Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung von Zeiten eines Auslandsaufenthalts als Ersatzzeiten im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 1970 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der dem Kläger gewährten Versichertenrente Zeiten eines Auslandsaufenthalts als Ersatzzeiten i. S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu berücksichtigen sind.

Der im Februar 1904 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er lebt seit September 1930 in Argentinien und hatte dort noch im gleichen Jahr geheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen.

Die Beklagte zahlt dem Kläger vom 1. Oktober 1968 an die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie legte dabei die vom November 1921 bis August 1930 entrichteten Pflichtbeiträge zur Arbeiterrentenversicherung zugrunde (Bescheide vom 3. März und 29. August 1969).

Mit der Klage begehrte der Kläger die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO vom September 1939 zunächst bis Mai 1945 und - im Berufungsverfahren - bis Januar 1952, weil er während dieser Zeit an der Rückkehr nach Deutschland durch feindliche Maßnahmen verhindert gewesen sei. Er habe sich nach Ausbruch des 2. Weltkrieges, wie die vorgelegte Bescheinigung der Deutschen Botschaft in Buenos Aires vom 15. September 1939 beweise, zur Erfüllung seiner Wehrpflicht bei der Botschaft gemeldet und habe dadurch seinen Willen zur Rückkehr nach Deutschland bekundet. Eine Ausreisemöglichkeit habe damals aber wegen der feindlichen Seekriegsmaßnahmen nicht mehr bestanden.

Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurück; es ließ die Revision zu (Urteil vom 20. Mai 1970). Zur Begründung führte das LSG im wesentlichen aus:

Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seiner Entscheidung vom 30. November 1961 (BSG 16, 28) zum Ausdruck gebracht, die Rückkehr aus dem Ausland bedeute, daß man zunächst im Inland gelebt habe, dann ins Ausland gegangen und anschließend wieder ins Inland zurückgekehrt sei. Auch nach der Entscheidung des BSG vom 23. Juni 1965 (SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO) sei jedenfalls Voraussetzung für die Anrechnung einer Zeit eines Auslandsaufenthalts, daß ein Versicherter nach Kriegsende zu irgendeinem Zeitpunkt nach Deutschland zurückgekehrt sei. Dies sei jedoch beim Kläger nicht der Fall. Selbst wenn man aber die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nicht von einer tatsächlichen Rückkehr abhängig machen wollte, hätte der Kläger die Tatbestandsmerkmale dieser. Rechtsnorm nicht erfüllt, weil er bei Kriegsausbruch im September 1939 zwar als Auslandsdeutscher seiner Wehrpflicht genügen, damit aber nicht seinen Wohnsitz und den Mittelpunkt seiner wirtschaftlichen Interessen von Argentinien nach Deutschland verlegen wollte. Der fehlende Wille zur Rückkehr ergebe sich auch daraus, daß der Kläger nach dem 2. Weltkrieg auch, nach Normalisierung der Verhältnisse nicht nach Deutschland zurückgekehrt sei.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO durch das Berufungsgericht.

Entgegen der Auffassung des LSG sei der Rückkehrwille nicht von der beabsichtigten Verlegung des Wohnsitzes und des Mittelpunktes der wirtschaftlichen Interessen abhängig. Andererseits schließe ein nach dem Ende des 2. Weltkrieges gefaßter Entschluß zum Verbleiben in Südamerika den Rückkehrwillen für die Dauer der Kriegszeit nicht aus. Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO sei die Tatsache, daß die im Ausland lebenden Staatsangehörigen eines jeden in einen Krieg verwickelten Landes für die Dauer der Kriegszeit in das Land ihrer Staatsangehörigkeit zurückzukehren wünschen, sofern die Gefahr nicht ausgeschlossen werden könne, daß das Aufenthaltsland auf der Gegenseite in den Krieg eintritt oder sich nur einer scheinbaren Neutralität befleißigt. Aus dieser Tatsache sei zumindest in der Verwaltungspraxis, teilweise aber auch in der Rechtsprechung für kriegführende Staaten der Grundsatz entwickelt worden, daß sie ihre rückkehrwilligen Staatsangehörigen in das Inland zu verbringen hätten.

Wie sich aus der vorgelegten Stellungnahme eines früheren Angehörigen der Deutschen Botschaft in Rio de Janeiro vom 15. Mai 1970 ergebe, sei aufgrund der feindlichen Seekriegsmaßnahmen bei Ausbruch des 2. Weltkrieges eine Rückkehr für die meisten in Südamerika lebenden Deutschen nicht möglich gewesen. Die Stellungnahme lasse auch erkennen, daß die ganz überwiegende Zahl der deutschen Staatsangehörigen für die Dauer der Kriegszeit ungeachtet der jeweiligen wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse zur Rückkehr entschlossen gewesen sei. Zweifellos habe die Mehrzahl der Auslandsdeutschen nach dem erhofften "Endsieg" an die Stätte ihres früheren Wirkens zurückkehren wollen. Unter diesen Umständen schließe die Nichtaufgabe wirtschaftlicher Interessen in Südamerika den Rückkehrwillen nach Deutschland nicht aus. Wirtschaftliche Interessen seien ohnehin kein Indiz für den Willen, ein Land zu verlassen. So hätten zahlreiche Verfolgte des NS-Regimes und die Vertriebenen auch unter bewußter Aufgabe erheblicher wirtschaftlicher Werte ihre Heimat verlassen. Es sei unzulässig, die Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO - im Gegensatz zu den übrigen Ersatzzeitenregelungen - von weiteren als den vom Gesetz geforderten Kriterien abhängig zu machen. Auch könne es nicht auf den Grundgedanken der Anrechnung von Ersatzzeiten - nämlich echte Beitrags zelten zu ersetzen - ankommen, da dieser durch die gesetzliche Regelung bereits vielfach "durchlöchert" worden sei. Es müsse mithin völlig unerheblich sein, welche Tätigkeiten der rückkehrwillige Auslandsdeutsche während der Zeit des 2. Weltkrieges in Deutschland habe entfalten wollen. Wenn aber für die Zeit vom September 1939 bis zum Jahresende 1947 Ersatzzeiten angerechnet würden, so wäre sogar die für das Altersruhegeld erforderliche Versicherungszeit von 180 Monaten vorhanden.

Der Kläger beantragt, daher,

die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 27. Juni 1969 und unter Abänderung des Bescheids der Beklagten vom 3. März 1969 zu verurteilen, dem Kläger mit Wirkung vom 1. Oktober 1968 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und vom 1. März 1969 an Altersruhegeld unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO zu zahlen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Sie hält die Ausführungen des Berufungsgerichts für zutreffend.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger kann nicht verlangen, daß bei der Festsetzung seiner Rente Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO berücksichtigt werden. Die Anrechnung solcher Ersatzzeiten ist für Zivilpersonen vorgesehen, die während oder nach der Beendigung eines Krieges tatsächlich aus dem Ausland zurückgekehrt sind und die geltend machen können, daß ihre Rückkehr und die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland durch feindliche Maßnahmen verzögert worden sind (vgl. BSG 16, 26, 28). Sie sollen für den dadurch bedingten Beitragsausfall durch Anrechnung einer Ersatzzeit entschädigt werden. Der Kläger ist jedoch nicht zurückgekehrt.

Als an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert könnte er allenfalls dann angesehen werden, wenn er einen entsprechenden Rückkehrwillen gehabt hätte, dessen Durchsetzung an feindlichen Maßnahmen gescheitert ist. Das LSG hat einen solchen Willen des Klägers während der streitigen Zeit zu Recht verneint.

Der Kläger vermag seinen angeblichen Rückkehrwillen allein mit der Bescheinigung der Deutschen Botschaft in Buenos Aires vom 15. September 1939 zu belegen. Es ist bereits nicht auszuschließen, daß - unter Berücksichtigung der damaligen Machtverhältnisse, insbesondere aufgrund der Seeblockade durch die Alliierten - der Kläger mit der Meldung bei der Botschaft allein einer formalen Pflicht nachgekommen ist. Im übrigen wird in der Bescheinigung der Botschaft nur bestätigt, daß sich der Kläger dort zur Erfüllung seiner Wehrpflicht gemeldet hat. Aus dieser Meldung kann schon deswegen für sich allein kein Rückkehrwille nach Deutschland hergeleitet werden, weil die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht - unter Berücksichtigung der damaligen weltweiten Kriegsschauplätze - gerade bei deutschen Staatsangehörigen in Übersee mit einer Rückkehr nach Deutschland nicht verbunden zu sein brauchte.

Überdies verkennt die Revision, daß die Leistung militärischen Dienstes während des 2. Weltkriegs ebenfalls eine Ersatzzeit wäre (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Die Rückkehr nach Deutschland allein zu dem Zweck der Wehrdienstleistung könnte somit auch nach dem Sinn der Ersatzzeitenregelung, nämlich eine infolge außergewöhnlicher Umstände nicht zu erwartende Beitragsleistung zu ersetzen, nicht zur Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO führen. Ansonsten würde im Ergebnis lediglich, eine nach den gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegebene Ersatzzeit durch eine andere ersetzt.

Das LSG hat daher zutreffend die Rückkehr i. S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO von dem Willen des Klägers abhängig gemacht, den Mittelpunkt seines persönlichen und wirtschaftlichen Lebensbereichs während und nach dem 2. Weltkrieg wieder nach Deutschland zu verlegen. Zur Erforschung des wahren Willens durfte dabei das LSG - wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. Januar 1970 (Az.: 12 RJ 552/65) betont hat - in einer rückschauenden Betrachtungsweise aus der ganzen Lebensgestaltung des Klägers den Schluß ziehen, daß der Kläger den bereits seit dem Jahre 1930 in Argentinien geschaffenen und für die Dauer berechneten Lebenskreis auch nach Ausbruch des 2. Weltkrieges bewußt dort fortgesetzt hat. Ein ernsthafter Wille zur Rückkehr nach Deutschland könnte nur dann angenommen werden, wenn er durch eine entsprechende objektive Handlungsweise des Klägers in irgendeiner Form bekundet worden wäre. Eine solche vermag die Revision - mit Ausnahme der nicht beweiskräftigen Meldung bei der Botschaft - nicht zu benennen. Sie räumt im Gegenteil sogar ein, daß die Mehrzahl der Auslandsdeutschen nach Kriegsende wieder an ihren Wohnsitz im Ausland zurückkehren wollten. Auch auf die vorgelegte Stellungnahme eines früheren Angehörigen der Deutschen Botschaft in Rio de Janeiro kann die Revision den Rückkehrwillen im konkreten Fall des Klägers nicht stützen, weil die Stellungnahme primär die damaligen Verhältnisse in Brasilien betrifft und überdies viel zu allgemein gehalten ist, um daraus gerade beim Kläger einen während der gesamten streitigen Zeit bestehenden ernsthaften Rückkehrwillen ableiten zu können.

Wenn die Revision meint, wirtschaftliche Interessen seien kein geeignetes Indiz für den Rückkehrwillen, und diese Auffassung mit dem Willen der politisch Verfolgten und der Vertriebenen belegt, so geht dieser Hinweis fehl. Der maßgebliche Unterschied zu diesen Versicherten besteht darin, daß diese - im Gegensatz zum Kläger - infolge eines auf sie ausgeübten Zwangs ihren Wohnsitz auch unter Aufgabe wirtschaftlicher Güter verlassen mußten.

Entgegen der Ansicht der Revision kann auch nicht allgemein unterstellt werden, daß die im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen bei Ausbruch des 2. Weltkrieges alle nach Deutschland zurückkehren wollten. Ein derartiger Erfahrungssatz kommt nur für diejenigen Deutschen in Betracht, die - wie beispielsweise Seeleute und Auslandsreisende - ihren Wohnsitz im Inland hatten und vom Ausbruch des Krieges im Ausland überrascht wurden, Dagegen kann von einer Rückkehr i. S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO bei ohnehin bestehendem Dauerwohnsitz im Ausland nicht gesprochen werden. Zwar hat der 11. Senat im Urteil vom 23. Juni 1965 (SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO) die Auffassung vertreten, daß ein Versicherter, der sich während eines Krieges im Ausland aufhält, "in aller Regel" den Willen haben wird, sich in den Staat zu begeben, in dem er nicht Ausländer, sondern Inländer ist - und zwar unabhängig davon, ob der Aufenthalt im Ausland als ein vorübergehender oder als ein dauernder beabsichtigt gewesen ist. Abgesehen davon, daß diese Entscheidung einen ganz anderen Sachverhalt betraf (ein in Rußland geborenes Kind deutscher Eltern wurde während des 1. Weltkrieges dort interniert und kam nach Kriegsende erstmals nach Deutschland), ist zu beachten, daß das Urteil noch vor Inkrafttreten des 1. Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) erging, durch welches die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO ergänzt worden ist. Der Verhinderung der Rückkehr durch feindliche Maßnahmen in das Inland steht nunmehr das Festhalten im Ausland gleich. Die Gesetzesänderung berücksichtigt somit zusätzlich, daß die bereits bei Kriegsausbruch ständig im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen durch feindliche Maßnahmen dort festgehalten worden sein konnten. Die Ergänzung wäre überflüssig, wenn auch bei ihnen ein allgemeiner Rückkehrwille zu unterstellen wäre (vgl. Koch/Hartmann, Kommentar zum Angestelltenversicherungsgesetz, Anm. III 2 d; Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 3. Aufl., Anm. 11 zu § 1251 RVO; Pappai in BABl 1965, 600). Andererseits würde der vom 11. Senat entschiedene Fall nunmehr ohnehin unter die Ergänzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO fallen.

Der Kläger hat indes nicht vorgetragen, daß er in der fraglichen Zeit in Argentinien etwa festgehalten worden ist. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger im streitigen Zeitraum wenigstens den Willen hatte, sein bisheriges Wohnsitz-Land zu verlassen, und zwar - anders als bei der Rückkehr Verhinderung - nicht notwendigerweise in Richtung Deutschland.

Aus diesen Gründen mußte der Revision der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Unterschriften

Dr. Haug

Dr. Friederichs

Burger

 

Fundstellen

BSGE, 260

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