Leitsatz (redaktionell)
Auf dem Gebiete der gesetzlichen Unfallversicherung ist bei Leistungsansprüchen gegen die Versicherungsträger von dem Verursachungsbegriff der wesentlich mitwirkenden Teilursache auszugehen; die für den Schadensersatzanspruch des bürgerlichen Rechts ausgebildete Lehre von der adäquaten Verursachung findet keine Anwendung.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. September 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger war am 6. Oktober 1950 damit beschäftigt, zusammen mit zwei Arbeitskollegen eine etwa 1400 kg schwere Maschine durch Anheben mittels Brechstangen in die für den Transport ... erforderliche Richtung zu versetzen. Seine Brechstange rutschte aus (wobei sie ihn nach späteren Bekundungen in die linke Seite stieß), und er verspürte einen starken Schmerz im Kreuz. Der Kläger wurde sofort zu dem praktischen Arzt Dr. V... gebracht, der reflektorische Bewegungsunfähigkeit feststellte und eine schwere Muskel- und Sehnenzerrung vermutete und Verdacht auf Querfortsatzabriß äußerte. Der Facharzt Dr. P... stellte dagegen die Diagnose auf traumatisch entstandenen Bandscheibenprolaps. Prof. Dr. R... beurteilte die beim Kläger vorliegende Gesundheitsstörung als Bandscheibendegeneration, die als Hexenschuß bei dem Arbeitsvorgang aufgetreten, durch diesen aber nicht im Sinne eines Unfalls verursacht worden sei. Nachdem die Beklagte noch eine Vernehmung des Klägers und seiner beiden an dem Arbeitsvorgang beteiligten Kollegen durch das Versicherungsamt veranlaßt hatte, lehnte sie die Gewährung von Entschädigungsleistungen durch Bescheid vom 9. August 1951 ab. Die Berufung des Klägers zum Oberversicherungsamt Düsseldorf blieb erfolglos. Der Kläger focht dessen Urteil durch Klage beim Landesverwaltungsgericht Düsseldorf an. Nachdem dieses das beantragte Armenrecht verweigert hatte, wandte sich der Kläger mit der Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht (OVG.) Münster. Das OVG. ließ zur Prüfung der Frage, ob zwischen dem Vorfall vom 6. Oktober 1950 und dem Leiden des Klägers ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, ein Obergutachten durch Prof. Dr. B... erstatten. Dieser holte zur Erläuterung des fraglichen Arbeitsvorgangs eine schriftliche Auskunft der Arbeitgeberfirma des Klägers ein. In seinem Gutachten verneinte er die Zusammenhangsfrage: Das Wirbelsäulenleiden des Klägers sei weder als Unfallfolge noch als Berufskrankheit (BK.) anzusehen. Die bereits vor dem 6. Oktober 1950 erkrankte Bandscheibe hätte bei irgendeiner alltäglichen, mit tiefem Bücken verbundenen Gelegenheit, etwa beim Zuschnüren der Schuhe ebensogut den Hexenschuß mit seinen schmerzhaften Symptomen und Nachwirkungen hervorrufen können. Auch wenn der Kläger von der Brechstange in die linke Lendengegend getroffen sein sollte, sei eine solche Prellung nicht geeignet, einen Bandscheibenvorfall zustande zu bringen. Die beim Kläger nunmehr eingetretene Unfall-Neurose sei ebenfalls nicht durch den Arbeitsvorgang verursacht worden.
Das Landessozialgericht (LSG.), auf welches die beim OVG. anhängige Sache überging, übersandte auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Akten dem Facharzt Dr. H... Dieser lehnte jedoch eine Untersuchung und Begutachtung des Klägers ab, weil nach seiner Ansicht in den Ausführungen von Prof. Dr. R... und insbesondere Prof. Dr. B... alle für die Beurteilung der Streitfrage wesentlichen Punkte eingehend gewürdigt wären. Das LSG. hat daraufhin durch Urteil vom 9. September 1954 die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Nach den Gutachten von Prof. Dr. R... und Prof. Dr. B... seien die Gesundheitsstörungen des Klägers mit Wahrscheinlichkeit nicht auf einen Arbeitsunfall oder auf eine BK. ursächlich zurückzuführen. Der Arbeitsvorgang habe die Krankheitserscheinungen nur ausgelöst, sei also nicht als wesentlich mitwirkende Teilursache für die Entstehung oder Verschlimmerung des Leidens anzusehen. Die vom Kläger angeführte zivilrechtliche Kausalitätslehre sei auf die öffentlich-rechtliche Unfallversicherung (UV.) nicht zu übertragen.
Gegen das am 14. Oktober 1954 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30. Oktober 1954 Revision eingelegt und sie mit der Rüge einer Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) begründet: Da die gesetzliche UV. zur Ablösung der privaten Haftpflicht der Arbeitgeber geschaffen worden sei, müsse die für die private Schadenshaftung geltende Kausalitätslehre auch auf die Ansprüche aus der UV. angewandt werden. Nach dieser Kausalitätslehre seien die beim Kläger anlagemäßig vorhandenen, durch die - von den Gutachtern in ihrer Bedeutung unterschätzte - Gewalteinwirkung ausgelösten Krankheitserscheinungen als Unfallfolgen im Rechtssinn anzuerkennen. In einem am 16. März 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz rügt der Kläger ferner, unter Bezug auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, mangelnde Aufklärung des Sachverhalts und Überschreitung der Grenzen des Beweiswürdigungsrechts: Das LSG habe zu Unrecht sich mit den schriftlichen Bekundungen der beiden Augenzeugen und des behandelnden Arztes Dr. V... begnügt, statt sie persönlich anzuhören. Weiterhin habe das LSG. den Ursachenzusammenhang insofern verkannt, als es eine Ursächlichkeit des betrieblichen Ereignisses im Sinne der Verschlimmerung des beim Kläger vorliegenden Leidens verneint habe.
Die - vom LSG. nicht zugelassene - Revision ist nicht statthaft, da die auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG gestützten Rügen nicht durchgreifen (BSG. 1 S. 150, 254).
Die Ausführungen des Vorderrichters zu der Frage, ob das Geschehen um den Arbeitsvorgang am 6. Oktober 1950 unter den Begriff des Unfalls einzuordnen ist, sind unter dem Gesichtspunkt des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht nachprüfbar (Sozialrecht SGG § 162 Bl. Da 2 Nr. 11). Das Revisionsvorbringen kann vielmehr nur in der Richtung geprüft werden, ob das LSG. bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem betrieblichen Ereignis und den beim Kläger eingetretenen Gesundheitsstörungen das Gesetz, d.h. die für das Gebiet der geltende Kausalitätsnorm, verletzt hat (vgl. BSG. 1 S. 268). Einen derartigen Verstoß haben die Revisionsausführungen nicht dargetan. Das LSG. ist bei seiner Beurteilung der Zusammenhangsfrage von dem Verursachungsbegriff der wesentlich mitwirkenden Teilursache ausgegangen, den das Reichsversicherungsamt (RVA.) in ständiger Rechtsprechung aufgestellt hat (vgl. insbesondere AN. 1912 S. 930 ff. Nr. 2585; 1914 S. 41 ff. Nr. 2690; 1926 S. 480 ff. Nr. 3238). Auch der beschließende Senat hat dies bereits mehrfach als die für die UV. maßgebende Kausalitätsnorm bezeichnet (BSG. 1 S. 254 [256]; 3 S. 240 [245, 246]). Für den hier vorliegenden besonderen Fall, daß die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, hat die Ursachenlehre des RVA eine besonders anschauliche Ausprägung durch Martineck (Breithaupt 1950 S. 1133 [1137] erfahren, der es zutreffend darauf abstellt "ob der angeschuldigte Unfall wesentliche Teilursache oder nur Gelegenheitsursache war, d.h. ob die Krankheitenlage so stark oder so leicht ansprechbar ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, sondern daß jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte." Diese Erwägungen haben klar erkennbar das LSG. und die für seine Entscheidung maßgebenden Sachverständigen - insbesondere Prof. Dr. B... - geleitet und zu einer Verneinung der Zusammenhangsfrage sowohl im Sinne der Entstehung als such der Verschlimmerung bzw. Beschleunigung des Wirbelsäulenleidens geführt.
Die Auffassung des Klägers, im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der gesetzlichen UV. müsse bei Leistungsansprüchen gegen ihre Träger die für den Schadensersatzanspruch des bürgerlichen Rechts ausgebildete Lehre von der adäquaten Verursachung angewandt werden, konnte der Senat nicht billigen. Die Unzulänglichkeit des vor der Schaffung der gesetzlichen UV. geltenden Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 war sicher ein bedeutsamer Beweggrund für die Neuregelung (vgl. Braun, Sozialer Fortschritt 1956 S. 31). Diese schuf jedoch anstelle des unbefriedigenden privatrechtlichen Status neue Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Art, auf welche die von der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte entwickelten Begriffe nicht ohne weiteres übertragbar sind. Wollte man etwa unter dem Gesichtspunkt der Revisionsausführungen den vom RVA besonders gestalteten und bewußt von der Adäquanzlehre unterschiedenen (vgl. AN. 1926 S. 484) Ursachenbegriff preisgeben und ohne Einschränkung die im bürgerlichen Recht gebräuchlichen Kausalitätsgrundsätze (vgl. Palandt BGB 15. Aufl. Vormerkung 5 c vor § 249 mit weiteren Nachweisen; BGHZ. 25 S. 86 [88]) gelten lassen, so wäre nicht einzusehen, warum dann nicht auch weitere, eng damit verknüpfte Rechtsgedanken des bürgerlichen Schadensersatzrechts Eingang finden sollten, wie z.B. derjenige der Schadensminderung, worauf das Landesversicherungsamt Württemberg-Baden (Breithaupt 1950 S. 1053 [1057]) mit Recht hingewiesen hat; auch die Berücksichtigung mitwirkenden Verschuldens des Verletzten (§ 254 BGB) wäre eine kaum vermeidbare Folgerung aus dieser Betrachtungsweise. Es zeigt sich hiermit, daß die geschichtliche Ableitung nicht geeignet ist, zu einem den Besonderheiten der gesetzlichen UV., und zwar gerade besonders schutzwürdigen Belangen der Versicherten Rechnung tragenden Ergebnis zu führen. - Die vom Kläger behauptete Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs vermochte der Senat hiernach den Gründen des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen.
Was die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen betrifft, so hat der Kläger hinsichtlich der bemängelten Sachaufklärung (§ 103 SGG) nicht dargelegt, zu welchem Ergebnis nach seiner Ansicht die für erforderlich gehaltene Vernehmung der beiden Zeugen und des behandelnden Arztes Dr. V... geführt hätte (vgl. Sozialrecht SGG § 164 Bl. Da 10 Nr. 28). Auch die aus § 128 Abs. 1 SGG hergeleitete Revisionsrüge kann keinen Erfolg haben. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß das LSG. die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten habe, etwa durch Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze oder durch willkürliche Auswertung von Sachverständigen-Gutachten (BSG. 1 S. 254 [257]; 2 S. 236 f.). Es hat sich eingehend mit den Beweisergebnissen auseinandergesetzt und ist dabei mit den Gutachten der Professoren Dr. R... und Dr. B... einer medizinischen Lehrmeinung über Bandscheibenerkrankungen und deren Beziehungen zu Unfällen gefolgt, welche weitgehend in der neueren Rechtsprechung an erkannt worden ist (vgl. LVAmt Württemberg-Baden, Breithaupt 1950 S. 1170; Bayerisches LVAmt, Breithaupt 1951 S. 794; 1953 S. 626; Bayerisches LSG., BG. 1955 S. 221; Hessisches LSG., SGb. 1954 S. 119; LSGe. Schleswig und Nordrhein-Westfalen, BG. 1955 S. 173; - abweichend die umstrittene Entscheidung des LSG. Baden-Württemberg in BG. 1957 S. 164 ff. mit Anmerkungen von Reischauer und Nöske sowie Maisch und Reischauer in BG. 1957 S. 376 ff.). Auch der vom Kläger gemäß § 109 SGG benannte ärztliche Sachverständige hat sich, dem Sinn seiner Äußerung nach, außerstande erklärt, den Ausführungen von Prof. Dr. B... etwas Wesentliches hinzuzufügen oder gar entgegenzusetzen.
Die Revision war hiernach als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen