Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz für das Abheben eines Geldbetrages bei einem Geldinstitut
Leitsatz (amtlich)
Unter "Abheben eines Geldbetrages" (RVO § 548 Abs 1 S 2) ist nicht nur der Empfang von Bargeld, sondern auch die Vornahme bargeldloser Überweisungen vom Lohn- oder Gehaltskonto zu verstehen.
Zu den Erfordernissen des "persönlichen Aufsuchens" des Geldinstituts.
Leitsatz (redaktionell)
Ein durch die gesetzliche Unfallversicherung geschützter Weg zum Abheben eines Geldbetrages bei einem Geldinstitut liegt nicht vor, wenn der Weg zu dem Geldinstitut lediglich deshalb gemacht wird, um in den Bank-Briefkasten Überweisungsaufträge einzuwerfen.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 1966 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 10. Juni 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob für den Unfall, den die Klägerin am Donnerstag, dem 2. Januar 1964, kurz nach 18.00 Uhr erlitt, der Versicherungsschutz nach § 548 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben ist.
Die als kaufmännische Angestellte beschäftigte Klägerin erhielt ihr Gehalt von ihrem Arbeitgeber monatlich auf ihr Gehaltskonto bei der D Bank in F, Zweigstelle M.-platz, überwiesen. Am 2. Januar 1964 verließ die Klägerin nach Dienstschluß um 17.15 Uhr ihre Arbeitsstätte und trat den Heimweg an. Vor ihrem Wohnhaus E.-straße ... angelangt, begab sie sich mit ihrem Ehemann, der einen Korb Wäsche heruntergebracht hatte, zu einer Wäscherei in der B.-straße, Ecke B.-weg; nach Ablieferung der Wäsche ging die Klägerin die B.-straße entlang in Richtung M.-platz, um bei der Bankfiliale (B.-straße ...) einen Briefumschlag mit sechs Überweisungsaufträgen (u.a. für Rundfunkgebühr, Krankenkassenbeitrag, Kundenkreditschulden) in den dort angebrachten Briefeinwurf zu stecken. Bevor die Klägerin das Bankgebäude erreicht hatte, wurde sie von einem Kraftwagen angefahren und schwer verletzt. Die Filiale der D Bank war donnerstags bis 16.00 Uhr geöffnet; Überweisungsaufträge, die in den Briefeinwurf gelangten, wurden jeweils bei Öffnung der Zweigstelle am folgenden Tage um 8.00 Uhr in Bearbeitung genommen.
Durch Bescheid vom 27. Februar 1964 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Unfallentschädigung mit der Begründung ab, ein Wegeunfall im Sinne des § 550 RVO habe nicht vorgelegen.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 10. Juni 1965 abgewiesen: Bei dem Unfall habe die Klägerin nicht unter dem Versicherungsschutz nach § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO gestanden; diese Vorschrift setze voraus, daß die Klägerin das ihr Gehaltskonto führende Geldinstitut erstmalig nach Ablauf des Gehaltszahlungszeitraums persönlich aufgesucht hätte; dieser Sachverhalt liege hier nicht vor; da nur das Abheben als Ersatzfunktion für den Lohnempfang geschützt sein solle, könne die Vorschrift nicht ausdehnend angewandt werden.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 26. Januar 1966 (BB 1966, 1231 = Breithaupt 1967, 203) unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 2. Januar 1964 als Arbeitsunfall zu entschädigen: Die Voraussetzungen für den Versicherungsschutz gemäß § 548 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 550 Satz 1 RVO seien erfüllt. Unter "Abheben eines Geldbetrags" im Sinne dieser Vorschrift sei nicht bloß eine Barauszahlung zu verstehen, vielmehr umfasse dieser Begriff alle mit dem bargeldlosen Zahlungsverkehr verbundenen banktechnischen Vorgänge, insbesondere auch die Erteilung von Überweisungsaufträgen. Das Einwerfen von Aufträgen in den Bankbriefkaten sei dem "Aufsuchen" des Geldinstituts gleichzuachten; versicherungsrechtlich mache es keinen Unterschied, ob ein Überweisungsauftrag während der Geschäftszeiten am Schalter abgegeben oder während dieser Zeit oder später in den Bankbriefkasten geworfen werde. Diese Auslegung entspreche auch den Gegebenheiten des Arbeitslebens; der Arbeitnehmer, der seine Bank zur erstmaligen Abhebung nicht persönlich aufsuchen könne, weil diese nur während seiner Arbeitszeit geöffnet sei, und der deshalb die erstmalige Verfügung über sein Gehaltskonto durch den Einwurf von Überweisungsaufträgen in den Bankbriefkasten treffe, dürfe versicherungsrechtlich nicht schlechter gestellt werden als jemand, dem es möglich sei, den Schalterraum der Bank zu betreten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 29. März 1966 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. April 1966 Revision eingelegt und sie am 11. Mai 1966 folgendermaßen begründet: Das angefochtene Urteil beruhe auf unrichtiger Anwendung des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO, das Einwerfen von Überweisungsaufträgen in den Bankbriefkasten stelle kein Aufsuchen der Bank zum Abheben eines Geldbetrags dar. Für einen versicherungsrechtlichen Schutz des Weges, auf dem die Klägerin den Unfall erlitt, bestehe genausowenig Anlaß, als wenn sie den Umschlag mit den Überweisungsaufträgen frankiert in den nächsten Postbriefkasten gesteckt und ihn per Post an das Geldinstitut abgesandt hätte. Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Frankfurt vom 10. Juni 1965 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt
Zurückweisung der Revision.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG), daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Es unterliegt keinem Zweifel, ist auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten, daß der unfallbringende Weg der Klägerin keine Fortsetzung des gemäß § 550 Satz 1 RVO versicherten Heimwegs von der Arbeitsstätte war. Zwar hatte die Klägerin die Haustür des von ihr bewohnten Gebäudes E.-straße ... noch nicht durchschritten. Da sie sich aber durch ihren Gang zunächst zur Wäscherei und weiter zur Bankfiliale von dem fast erreichten Ziel des Heimwegs wieder entfernte, schlug sie damit einen "Abweg" ein, auf dem ein allein auf § 550 Satz 1 RVO gegründeter Versicherungsschutz entfiel. Der Klaganspruch hängt also entscheidend davon ab, ob auf dem Weg entlang der B.-straße Versicherungsschutz nach § 548 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 550 Satz 1 RVO bestand. Den Erwägungen, mit denen das LSG diese Frage bejaht hat, kann der Senat im Ergebnis nicht beipflichten.
Nach der durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (UVNG) neugeschaffenen Vorschrift des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO gilt als versicherte Tätigkeit auch das Abheben eines Geldbetrages bei einem Geldinstitut, auf das der Arbeitgeber den Lohn oder das Gehalt des Versicherten zu dessen Gunsten überweist oder zahlt, wenn der Versicherte erstmals nach Ablauf eines Lohn- oder Gehaltszahlungszeitraums das Geldinstitut persönlich aufsucht. Von all diesen Tatbestandsmerkmalen sind im vorliegenden Fall lediglich diejenigen des "Abhebens eines Geldbetrags" und des "persönlichen Aufsuchens des Geldinstituts" näher zu prüfen.
Unter dem Abheben eines Geldbetrags bei einer Bank oder Sparkasse wird man nach dem Sprachgebrauch an sich nur die Entgegennahme einer Barauszahlung am Kassenschalter verstehen. Dies ist auch derjenige Vorgang, der am genauesten der früher allein gebräuchlichen Lohn- oder Gehaltsauszahlung im Betrieb entspricht, bei der für die Beschäftigten schon seit jeher Unfallversicherungsschutz bestand (vgl. RVO-MitglKomm., Band 3, 2. Aufl., Anm. 2 a zu § 544, S. 40 mit weiteren Nachweisen). Die in neuerer Zeit immer häufiger zu beobachtende Verdrängung der "Lohntüte" durch bargeldlose Entgeltzahlungen hat den Gesetzgeber des UVNG zur Einfügung des § 548 Abs. 2 Satz 1 RVO bewogen. Das zwingt aber nicht dazu, diese Vorschrift in dem engen Sinne des Sprachgebrauchs auszulegen. Mit Recht hat vielmehr das LSG - übereinstimmend mit der überwiegenden Auffassung des Schrifttums (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 86 1 zu § 548; Ilgenfritz, BG 1963, 327 und BB 1963, 403; Wolber, BB 1964, 310; a.M. Gotzen/Dötsch, Unfallversicherung, Anm. zu § 548 S. 45) - den Begriff "Abheben eines Geldbetrags" dahin gedeutet, daß er alle mit dem bargeldlosen Zahlungsverkehr verbundenen banktechnischen Vorgänge umfaßt, hier insbesondere also die Erteilung von Überweisungsaufträgen. In der Tat wäre es unpraktikabel, den Versicherungsschutz danach abzugrenzen, ob der Arbeitnehmer einen am Bankschalter soeben abgehobenen Barbetrag am Nachbarschalter wieder einzahlt oder ob dieser Vorgang in der Erteilung eines Überweisungsauftrags zusammengefaßt wird. Der mehrphasige Vorgang einer Banküberweisung bewirkt zunächst eine Abbuchung vom Lohn- oder Gehaltskonto, der dann die Überleitung des abgebuchten (= abgehobenen) Betrages auf ein anderes Konto folgt. Mit dem LSG ist der erkennende Senat der Meinung, daß diese im bargeldlosen Zahlungsverkehr weit verbreiteten banktechnischen Vorgänge vom Anwendungsbereich des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht ausgeschlossen sind.
Die entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Vorschrift würden indessen nach Ansicht des erkennenden Senats allzusehr vernachlässigt, wenn man auf die Art, wie der banktechnische Vorgang bewerkstelligt wird, keinerlei Gewicht legte und bereits das Einwerfen eines Umschlags mit Überweisungsaufträgen in einen Bankbriefkasten nach Schalterschluß genügen ließe. Mit Recht macht die Revision hierzu geltend, daß diese Art der Erledigung ohne weiteres durch postalische Absendung des Überweisungsauftrags ersetzt werden könnte; den Weg zum nächsten Postbriefkasten brauchte übrigens der Arbeitnehmer nicht einmal selbst anzutreten, sondern könnte jeden beliebigen Boten - etwa ein Schulkind - damit beauftragen. Deshalb genügt zum Beispiel im Postscheckverkehr der Weg zum Briefkasten zwecks Absendung des Postscheckbriefes nicht den Erfordernissen des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO (Lauterbach aaO). Diese Vorschrift setzt vielmehr voraus, daß der Versicherte zu seinem Geldinstitut bei der Vornahme des Geldabhebens einen persönlichen Kontakt aufnimmt. Hierfür spricht bereits das Merkmal des "Abhebens", insbesondere aber das des "persönlichen Aufsuchens".
Dieser Begriff läßt nach Meinung des erkennenden Senats zweifelsfrei erkennen, daß unter Versicherungsschutz nur diejenigen Handlungen stehen sollen, bei denen der Lohn- oder Gehaltsempfänger seinem kontoführenden Geldinstitut gegenüber als Inhaber des Lohn- oder Gehaltskontos persönlich in Erscheinung tritt. Zwar ist es fraglich, ob dies - wie in den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. IV 938 S. 7) angedeutet wird - unbedingt das Betreten des Bankgebäudes und den Aufenthalt im Schalterraum erfordert; hat z.B. ein Geldinstitut für seine motorisierten Kunden einen direkt zur Straße gelegenen Schalter eingerichtet, von dem aus ein Kassierer die vorfahrenden Kunden abfertigt, ohne daß diese ihre Kraftfahrzeuge zu verlassen brauchen, so bestehen nach Ansicht des Senats keine Bedenken, einer in dieser Weise vollzogenen Geldabhebung den Versicherungsschutz des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO zuzuerkennen. Jedenfalls aber kann nach dem Sinn des Gesetzes eine Betätigung, bei welcher der Bankkunde zu seinem Geldinstitut überhaupt keine persönliche Beziehung aufnimmt, sondern diesem lediglich außerhalb der Öffnungszeiten schriftliche Unterlagen zuleitet - mag dies nun per Post oder durch Einstecken in den am Bankgebäude angebrachten Einwurf geschehen - nicht mehr dem Anwendungsbereich des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO zugerechnet werden. Eine weitergehende Auslegung dieser Vorschrift erscheint dem Senat auch nicht durch die sozialpolitischen Erwägungen des LSG gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat insoweit bewußt keinen allumfassenden Versicherungsschutz gewährleisten wollen. Der Umstand etwa, daß wegen Unabkömmlichkeit während der Schalterstunden vermutlich sehr viele Arbeitnehmer nicht selbst ihr Geldinstitut aufsuchen können und deshalb ihre bevollmächtigten Familienangehörigen zwecks Geldabhebung dorthin schicken, ändert nichts daran, daß diese Bevollmächtigten hierbei keinen Versicherungsschutz genießen (vgl. Lauterbach aaO Anm. 87 3 zu § 548; Noell/Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, Anm. 2 b zu § 548; Ilgenfritz, BG 1963, 329).
Hiernach diente der Weg, den die Klägerin im Unfallzeitpunkt zurücklegte, nicht dem "persönlichen Aufsuchen des Geldinstituts", sondern einem unversicherten Zweck. Der Bescheid, mit dem die Beklagte die Entschädigungsleistung abgelehnt hat, ist also nicht rechtswidrig. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils muß demgemäß die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des ersten Rechtszuges zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2365155 |
BSGE, 234 |
MDR 1967, 955 |