Entscheidungsstichwort (Thema)

Medizinische Kausalität. Neurose

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Unter SGG § 162 Abs 1 Nr 3 fallen nur Angriffe gegen die Kausalität im Rechtssinn.

2. Angriffe gegen den Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlichphilosophischen Sinne sind Angriffe gegen die tatsächlichen Feststellungen, die unter SGG § 162 Abs 1 Nr 2 fallen.

3. Bei der Frage, ob eine Neurose überhaupt eine Unfallfolge sein kann, handelt es sich um eine Frage der medizinischen Kausalität, also um eine Frage des Ursachenzusammenhanges im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 17. Januar 1958 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1900 geborene Kläger, der den Beruf des Möbeltischlers erlernt hat, war vom September 1945 bis zum Oktober 1947 im sächsischen Steinkohlenbergbau beschäftigt. Seit März 1949 befindet er sich im Gebiet der Bundesrepublik; vom 1. Mai 1949 ab erhält er von der Ruhrknappschaft die Knappschaftsvollrente (Gesamtleistung). Während seiner Bergarbeit erlitt er am 13. Juli 1946 durch vorzeitiges Einschalten einer Schüttelrutsche eine Rückenverletzung und am 24. Oktober 1946 durch Herabfallen eines Bergebrockens beim Bergeversetzen einen Bruch der linken Großzehe; die Gewährung einer Rente für die Folgen dieser Unfälle lehnte die Sozialversicherungsanstalt Sachsen durch Bescheid vom 16. November 1948 ab, weil die Veränderungen an der Muskulatur bzw. im zentralen Nervensystem auf inneren Ursachen beruhten und mit den Unfällen nicht im inneren Zusammenhang ständen.

Der Kläger gibt an, bereits im Dezember 1945 eine Kopfverletzung durch Einbruch des Hangenden erlitten zu haben; aus den sowjetzonalen Unterlagen ergibt sich jedoch kein Anhalt für diesen Unfall.

Im März 1950 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Unfallrente wegen der drei Unfälle.

Die von der Beklagten gehörten Ärzte der Krankenanstalten "B" in B Prof. Dr. B und Dr. B von der Chirurgischen Klinik dieser Krankenanstalten stellten bezüglich des Unfalls vom 24. Oktober 1946 fest, daß der leichte Bruch der linken Großzehe in ausreichender Stellung knöchern fest verheilt sei und nur eine geringe Beugebehinderung dieser Zehe im Grundgelenk sowie glaubhafte Beschwerden vorhanden seien, die eine MdE. von weniger als 10 % bedingten. Oberarzt Dr. J und Dr. B von derselben Klinik stellten am 12. September 1951 hinsichtlich des Unfalls vom 13. Juli 1946 fest, daß ein abgeheilter leichter Stauchungsbruch des 12. Brustwirbels vorliege, der eine geringe Klopfschmerzempfindlichkeit und glaubhafte Beschwerden hinterlassen habe, die die Erwerbsfähigkeit aber um weniger als 10 % verminderten.

Prof. Dr. R und Dr. B von der Neurologischen Klinik der Krankenanstalten "B" schließlich kamen nach stationärer Beobachtung des Klägers am 12. September 1951 neurologisch zu dem Ergebnis, es handele sich weder um eine periphere Nervenschädigung noch um ein degeneratives Muskelleiden noch um eine zentral-nervöse Erkrankung, sondern um eine Abmagerung der Muskulatur infolge jahrelangen Minder- oder Nichtgebrauchs, der auf die abnorme Vorstellung des Klägers zurückzuführen sei, infolge der Unfälle nicht mehr arbeiten zu können. Keiner der Unfälle habe einen auf neurologischem Gebiet liegenden Dauerschaden zurückgelassen.

Demgegenüber nahm der behandelnde Arzt des Klägers Dr. B unter Bezugnahme auf den Entlassungsbericht von Prof. Dr. G vom Evangelischen Krankenhaus in O an, beim Kläger liege eine Querschnittslähmung vor, die wahrscheinlich auf den Wirbelbruch zurückzuführen sei. Prof. Dr. H, Bad Godesberg, schließlich, dessen Gutachten vom 17. Oktober 1953 der Kläger noch beibrachte, stimmte medizinisch mit dem Gutachten von Prof. Dr. R und Dr. B überein, wollte jedoch in rechtlicher Hinsicht die Neurose des Klägers in Anlehnung an die Zivilrechtsprechung möglicherweise für entschädigungspflichtig halten.

Durch Bescheid vom 29. Mai 1954 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil die Unfälle eine Erwerbsminderung von weniger als 20 % hinterlassen hätten und der Muskelschaden auf einer neurotischen Entwicklung beruhe.

Das Sozialgericht (SG) Hannover hörte noch Prof. Dr. M in Münster, der in seinem Gutachten vom 9. Februar 1956 die hochgradige Muskelabmagerung aller Extremitäten des Klägers allein auf deren langen Nichtgebrauch, nicht aber auf eine organische Erkrankung zurückführte; auf die ausdrückliche Behauptung des Klägers, bei ihm liege ein Ausnahmefall vor, der nach der Entscheidung des RVA in AN 1926 S. 480 mit den Unfällen im Zusammenhang stehen könne und mit ihnen auch im Zusammenhang stehe, hat das SG hierzu und zu dem Gutachten des Prof. Dr. M in der mündlichen Verhandlung durch den Internisten Dr. H noch ein Aktengutachten eingeholt, das ebenfalls zu dem Ergebnis kam, daß die Lähmungserscheinungen psychogen bedingt seien und daß die neurotische Einstellung des Klägers keine Unfallfolge sei.

Darauf wies das SG Hannover durch Urteil vom 16. Januar 1957 die Klage ab.

Auf die Berufung des Klägers holte das Landessozialgericht (LSG) in Celle von dem Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. B in Celle noch ein Aktengutachten darüber ein, ob der Sachverhalt medizinisch ausreichend geklärt sei, welche gesundheitlichen Schäden die drei Unfälle bewirkt hätten und in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch diese Unfälle gemindert sei, ob die das angefochtene Urteil tragenden ärztlichen Gutachten in ihrer Befunderhebung einwandfrei und lückenlos und hinsichtlich der Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwischen Leiden und Unfällen in ihrer Gesamtheit schlüssig seien. In seinem Gutachten vom 22. November 1957 kommt Dr. B zu dem Ergebnis, daß die Leiden des Klägers niemals die Folge einer Hirnschädigung sein, insbesondere also nicht auf den Unfall vom Dezember 1945 zurückgeführt werden könnten; ebenfalls sei es medizinisch ausgeschlossen, anzunehmen, daß die Leiden auf die beim zweiten Unfall erlittene Rückenverletzung zurückzuführen seien; das Rückenmark ende am zweiten Lendenwirbel; werde eine höher liegende Partie der Wirbelsäule verletzt, also wie hier der 12. Brustwirbel, dann müßten spastische Lähmungserscheinungen in den Beinen auftreten; solche seien aber nicht beschrieben worden, sondern nur Muskelabmagerungen; eine Schädigung der untersten Rückenmarkwurzel könne ebenfalls nicht vorliegen, weil die Sehnenreflexe in den Beinen auslösbar seien; die Muskelverschwächungen in den Armen könnten mit einem Bruch des 12. Brustwirbels nicht in Zusammenhang stehen; es stehe also fest, daß keine Rückenmarksverletzung gegeben sei und die Leiden des Klägers in keinem Zusammenhang mit den Unfällen stünden. Die Leiden seien auf eine psychische Abartigkeit zurückzuführen, wobei es dahingestellt sein könne, ob es sich um eine Neurose oder um eine Pseudodemenz handele, denn auf keinen Fall sei diese Abartigkeit eine direkte Folge eines der erlittenen Unfälle, die ihrer Art nach nicht geeignet seien, solche Störungen hervorzurufen; der dritte Unfall sei neurologisch ohne Bedeutung. Die an ihn gerichteten Fragen beantwortete der Gutachter wie folgt: Der Sachverhalt sei medizinisch ausreichend geklärt; die MdE. aus den drei Unfällen betrage 10 %; die Vorgutachten seien in der Befunderhebung einwandfrei und lückenlos; hinsichtlich der Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwischen den Leiden des Klägers und den erlittenen Unfällen seien sie in ihrer Gesamtheit schlüssig.

Durch Urteil vom 17. Januar 1958 wies das LSG Celle darauf die Berufung des Klägers zurück.

Zur Begründung hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Ein Anspruch auf Unfallrente bestehe nur dann, wenn aus den Arbeitsunfällen Verletzungsfolgen zurückgeblieben seien, durch die die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 % gemindert werde. Dies sei beim Kläger nicht der Fall. Nach den auf Grund eingehender klinischer Untersuchung erstatteten Gutachten der für Unfallschäden besonders erfahrenen ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. B und Prof. Dr. R seien an den inneren Organen des Klägers keine nennenswerten Unfallfolgen zurückgeblieben. Ebenfalls stehe nach den Gutachten der Professoren Dr. R, Dr. M und Dr. H sowie nach dem Gutachten des Dr. B zur Überzeugung des Gerichts fest, daß die Muskelabmagerungen des Klägers nicht organisch, sondern psychogen bedingt seien. Mit Dr. B sei der Senat der (schon von Zwickauer Sachverständigen vertretenen) Auffassung, daß die Kopfverletzung vom Dezember 1945, sofern sie überhaupt stattgefunden habe, nur unbedeutend gewesen sei. Auch die Rückenverletzung habe weder zu einer Beschädigung des Rückenmarks noch des Gehirns geführt, so daß die Muskelabmagerungen zweifelsfrei in keinem Zusammenhang mit den Verletzungen stünden. - Die Leiden des Klägers hätten ihre Ursache in einer psychischen Abartigkeit im Sinne abnormer Erlebnisreaktionen, seien also als Neurose zu bezeichnen. Diese könne nicht als entschädigungspflichtige Unfallfolge angesehen werden. Nach herrschender medizinischer Meinung gebe es eine traumatische Neurose nicht; und Neurosen auf Grund von Begehrensvorstellungen seien nach allgemeiner Rechtsmeinung nicht zu entschädigen, wie das RVA in seiner Entscheidung vom 24. September 1926 ausgesprochen habe. Dieser Meinung habe sich der Bundesgerichtshof angeschlossen.

Revision wurde nicht zugelassen.

Gegen das am 3. März 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. April 1958 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist am 2. Juni 1958 begründet.

Der Kläger rügt "die Verletzung des § 162 Abs. 1 Ziff. 3 SGG". Er macht geltend, das LSG habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs übersehen, daß nach der Entscheidung des RVA vom 24. Mai 1926 in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Unfallneurose als Unfallfolge anzusprechen sei. Hierüber habe das LSG nicht entschieden, obwohl der Kläger das Bestehen eines solchen Ausnahmefalles behauptet habe und das LSG zur dementsprechenden Sachaufklärung verpflichtet gewesen sei. Wenn das LSG meine, die Erwerbsunfähigkeit des Klägers beruhe allein auf seiner Vorstellung, besonders schwer geschädigt zu sein, dann hätte es versuchen müssen, festzustellen, wann der Kläger begonnen habe, sich in diese Vorstellung hineinzuleben und ob nicht vorher schon dieselben äußeren Krankheitserscheinungen bemerkbar gewesen seien. Diese Fragestellung hätte sich dem LSG aufdrängen müssen, weil der Kläger erst am 25. März 1950 den Rentenantrag bei der Beklagten gestellt habe, obwohl er schon im März 1949 in die Bundesrepublik übergesiedelt sei und den Antrag an sich ein Jahr früher hätte stellen können; nach allgemeiner Lebenserfahrung stelle ein Rentenneurotiker seinen Antrag so schnell wie möglich. Somit bestünden Zweifel, ob die Erwerbsunfähigkeit tatsächlich nur auf einer Neurose beruhe. Diese Zweifel hätte das LSG ausräumen müssen. Dabei wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis gekommen, daß die vom Gericht angenommene Rentenneurose zumindest nicht überwiegend für die Erwerbsunfähigkeit ursächlich ist. Es stehe nämlich fest, daß die äußeren Krankheitserscheinungen schon zu dem Zeitpunkt vorhanden waren, als der Kläger sich noch nicht in die vom LSG angenommene Begehrensvorstellung hineingelebt hatte. Treffe dies aber zu, dann hätte das LSG von einem besonders gelagerten Fall einer Unfallneurose ausgehen müssen.

In einem weiteren Schriftsatz vom 11. Juli 1958, beim Bundessozialgericht (BSG) am darauffolgenden Tage eingegangen, macht der Kläger geltend, das angefochtene Urteil stütze sich darauf, daß die Beschwerden des Klägers ihre Ursache in dessen psychischer Abartigkeit im Sinne einer abnormalen Erlebnisreaktion hätten. Hierfür habe das LSG keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Der Kläger habe zum Beweis dafür, daß er ein ganz normal empfindender Mensch sei, bei dem LSG schon die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens und seine persönliche Anhörung durch das Gericht beantragt. Beiden Anträgen sei nicht stattgegeben worden. Damit habe das LSG die Aufklärungspflicht verletzt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 1. April 1960 an eine Unfallrente in Höhe der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt demgegenüber,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Sie führt im wesentlichen aus:

Die Rügen des Klägers im Schriftsatz vom 11. Juli 1958 müßten als erst nach Ablauf der verlängerten Revisionsbegründungsfrist erhoben außer Betracht bleiben. Die in der Revisionsbegründungsschrift erhobenen Rügen, unter dem Gesichtspunkt eines wesentlichen Verfahrensmangels betrachtet, machten die Revision nicht statthaft. Vom maßgeblichen sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG aus habe keine Veranlassung zu weiteren Beweiserhebungen bestanden. Das LSG sei nämlich davon ausgegangen, daß es nach herrschender medizinischer Ansicht eine traumatische Neurose nicht gebe. Dieser Standpunkt könnte, theoretisch gesehen, unrichtig sein und im Rahmen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nachgeprüft werden. Tatsächlich sei er aber richtig, wie sich aus RVA AN 1926 S. 480 ergebe, einer auch heute noch gültigen Entscheidung. Die zahlreichen über den Kläger erstatteten medizinischen Gutachten hätten dem LSG nicht im entferntesten die Möglichkeit geboten, eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unmöglichkeit traumatischer Neurosen anzunehmen. Deshalb könne es keine Rolle spielen, wann der Kläger in der Bundesrepublik seinen Rentenantrag gestellt habe. Wichtig sei, daß das rentenneurotische Verhalten schon vor der Stellung des Rentenantrags vorgelegen habe. Das ergebe sich aus dem Gutachten des Prof. Dr. R und den darin verwerteten eigenen Angaben des Klägers. Nach dem Wortlaut der Revisionsbegründungsschrift sei die Revision nicht statthaft.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; da sie vom LSG nicht zugelassen ist, könnte sie nur statthaft sein, wenn das Verfahren des LSG an einem innerhalb der Revisionsbegründungsfrist schlüssig gerügten wesentlichen Mangel litte (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 164 SGG) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörung des Klägers mit den Arbeitsunfällen das Gesetz verletzt wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

Gerügt wird in der Revisionsbegründungsschrift zunächst, das LSG habe bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs übersehen, daß nach der Entscheidung des RVA vom 24.5.1926 (gemeint ist die Entscheidung vom 24.9.1926 in AN 1926 S. 480) in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Neurose als Unfallfolge anzusehen sei, und ferner, das LSG habe über das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles trotz entsprechenden Hinweises des Klägers keine Entscheidung getroffen. Für die Statthaftigkeit der Revision aus § 163 Abs. 1 Nr. 3 SGG genügt jedoch nicht die bloße Behauptung einer Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs, selbst wenn sie substantiiert aufgestellt ist, vielmehr muß die behauptete Gesetzesverletzung auch wirklich vorliegen (vgl. BSG 1, 150 ff. und 254). Verletzt sein muß jedoch die für das Gebiet der Unfallversicherung und Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm (vgl. BSG 1, 268; SozR § 162 SGG Da 23 Nr. 87). Mit der zuletzt angeführten Entscheidung ist anzunehmen, daß "Gesetz" im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG diejenige Rechtsnorm ist, die bestimmt, "wann zwei Tatsachen rechtlich zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen". Rechtsnorm in diesem Sinne ist also der Rechtssatz, der bestimmt, wann ein schädigendes Ereignis einem bestimmten Haftungsbereich zuzurechnen ist. Nicht gleichzusetzen ist der Kausalität im Rechtssinne der ursächliche Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne. Letzterer ist immer zuerst zu prüfen. Nur wenn er gegeben ist, kann die Kausalität im Rechtssinne geprüft werden. Die Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne ist Tatsachenfeststellung, die der Nachprüfung des Revisionsgerichts, außer in den Fällen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, entzogen ist. Demgemäß sind Angriffe gegen den Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne Angriffe gegen die tatsächlichen Feststellungen, die nicht unter § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG fallen, sondern unter die Nr. 2. Unter Nr. 3 fallen also nur Angriffe gegen die Kausalität im Rechtssinn, die im Sozialrecht nach ständiger Rechtsprechung dahin aufgefaßt wird, daß Ursachen nicht alle Bedingungen des Erfolgs sind, sondern unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur diejenigen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl. BSG 1, 72 (76), 150 (157), 268 (270)). Es kommt also darauf an, ob die Revision sich dagegen wendet, wie das LSG die Beurteilung zweier Tatsachen zueinander im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vorgenommen hat, also ob sie sich gegen die Feststellung medizinischer Tatsachen (BSG in SozR § 162 SGG Da 23 Nr. 87) wendet oder aber gegen die Unterordnung der Beziehungen von Tatsachen zueinander unter die Vorschriften des materiellen Rechts. Nur im letzteren Falle könnte eine Verletzung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG in Frage kommen.

In seiner Entscheidung vom 24. September 1926 (AN 1926 S. 480), auf die der Kläger sich besonders beruft, hatte das RVA ausgeführt, auch wenn nur die Vorstellung, arbeitsunfähig zu sein, eine Arbeitsausübung unmöglich mache, könne eine Beschränkung der Erwerbsfähigkeit im rechtlichen Sinne dann angenommen werden, wenn es dem Versicherten nicht hinreichend bewußt sei, daß seine Krankheitsdarstellung nur in seinen Vorstellungen ihren Grund hat. Auch hier liege der Grund für die äußere Erscheinung im Willen, aber nicht im bewußten Willen; die Arbeitsfähigkeit sei gehemmt; diese Hemmung sei der echten Arbeitsunfähigkeit gleichzustellen. Im Einzelfall sei die Feststellung bewußter und unbewußter Willensbetätigung schwer; zum Wohle des Versicherten müßte dabei größte Vorsicht walten. Soweit aber über Entschädigungsansprüche aus der Unfallversicherung zu entscheiden sei, werde man diese Frage im allgemeinen dahingestellt sein lassen können; denn Voraussetzung einer Entschädigung sei nicht nur das Vorliegen des Schadens (MdE), sondern der Schaden müsse auch durch die Körperverletzung entstanden sein (§ 555 RVO). Für diese rechtliche Kausalität gelte die Theorie der wesentlichen Verursachung. Ein solcher Kausalzusammenhang sei aber in den Fällen der oben beschriebenen Neurose nicht gegeben, weil die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit lediglich auf Vorstellungen und Wünschen des Versicherten beruhe, nicht aber auf medizinisch-biologischen Einwirkungen des Unfalls auf seinen körperlichen oder seelischen Zustand.

Das RVA hat in dieser Entscheidung nur ganz nebenbei angedeutet, daß es nach einer vereinzelten medizinischen Auffassung möglicherweise Grenzfälle geben könne, in denen eine Neurose als Unfallfolge angesehen werden könne.

Aus dem Zusammenhang der gesamten Entscheidung ergibt sich aber, daß es sich bei der Frage, ob eine Neurose überhaupt eine Unfallfolge sein kann, um eine Frage der medizinischen Kausalität handelt, also eine Frage des Ursachenzusammenhangs im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne. Mit dem Hinweis auf die unterlassene Prüfung des Vorliegens eines Ausnahmefalles "im Sinne" jener Entscheidung rügt der Kläger somit nicht eine fehlsame Anwendung der für das Unfallrecht geltenden Kausalitätsnorm, sondern die Entscheidung über die naturwissenschaftlich-philosophische Kausalität, d.h. allein die tatsächlichen Feststellungen des LSG. Demgemäß ist die Revision aus § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht statthaft.

Soweit der Kläger rügen will, das LSG habe es unterlassen, das Vorliegen eines "Ausnahmefalles" hinreichend aufzuklären, hätte er nach § 164 Abs. 2 SGG (vgl. SozR § 103 SGG Bl. Da 5 Nr. 14) angeben müssen, in welcher Richtung sich die als unterlassen beanstandeten Ermittlungen im einzelnen hätten bewegen müssen, auf welchem Wege das Gericht die erstrebte weitere Aufklärung hätte versuchen, insbesondere welche Beweismittel es hätte benutzen müssen (BGHSt. 2, 168). Der Kläger hätte z.B. Zeugen angeben müssen, die darüber Auskunft geben können, daß er gerade durch die drei Unfälle in besonders schwerer Weise seelisch mitgenommen worden ist; er hätte Tatsachen angeben müssen, aus denen sich eine solche Behauptung schlüssig rechtfertigt; oder er hätte angeben müssen, daß und wann er gerade im Anschluß an die einzelnen Unfälle besonders lange krank gewesen wäre usw. Das ist nicht geschehen. Es kann auch wegen des Ablaufs der Revisionsbegründungsfrist nicht mehr nachgeholt werden.

Die Rüge bezüglich des Ausnahmefalles entspricht somit nicht den Formerfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG.

Der Kläger rügt schließlich, das LSG habe eine unfallunabhängige Neurose angenommen, ohne die Feststellung zu versuchen, wann er begonnen habe, "sich in diese Vorstellungen hineinzuleben", und ob nicht etwa vorher bereits dieselben äußeren Krankheitserscheinungen bemerkbar gewesen seien. Der Kläger meint, diese Fragestellung hätte sich dem LSG aufdrängen müssen, weil nach der Lebenserfahrung Rentenneurotiker ihren Rentenantrag so schnell wie möglich stellen, der Kläger ihn aber erst am 25. März 1950 gestellt habe, obwohl er schon im März 1949 ins Bundesgebiet gekommen sei. Hätte das LSG Ermittlungen in der genannten Richtung angestellt, dann wäre es nach den Behauptungen des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis gekommen, daß die von ihm angenommene Rentenneurose zumindest nicht überwiegend für die Erwerbsunfähigkeit des Klägers ursächlich ist, denn die äußeren Krankheitserscheinungen seien schon vor den vom LSG angenommenen Begehrensvorstellungen vorhanden gewesen. Auch diese Rüge entspricht nicht den Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 SGG.

Die sachlich-rechtliche Auffassung des LSG, von der nach ständiger Rechtsprechung bei der Beurteilung eines Aufklärungsmangels auszugehen ist (vgl. BSG in SozR. § 103 SGG Bl. Da 2 Nr. 7, § 162 SGG Bl. Da 3 Nr. 20), geht nicht etwa nur dahin, daß es eine traumatische Neurose nicht gibt. Ausgegangen ist das LSG vielmals davon, daß eine MdE überhaupt erst dann als entschädigungspflichtig geprüft werden kann, wenn diese MdE im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne durch den Unfall verursacht worden ist. Nach seiner Rechtsauffassung hatte das LSG also zu prüfen, ob die Leiden des Klägers im medizinischen Sinne durch die drei Unfälle verursacht worden sind. Zur Aufklärung in dieser Hinsicht hat es, nachdem schon zahlreiche Gutachten anerkannter Fachgelehrter vorlagen, Gutachten, die zum Teil vom SG eingeholt und somit echte Beweismittel im Sinne des Gesetzes waren, zusätzlich noch von dem Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. B ein Aktengutachten eingeholt, das sich besonders deutlich über die Frage der medizinischen Kausalität zwischen den Unfällen des Klägers und seinen Leiden und über die erstatteten Vorgutachten ausspricht. Nachdem dieses Aktengutachten insoweit wie alle anderen Vorgutachten eindeutig zu dem Ergebnis gekommen war, daß die Leiden des Klägers medizinisch nicht durch die Unfälle verursacht worden sind, sondern durch eine seelische Fehlhaltung, die von den Unfällen unabhängig ist, war das LSG zu weiteren Ermittlungen irgendwelcher Art bezüglich der medizinischen Kausalität in keiner Weise mehr gedrängt. Insbesondere brauchte es, da alle ärztlichen Gutachter übereinstimmend die medizinische Kausalität verneint hatten, nicht aufzuklären, wann nun eigentlich die Begehrensvorstellungen des Klägers begonnen haben, weil auf Grund der sorgfältig erhobenen klinischen Befunde für das LSG feststand und auch ohne Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung feststehen durfte, daß die drei Unfälle medizinisch nicht kausal für die jetzigen Krankheitserscheinungen des Klägers sind. Demgemäß liegt, wenn man die dahingehende Rüge des Klägers für statthaft hält, eine Verletzung der Aufklärungspflicht nicht vor. Die im Schriftsatz vom 11. Juli 1958 erhobenen weiteren Rügen des Klägers konnten schon deshalb keine Berücksichtigung finden, weil sie erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erhoben worden sind.

Da somit die vom LSG nicht zugelassene Revision des Klägers nicht statthaft ist, war die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG in Celle vom 17. Januar 1958 als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325771

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