Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsopferversorgung. Beschädigtenrente. Verwaltungsverfahren. Wiederaufgreifen. Dreimonatsfrist

 

Orientierungssatz

Die Versorgungsverwaltung hat bei der auf § 42 KOVVfG gestützten Erteilung eines neuen Bescheides über die Beschädigtenrente die neue Prüfung innerhalb von drei Monaten einzuleiten.

Die Frist beginnt mit der Kenntnis des Anfechtungsgrundes.

Wenn die Verwaltung nicht in dieser Frist tätig geworden ist, hat sie nicht wirksam das Verfahren eingeleitet, mit dem sie das durch bindend gewordenen Bescheid abgeschlossene Verwaltungsverfahren wiederaufrollen und den Versorgungsanspruch des Rentenberechtigten neu gestalten kann.

Die Sechsmonatsfrist, die durch das KOVNOG 1 eingeführt worden ist, gilt nicht für Fälle, in denen die Dreimonatsfrist zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens bereits abgelaufen war.

 

Normenkette

KOVVfG § 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, § 42

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.04.1964)

SG Regensburg (Entscheidung vom 09.11.1961)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. April 1964 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger bezieht seit dem 1. Februar 1947 aufgrund des Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) Versorgung. Nach erneuter Prüfung der Versorgungsberechtigung lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) unter Aufhebung früherer Bescheide durch den auf § 42 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gestützten Anfechtungsbescheid vom 18. August 1960 den Anspruch des Klägers auf Versorgung ab und entzog die bis dahin gewährte Versorgungsrente mit Ende September 1960, weil sich aus neuen Unterlagen ergeben habe, daß eine Schädigung im Sinne des BVG nicht vorgelegen habe. Es forderte die seit dem 1. Februar 1947 gewährten Versorgungsleistungen nicht zurück. Der Widerspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 9. November 1961 den Beklagten unter Aufhebung der Verwaltungsbescheide verurteilt, dem Kläger über den 30. September 1960 hinaus die bisherige Versorgungsrente weiterzugewähren, weil die Verwaltung die Dreimonatsfrist des § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG aF. nicht eingehalten habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 28. April 1964 aus den gleichen Gründen zurückgewiesen und festgestellt, daß das Versorgungsamt am 28. Dezember 1959 von dem Krankenbuchlager M Unterlagen über die Körperverletzung und die Krankheitszeit des Klägers während des vergangenen Krieges erhalten, aber erst am 20. April 1960 an den ärztlichen Dienst zur Überprüfung der Versorgungsberechtigung weitergeleitet hat. Eine Umdeutung des angefochtenen Bescheides nach § 41 VerwVG sei nicht möglich. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 28. April 1964 und das Urteil des SG Regensburg vom 9. November 1961 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamtes Regensburg vom 18. August 1960 abzuweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 43 VerwVG nF., weil diese Vorschrift am 2. Juli 1960, während dieses Verfahren noch anhängig gewesen sei, in Kraft getreten sei und deshalb hier angewendet werden müsse. Die Verwaltung habe danach sechs Monate Zeit gehabt, um tätig werden zu können.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Bescheid für zutreffend.

Der Beklagte hat die durch Zulassung statthafte Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das zulässige Rechtsmittel konnte keinen Erfolg haben.

Wie das LSG zutreffend entschieden hat, sind die angefochtenen Verwaltungsbescheide deshalb rechtswidrig, weil hier § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG in der alten Fassung angewendet werden muß. Nach dieser Vorschrift hat die Verwaltungsbehörde bei der auf § 42 VerwVG gestützten Erteilung eines neuen Bescheides die neue Prüfung innerhalb von drei Monaten einzuleiten. Die Frist beginnt mit der Kenntnis des Anfechtungsgrundes (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VerwVG). Nach den nicht angefochtenen und deshalb das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG hat das Versorgungsamt am 28. Dezember 1959 durch den Empfang der Unterlagen vom Krankenbuchlager München den Anfechtungsgrund erfahren, so daß die Dreimonatsfrist am 20. April 1960 bereits abgelaufen war, als die Verwaltung die Unterlagen an den ärztlichen Dienst zur Überprüfung der Versorgungsberechtigung des Klägers weitergeleitet hat. Da hier also die Verwaltung nicht in der Frist tätig geworden ist, welche ihr das Gesetz eingeräumt hat, hat sie nicht wirksam das Verfahren eingeleitet, mit dem sie - ähnlich wie bei der Wiederaufnahme eines durch gerichtliches Urteil abgeschlossenen Klageverfahrens - das durch bindend gewordenen Bescheid abgeschlossene Verwaltungsverfahren wiederaufrollen und den Versorgungsanspruch des Klägers neu gestalten konnte. Die angefochtenen Verwaltungsbescheide, welche in diesem nicht wirksam eingeleiteten Verfahren ergangen sind, hat das Berufungsgericht zutreffend für rechtswidrig erachtet.

Zu Unrecht ist der Beklagte der Ansicht, auf den vorliegenden Fall müsse § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG idF. des 1. NOG angewendet werden. Durch diese am 2. Juli 1960 in Kraft getretene Vorschrift ist die ursprüngliche Dreimonatsfrist auf sechs Monate verlängert worden.

Wie der Kläger zutreffend geltend gemacht hat, hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits in der Entscheidung vom 26. Mai 1964 (BSG SozR VerwVG § 43 Nr. 1) in Fällen der vorliegenden Art eine Anwendung der neuen Fristvorschriften dann für ausgeschlossen erachtet, wenn die Frist nach altem Recht beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften abgelaufen war. Dieser Entscheidung schließt sich der erkennende Senat an und macht sie sich auch insoweit zu eigen, als das 1. NOG in Art. IV § 4 weder ausdrücklich klargestellt noch sonst deutlich gemacht hat, daß mit Änderung des § 43 VerwVG eine auf das Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes, dem 1. April 1955, zurückwirkende Neuregelung für alle Versorgungsfälle erzielt werden sollte. Der Gesetzgeber hat vielmehr die bis zum Inkrafttreten des 1. NOG, dem 2. Juli 1960, geltende Fassung aufrechterhalten und den Änderungen erst von diesem Zeitpunkt an Rechtswirksamkeit verliehen. Schon hierdurch ist dargetan, daß sich die Verwaltung zu Unrecht auf § 52 VerwVG beruft. Diese Vorschrift steht in den Übergangsvorschriften des VerwVG in seiner ursprünglichen Fassung. Nach ihr sollte das - damals neue geregelte - Verfahrensrecht auf alle im Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG, dem 1. April 1955, anhängigen Verwaltungsverfahren angewendet werden. Das für den Kläger maßgebende Verwaltungsverfahren war aber zu diesem Zeitpunkt bereits bindend abgeschlossen. Wenn dann die Verwaltung aufgrund des § 42 VerwVG von Amts wegen in eine neue Prüfung der Versorgungsberechtigung eingetreten ist, so hat sie ein neues Verfahren in Gang gesetzt, welches unabhängig von der Übergangsvorschrift des § 52 VerwVG durchgeführt werden mußte. Infolgedessen hat sich für den vorliegenden Fall durch die im Laufe des Verwaltungsverfahrens erlassene Neuregelung nichts daran geändert, daß die Verwaltung das Verfahren mit dem Ziele der Erteilung eines Anfechtungsbescheides am 20. April 1960 nicht wirksam eingeleitet hat, und daß demgemäß - wie die Vorinstanzen zu Recht entschieden haben - die angefochtenen Verwaltungsbescheide nicht rechtswirksam sind.

Da sonach die Revision nicht begründet ist, war sie nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2351533

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