Leitsatz (amtlich)
Ein Antragsversicherter iS des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG ist von der Pflichtversicherung zu befreien, wenn er zugleich Pflichtmitglied in einem berufsständischen Versicherungs- oder Versorgungswerk iS des § 7 Abs 2 AVG ist und diese Pflichtmitgliedschaft erst nach dem Beitritt zur gesetzlichen Rentenversicherung beginnt.
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11 Fassung: 1972-10-16, § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Hs. 2 Fassung: 1979-06-25, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Fassung: 1972-10-16, § 1230 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.01.1980; Aktenzeichen L 6 An 677/79) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 29.01.1979; Aktenzeichen S 9 An 499/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der 1974 auf seinen Antrag begründeten Pflichtversicherung bei der Beklagten zu befreien ist, nachdem er 1975 Pflichtmitglied einer öffentlich-rechtlichen berufsständischen Versorgungseinrichtung iSd § 7 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) geworden ist.
Der Kläger ist seit 1969 als selbständiger Architekt Inhaber eines Büros für Bauwesen. Seit Oktober 1974 ist er in der Angestelltenversicherung gem § 2 Abs 1 Nr 11 AVG pflichtversichert. Im Jahre 1975 wurde er nach einer Änderung des Architektengesetzes für das Land Baden-Württemberg (idF der Bekanntmachung vom 7. Juli 1975 - GBl S 581) Mitglied der Architektenkammer Baden-Württemberg. Diese hat aufgrund einer Ermächtigung in § 12 des genannten Gesetzes ein Versorgungswerk der Architekten errichtet und alle Mitglieder der Architektenkammer zur Mitgliedschaft in diesem Versorgungswerk verpflichtet, soweit sie nicht die in der Satzung im einzelnen bestimmten Befreiungstatbestände erfüllen. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) gehört der Kläger nicht zu den kraft Satzung von der Mitgliedschaft zum Versorgungswerk befreiten Personen; er leistet auch Beiträge zu diesem Versorgungswerk.
Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 23. Mai 1977 seine Zugehörigkeit zum Architektenversorgungswerk mit und bat mit Schreiben vom 30. Juli 1977 um Auskunft, ob infolgedessen die Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten erloschen sei. Auf einen entsprechenden Hinweis der Beklagten beantragte er sodann mit Schreiben vom 12. Oktober 1977, bei der Beklagten eingegangen am 17. Oktober 1977, gem § 7 Abs 2 AVG die Befreiung von der Angestelltenversicherung.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch den Bescheid vom 15. November 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1978 mit der Begründung ab, die Befreiung von einer Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG sei gesetzlich nicht vorgesehen; auch ein Verzicht auf diese Versicherung sei nicht statthaft.
Das Sozialgericht (SG) Reutlingen hat mit Urteil vom 29. Januar 1979 die Klage für begründet gehalten und die Beklagte verurteilt, den Kläger ab 17. Oktober 1977 von der Versicherungspflicht zu befreien. Das LSG Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und ausgeführt, der Kläger sei als Angehöriger einer Versorgungseinrichtung iSd § 7 Abs 2 AVG berechtigt, sich von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien zu lassen. Unerheblich sei, daß es sich dabei um eine Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG handele. Nicht rechtserheblich sei ferner, ob der Kläger sich auch von der Mitgliedschaft in dem Architektenversorgungswerk hätte befreien lassen können. Schließlich sei die Stellung des Befreiungsantrages nach § 7 Abs 2 AVG auch nicht an eine bestimmte Frist gebunden (Urteil vom 22. Januar 1980).
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie macht geltend, die Befreiungsvorschrift des § 7 Abs 2 AVG gelte jedenfalls nicht unmittelbar für die Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG. Auch bei einer entsprechenden Anwendung müsse der Befreiungsantrag aber in einer angemessenen "Überlegungsfrist" nach dem Eintritt der Voraussetzungen des § 7 Abs 2 AVG gestellt werden. Das sei beim Kläger nicht der Fall gewesen, vielmehr müsse vermutet werden, daß er die Antragspflichtversicherung nur wegen der zwischenzeitlich (vor allem durch das Zwanzigste Rentenanpassungsgesetz - 20. RAG - vom Jahre 1977) eingetretenen Leistungseinschränkungen der gesetzlichen Rentenversicherung aufgeben wolle.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
vom 22. Januar 1980 und das Urteil des Sozialgerichts
Reutlingen vom 29. Januar 1979 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Revision der Beklagten ist unbegründet; der Kläger ist gem § 7 Abs 2 AVG von der nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG begründeten Pflichtversicherung zu befreien.
Ein Versicherter kann von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung befreit werden, wenn er aufgrund einer durch das Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung seiner Berufsgruppe ist (§ 7 Abs 2 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG- vom 23. Februar 1957 - BGBl I 88); die in § 7 Abs 2, 2. Halbsatz AVG (idF des Gesetzes vom 25. Juni 1979 - BGBl I 797) normierten weiteren Voraussetzungen für eine Befreiung hat das LSG zutreffend für den zur Entscheidung stehenden Fall nicht geprüft, weil diese Gesetzesänderung erst am 1. Juli 1979 in Kraft getreten ist.
Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist das Versorgungswerk der Architekten in Baden-Württemberg eine öffentlich-rechtliche Versorgungseinrichtung für die Berufsgruppe der Architekten, der der Kläger als ein in die Architektenliste eingetragener Architekt als Pflichtmitglied angehört. Das LSG hat ferner unangefochten festgestellt, daß die Mitgliedschaft des Klägers bei diesem Versorgungswerk auch noch fortbesteht und der Kläger Beiträge leistet.
Das LSG hat schließlich zutreffend angenommen, daß die Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil die Pflichtversicherung des Klägers auf seinen Antrag gem § 2 Abs 1 Nr 11 AVG begründet worden ist.
§ 7 Abs 2 AVG ist vom Bundestag in der zweiten Lesung des AnVNG in dieses eingefügt worden. Der Gesetzgeber hat damit die Befreiungsmöglichkeit gegenüber der bisherigen Abgrenzung - Befreiung nur bei einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen (§ 7 Abs 1 AVG = § 1230 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-) - erweitert und auch eine Pflichtmitgliedschaft bei einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung der jeweiligen Berufsgruppe für ausreichend erachtet. Auf diese Weise hat er auch den Angehörigen der von § 7 Abs 2 AVG erfaßten Berufsgruppen die Möglichkeit eröffnen wollen, sich im Hinblick auf die als gleichwertig angesehene Mitgliedschaft in einer berufsständischen Sicherungseinrichtung von der - in der Regel durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung begründeten - Pflichtversicherung nach dem AVG befreien zu lassen. Dabei ist ihnen überlassen geblieben, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wollen; wenn sie es vorziehen, können sie auch die doppelte - dann freilich entsprechend kostenintensive - Sicherung beibehalten.
Es besteht kein Anlaß, dem Kläger, der die Voraussetzungen des § 7 Abs 2 AVG erfüllt, die Befreiung von der Pflichtversicherung zu versagen. Der Revision ist zwar einzuräumen, daß die Vorschrift des § 7 Abs 2 iVm Abs 3 AVG nicht auf die Antragspflichtversicherten gem § 2 Abs 2 Nr 11 AVG zugeschnitten ist. So ist in § 7 Abs 3 AVG nicht von einem Pflichtversicherungsverhältnis allgemein, sondern nur von einem (versicherungspflichtigen) "Beschäftigungsverhältnis" die Rede. Da der nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG pflichtversicherte Personenkreis nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, sondern eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, paßt der Wortlaut des § 7 Abs 3 AVG nicht auf die Antragspflichtversicherten iSd § 2 Abs 1 Nr 11 AVG. Dieser Umstand zwingt jedoch nicht dazu, sie von den nach § 7 Abs 2 AVG Befreiungsberechtigten auszunehmen. Der gegenüber dem Zweck des § 7 Abs 2 AVG zu enge Wortlaut des § 7 Abs 3 AVG erklärt sich zum Teil wohl schon aus der erst während des Gesetzgebungsverfahrens erfolgten Einfügung des § 7 Abs 2 AVG, im übrigen daraus, daß die Vorschriften über die Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG erst 1972 in Kraft getreten sind. Der Senat hat deshalb keine Bedenken, die zu enge Fassung des § 7 Abs 3 AVG durch eine erweiternde, den Fall einer selbständigen Erwerbstätigkeit mit umgreifende Auslegung den mit § 7 AVG allgemein und dessen Abs 2 im besonderen verfolgten Zwecken anzupassen; hätte nämlich der Gesetzgeber bei Schaffung der Antragspflichtversicherung die mangelnde Übereinstimmung der genannten Vorschriften erkannt, so hätte er nach der Überzeugung des Senats den Wortlaut des § 7 Abs 3 AVG entsprechend geändert.
Auch ein Antragspflichtversicherter muß daher zumindest dann, wenn er, wie der Kläger, erst nach der Begründung der Antragspflichtversicherung der Pflichtzugehörigkeit zu einem öffentlich-rechtlichen berufsständischen Versorgungswerk - unfreiwillig - unterworfen wird, in gleicher Weise wie die anderen Pflichtversicherten iSd § 2 Abs 1 AVG frei entscheiden dürfen, ob er sich von dem gesetzlichen Pflichtversicherungsverhältnis befreien lassen will oder nicht. Ob etwas anderes dann zu gelten hat, wenn die Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG zeitlich erst nach der Begründung der öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherung seiner Berufsgruppe beantragt wird oder beginnt, ist hier nicht zu entscheiden.
Die von der Revision vertretene Abgrenzung wird auch nicht dadurch gestützt, daß durch Art 3 Nr 2a des Gesetzes vom 25. Juni 1979 (BGBl I 797) mit Wirkung vom 1. Juli 1979 dem § 7 Abs 2 ein zweiter Halbsatz angefügt worden ist, mit dem das Befreiungsrecht, das zuvor nur von der Pflichtmitgliedschaft bei einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe abhängig war, von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht worden ist. Durch diese Gesetzesänderung sollte - anscheinend nur bei "angestellten", nicht bei sonstigen, insbesondere freiberuflich tätigen Mitgliedern - bei der Erbringung und Anpassung der Leistungen auch die finanzielle Lage der Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung berücksichtigt und dem Umstand Rechnung getragen werden, daß den Versicherungs- und Versorgungseinrichtungen für die Deckung der Ausgaben als Einnahmen nur die Beiträge der Mitglieder und die Erträge des Vermögens zur Verfügung stehen (Bundesrats-Drucks 4/79, S 30, Begründung zu Art 3 Nr 2 Buchst a).
Der Revision kann auch insoweit nicht zugestimmt werden, als sie hilfsweise meint, ein Antragspflichtversicherter müsse den Befreiungsantrag nach § 7 Abs 3 AVG innerhalb einer "angemessenen Überlegungsfrist" stellen. Das Antragsrecht nach § 7 Abs 1 und Abs 2 AVG ist schon nach dem Wortlaut des Gesetzes zeitlich nicht begrenzt. Vielmehr lassen der Wortlaut des § 7 Abs 3 AVG, insbesondere dessen zweiter Halbsatz, erkennen, daß der Antragsberechtigte sich jederzeit noch für die Befreiung von der Pflichtversicherung - dann jedoch nur mit Wirkung vom Zeitpunkt des Eingangs des Antrages an - entscheiden kann. Da mithin das Motiv für die Entschließung zur Antragstellung nach §7 Abs 2 AVG nicht entscheidungserheblich ist, kommt es auch nicht darauf an, ob der Kläger sich - wie die Revision meint, jedoch ohne sich auf entsprechende Feststellungen des LSG stützen zu können - in erster Linie wegen der durch das 20. RAG erfolgten Einschränkung der Leistungen aus der Angestelltenversicherung zur Stellung des Befreiungsantrages entschlossen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen