelung für Versicherungsfälle zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956. In seinem Satz 3 gleicht er aber die Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht insofern wieder aus, als er - im Sinne einer Besitzstandswahrung - Beitragszeiten vor dem 1. Januar 1924 auch durch Halbdeckung anrechenbar bleiben läßt.
Legt man nun Art. 2 § 8 Satz 1 AnVNG dahin aus, daß § 28 AVG - über die §§ 26 und 27 AVG - auch auf Rentenansprüche aus Versicherungsfällen anzuwenden ist, die in der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind, so ergeben sich, wie der Senat in seinem früheren Urteil näher ausgeführt hat, verwickelte und widerspruchsvolle Folgen. Sie werden vermieden, wenn man den Hinweis auf § 26 AVG in Art. 2 § 8 AnVNG nur als Hinweis auf die Bedeutung jener Vorschrift als Anwartschaftsregelung versteht. Diese Auslegung, die auch mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 8 AnVNG zu vereinbaren ist (vgl. Bundestagsdrucks. Nr. 3080 S. 22), hat der Senat für richtig erachtet; Art. 2 § 8 AnVNG weist zwar auf die Anwartschaftsregelung des § 26 AVG hin, nicht aber gleichzeitig - auf dem Weg über § 27 AVG - auf die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG. Diese Ersatzzeitenregelung gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des AnVNG (1.1.1957) eingetreten sind, nicht auch für Versicherungsfälle aus der Zeit zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956. In letzter Hinsicht verbleibt es vielmehr bei dem allgemeinen Grundsatz des Art. 2 § 6 AnVNG, wonach altes Recht für alte Versicherungsfälle gilt. An dieser Auffassung hält der Senat nach erneuter Prüfung der Rechtslage auch im vorliegenden Falle fest.
Zu der gegenteiligen Auffassung zwingt auch nicht die Regelung, die das Recht der Ersatzzeiten bei der Neuordnung des Rechts der knappschaftlichen Rentenversicherung durch das Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetz (KnVNG) vom 21. Mai 1957 (BGBl. I S. 533) gefunden hat. Die dem § 28 Abs. 1 AVG entsprechende Vorschrift findet sich hier in § 51 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), die Geltung dieser Vorschrift wird durch Art. 2 § 7 KnVNG auf alle Versicherungsfälle ausgedehnt, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind. Diese vom AnVNG abweichende Regelung hängt damit zusammen, daß eine dem Art. 2 § 6 dieses Gesetzes entsprechende Vorschrift im KnVNG fehlt und daß die Knappschaften die sogenannten Altrenten nicht pauschal an Hand einer Tabelle umstellen, sondern im einzelnen nach der neuen Rentenformel des Art. 1 § 54 KnVNG berechnen. Bei dieser Art des Vorgehens wäre es aber nicht sinnvoll, Unterschiede bei der Berücksichtigung von Ersatzzeiten je nach dem Zeitpunkt zu machen, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Wenn das KnVNG daher bestimmt, daß die neuen Ersatzzeiten für alle, also auch für die vor dem 1. April 1945 eingetretenen Versicherungsfälle gelten sollen, so handelt es sich insoweit um eine Sonderregelung für das Recht der knappschaftlichen Versicherung, aus der für die Rentenversicherung der Angestellten keine Schlüsse gezogen werden dürfen.
Weil die Klägerin seit dem Jahre 1949 berufsunfähig ist, können ihr die Zeiten der Vertreibung, die erstmals in den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen zu Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit erklärt worden sind, nicht angerechnet werden. Mit den von ihr nachgewiesenen 59 Beiträgen allein ist aber die Wartezeit (§ 23 Abs. 3 AVG) nicht erfüllt. Die Revision der Beklagten erweist sich als begründet; das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des Oberversicherungsamts Nürnberg zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen