Leitsatz (amtlich)
1. Hat das OVA unter Aufhebung eines ablehnenden Bescheides den Versicherungsträger zur Rentenzahlung verurteilt und entzieht der Versicherungsträger nach Inkrafttreten des SGG während des Berufungsverfahrens die Rente wegen Änderung der Verhältnisse, so wird der Entziehungsbescheid als ein den früheren Bescheid ändernder Verwaltungsakt gemäß SGG §§ 96, 153 Gegenstand des Berufungsverfahrens. In einem solchen Falle ist die Entscheidung des LSG insoweit nicht nach SGG § 214 Abs 5 endgültig, als sie den neuen Verwaltungsakt betrifft.
2. Die Klage, mit der ein während des Berufungsverfahrens gemäß SGG §§ 96, 153 Gegenstand dieses Verfahrens gewordener neuer Verwaltungsakt vor dem SG angefochten wird, ist unzulässig (SGG § 94 Abs 2).
3. Ist ein neuer Verwaltungsakt gemäß SGG § 96 Gegenstand eines vor einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit rechtshängigen Verfahrens geworden, so hat der Vorsitzende des Gerichts die Beteiligten hierüber aufzuklären (SGG § 106 Abs 1); entscheidet das Gericht über den neuen Verwaltungsakt, ohne daß die Beteiligten oder einer von ihnen mit dieser Möglichkeit zu rechnen brauchten, so verstößt es gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (SGG § 62).
Normenkette
SGG § 96 Fassung: 1953-09-03, § 153 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 214 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03, § 94 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Dezember 1954 wird insoweit mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben, als der Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 1954 bestätigt worden ist. In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 20. November 1947 im Dienst der F einen Unfall. Er stürzte auf eisglatter Straße und schlug mit dem linken Oberschenkel auf seine Tabakspfeife, die er in der linken Rocktasche trug. Er zog sich eine Hautabschürfung am Oberschenkel zu und hatte Schmerzen in der linken Gesäßgegend, später auch im Kreuz. Drei Wochen nach dem Unfall zog er seinen Hausarzt Dr. K in O. zu Rate, im Mai 1948 den Chirurgen Dr. St in Kassel. Die Diagnose beider Ärzte lautete auf linksseitige Ischias. Im Oktober 1948 wurde der Kläger in der Universitätsklinik Göttingen untersucht. Die Gutachter der Nervenklinik und der Chirurgischen Klinik kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß eine Bandscheibenschädigung vorliege und die Beschwerden des Klägers zum großen Teil auf degenerative Prozesse zurückzuführen, jedoch durch den Unfall von 1947 wesentlich verschlimmert worden seien. Demgegenüber verneinten die ebenfalls im Feststellungsverfahren von der Beklagten mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragten Sachverständigen Dr. Sch Hamburg, und Dr. K Marburg, den ursächlichen Zusammenhang auch im Sinne einer Verschlimmerung. Gestützt auf die beiden zuletzt angeführten Gutachten lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 14. Dezember 1949 ab.
Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) Kassel angefochten. Auf Grund eines Gutachtens des Gerichtsarztes Dr. H der den Bandscheibenvorfall des Klägers als eine durch den Unfall hervorgerufene Verschlimmerung bei bestehender Anlage bezeichnete, hat das OVA. durch Urteil vom 25. Oktober 1950 den Unfall des Klägers als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall anerkannt und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger eine Rente für die in ihrer Höhe noch festzusetzende Minderung der Erwerbsfähigkeit zu zahlen. Gegen dieses auf Grund der Vereinf. VO vom 26. Oktober 1943 (RGBl. I S. 581) erlassene, am 8. November 1950 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15. November 1950 Rekurs eingelegt. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat sie die Weiterverfolgung des Rekurses als Berufung beantragt.
Die Beklagte nahm die Entscheidung des OVA. zum Anlaß, dem Kläger für die Folgezeit eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v. H. zu gewähren. Im April 1954 ließ sie den Kläger im Hermann-Schramm-Haus in Murnau durch den Neurologen Dr. D, den Internisten Dr. M und den Chirurgen Dr. Dr. G begutachten. Diese Sachverständigen kamen zu dem Ergebnis, die nach dem erstinstanzlichen Urteil durch den Unfall hervorgerufene Verschlimmerung des Grundleidens der Osteochondrose sei nicht mehr vorhanden, die jetzigen Beschwerden des Klägers entsprächen dem Zustand, der bei einem schicksalsmäßigen Ablauf des Leidens zu beobachten sei. Auf Grund dieser Gutachten entzog die Beklagte noch während des zweitinstanzlichen Verfahrens die seit dem 25. Oktober 1950 gewährte Rente durch Bescheid vom 23. Juni 1954 mit Ablauf des Monats Juli 1954. Als Rechtsmittelbelehrung enthielt der Bescheid den Hinweis, daß Klage vor dem Sozialgericht (SG.) Kassel erhoben werden könne. Dementsprechend hat der Kläger den Entziehungsbescheid am 20. Juli 1954 mit der Klage angefochten (Az. 3 U 1398/54). Über einen Aussetzungsantrag der Beklagten, der im Hinblick auf das vor dem Landessozialgericht (LSG.) schwebende Berufungsverfahren gestellt worden ist, hat das SG. bisher nicht entschieden; es hat auch noch keinen Verhandlungstermin anberaumt.
In dem Verfahren vor dem LSG. hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 19. Juli 1954 die Verwaltungsakten mit ihrem Entziehungsbescheid vom 23. Juni 1954 vorgelegt. Auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1954, zu welcher der Kläger nicht erschienen war, ist die Berufung der Beklagten mit der Begründung, die Entscheidung des OVA. sei gemäß § 2 Abs. 2 der Vereinf. VO vom 26. Oktober 1943 endgültig, als unzulässig verworfen worden. Zugleich hat das LSG. über den Entziehungsbescheid der Beklagten vom 23. Juni 1954 gemäß § 96 in Verbindung mit § 153 SGG entschieden und diesen bestätigt; es hat auf Grund der im Unfallkrankenhaus Murnau erstatteten Gutachten als erwiesen angesehen, daß die vom OVA. festgestellte unfallbedingte Verschlimmerung des Grundleidens des Klägers nicht mehr vorhanden sei. Die Revision hat das LSG. nicht zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 21. Dezember 1954 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 20. Januar 1955 Revision eingelegt und diese, nachdem die Begründungsfrist um einen Monat verlängert worden war, am 21. März 1955 begründet.
Die Revision ist darauf gestützt, daß das Verfahren des LSG. an wesentlichen Mängeln leide. Sie ist der Auffassung, das LSG. hätte über den Entziehungsbescheid nicht entscheiden dürfen, weil dieser den Erstbescheid weder geändert noch ersetzt habe und weil über den Erstbescheid nicht sachlich entschieden worden sei. Aus diesen Gründen hält die Revision § 96 SGG für verletzt. Sie rügt auch Verletzung des § 94 SGG, weil der neue Bescheid Gegenstand einer Klage vor dem SG. sei. Ferner führt sie aus: der Kläger habe nicht gewußt und nicht wissen können, daß auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1954 über den Entziehungsbescheid entschieden werde. Da er hierauf nicht hingewiesen worden sei, habe er keine Gelegenheit gehabt, sich zu äußern. Insoweit sei ihm also das rechtliche Gehör verweigert und die Möglichkeit genommen worden, die Anhörung eines Arztes seines Vertrauens zu beantragen. Es seien somit die §§ 62, 106, 112 Abs. 2 und 109 SGG verletzt. Einen weiteren Mangel des Verfahrens sieht die Revision darin, daß das LSG. lediglich auf Grund der im Auftrage der Beklagten in Murnau erstatteten Gutachten entschieden, sich dagegen mit den dem Kläger günstigen Gutachten der Universitätskliniken in Göttingen und Marburg nicht auseinandergesetzt und auch keinen neutralen Sachverständigen angehört habe.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es den Entziehungsbescheid vom 23. Juni 1954 bestätigt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Sie tritt den Ausführungen der Revision entgegen.
II
Der Senat hatte zunächst zu prüfen, ob nicht das LSG. gemäß § 214 Abs. 5 SGG über den gesamten Streitgegenstand endgültig entschieden hat und die Revision deshalb unstatthaft ist. Diese Frage hat der Senat verneint. Das LSG. hat allerdings über einen nach Inkrafttreten des SGG als Berufung weiterverfolgten Rekurs und damit in einem Falle des § 214 Abs. 4 SGG entschieden, dies jedoch nur hinsichtlich des Erstbescheides vom 14. Dezember 1949. Seine Entscheidung ist daher auch nur insoweit gemäß § 214 Abs. 5 SGG endgültig, nicht dagegen hinsichtlich des erst während des Berufungsverfahrens und nach Inkrafttreten des SGG ergangenen Entziehungsbescheides vom 23. Juni 1954. Bedenken gegen diese Auffassung lassen sich nicht etwa daraus herleiten, daß sie die teilweise Anfechtbarkeit und teilweise Unanfechtbarkeit desselben Urteils zur Folge hat. Zu einem solchen Ergebnis führen z. B. auch die Beschränkung der Revisionszulassung auf einen bestimmten Anspruch (BSG. 3 S. 135 (138) und die Verbindung (§ 213 SGG) eines nach § 214 Abs. 4 SGG als Berufung geltenden Rekurses mit einer gemäß § 215 Abs. 8 SGG übergegangenen, einen selbständigen Anspruch betreffenden Berufung (vgl. Urteil des BSG. vom 15.3.1957 - 9 RV 62/54 -). Auch im vorliegenden Falle hat der Vorderrichter über zwei selbständige Ansprüche des Klägers entschieden. Der erste, die Berufung der Beklagten verwerfende Teil seiner Entscheidung betrifft den Anspruch des Klägers auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom 14. Dezember 1949 und auf Gewährung einer Rente (nach dem System des SGG Anfechtungsklage in Verbindung mit einer Leistungsklage). Der zweite Teil der Entscheidung bezieht sich demgegenüber auf eine reine Anfechtungsklage, die aber nicht gegen den Erstbescheid, sondern gegen den neuen Verwaltungsakt vom 23. Juni 1954 gerichtet ist. Schließlich ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck des § 96 SGG - seine Anwendbarkeit im vorliegenden Falle vorausgesetzt - nur, daß verschiedene Verwaltungsakte, sofern das Gesetz eine Nachprüfung im Instanzenzuge noch zuläßt, vor allem im Interesse der Prozeßwirtschaftlichkeit unter bestimmten Voraussetzungen in demselben Verfahren nachgeprüft werden sollen. Dagegen ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß der neue Verwaltungsakt, der durch § 96 SGG in der angeführten Weise mit dem früheren Verwaltungsakt verbunden ist, auch hinsichtlich der Anfechtbarkeit dessen Schicksal teilen soll. Ist somit die Entscheidung über einen vor dem 1. Januar 1954 erlassenen Verwaltungsakt nach den Übergangsvorschriften des § 214 SGG nur beschränkt anfechtbar, so gilt diese Beschränkung nicht auch für die Anfechtbarkeit eines nach dem Inkrafttreten des SGG erlassenen Verwaltungsakts.
III
Die Rüge der Revision, das LSG. habe § 96 - in Verbindung mit § 153 SGG - zu Unrecht angewendet und dadurch gegen das Verfahrensrecht verstoßen, ist nicht begründet.
Voraussetzung für die Rechtsfolge des § 96 SGG ist einmal, daß das den Erstbescheid betreffende Verfahren bei Erlaß des Zweitbescheides rechtshängig ist. Dies trifft im vorliegenden Falle zu; denn am 23. Juni 1954 schwebte das durch die Anrufung des OVA. eröffnete Verfahren noch vor dem LSG. Entgegen der Auffassung der Revision wurde, wie der erkennende Senat bereits durch Urteil vom 24. Oktober 1956 - SozR. SGG § 96 Bl. Da 2 Nr. 3 - entschieden hat, die Rechtshängigkeit nicht dadurch beeinträchtigt, daß die Berufung der Beklagten nach der gemäß § 214 Abs. 5 SGG insoweit endgültigen und daher im Revisionsverfahren nicht nachprüfbaren Entscheidung des LSG. unstatthaft war. Die Rechtshängigkeit setzt nicht voraus, daß eine Sachentscheidung ergehen kann (so auch Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., Stand 1.9.1956, S. 242 r; vgl. auch Mellwitz, Komm. zum SGG, § 96 Anm. 5; LSG. Baden-Württemberg in Breith. 1955 S. 318; LSG. Schleswig in Breith. 1955 S. 432; LSG. Celle in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1957 S. 85; vgl. auch Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 461).
Weiter hängt die Anwendbarkeit des § 96 SGG davon ab, daß der neue Verwaltungsakt den früheren ändert oder ersetzt. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn der neue Verwaltungsakt die Beschwer des Betroffenen ändert, d. h. vermindert oder vermehrt (vgl. Hastler, Komm. zum SGG, § 96 Anm. 3 b; LSG. Baden-Württemberg in Breith. 1955 S. 318 (322)). Im vorliegenden Falle hat zwar der Entziehungsbescheid eine geringere Beschwer als der vorausgegangene Ablehnungsbescheid; denn er läßt das Schicksal des Rentenanspruchs des Klägers für die Zeit vom Unfall bis zum 31. Juli 1954 in der Schwebe, enthält also insoweit keinen negativen Ausspruch. Jedoch hat der Zweitbescheid nicht diese geringere Beschwer an die Stelle der ursprünglichen Beschwer gesetzt, vielmehr hat er die ursprüngliche Beschwer bestehen lassen. Sein Sinn ergibt sich erst in Verbindung mit dem Urteil des OVA. vom 25. Oktober 1950, das die Beklagte - jedenfalls für die Zeit bis zum Abschluß des Verfahrens in der höheren Instanz - verpflichtete, dem Kläger eine Rente zu gewähren. Gegenüber dieser durch das OVA.-Urteil bewirkten Änderung enthält der Zweitbescheid eine Vermehrung der Beschwer des Klägers. Auch auf einen solchen Fall ist § 96 SGG bei der nach dem Zweck und der Entstehungsgeschichte gebotenen weiten Auslegung der Vorschrift anzuwenden. Nach der Begründung zu § 43 des Regierungsentwurfs zur Sozialgerichtsordnung (BT.-Drucksache Nr. 4357/53) sollten nämlich durch die Vorschrift alle Bescheide ergriffen werden, die "den anhängigen Prozeßstoff beeinflussen können". Ein solcher Einfluß ist in der Regel gegeben, wenn - wie hier - in dem rechtshängigen Verfahren über den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Unfall gestritten wird und der neue Bescheid sich auf den Wegfall der - möglicherweise - auf den Unfall zurückzuführenden Beschwerden bezieht (vgl. auch Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 96 Anm. 1 Abs. 1; LSG. Celle in Breith. 1956 S. 36).
Der Anwendbarkeit des § 96 SGG steht auch nicht entgegen, daß nicht der Kläger, sondern die Beklagte das Berufungsverfahren vor dem LSG. in Gang gebracht hat. Die Rechtsfolge des § 96 tritt ohne Rücksicht auf die Stellung der Beteiligten im Verfahren für alle, die angeführten Voraussetzungen erfüllenden Verwaltungsakte ein, die vom Zeitpunkt der Klageerhebung bis zum Abschluß des Verfahrens in der Berufungsinstanz - für das Revisionsverfahren gilt § 171 Abs. 2 SGG - erlassen werden.
Die Auffassung der Revision, das LSG. hätte im Hinblick auf die von dem Kläger am 20. Juli 1954 beim SG. Kassel erhobene Klage nicht über den Entziehungsbescheid entscheiden dürfen, trifft nicht zu. Aus § 96 SGG ergibt sich die Rechtsfolge, daß der Entziehungsbescheid vom 23. Juni 1954 mit seinem Erlaß kraft Gesetzes Gegenstand des über den Erstbescheid rechtshängigen Verfahrens geworden ist. Es lag also schon eine rechtshängige Streitsache vor, als die den Entziehungsbescheid betreffende Klageschrift beim SG. Kassel einging. Infolgedessen ist die dort schwebende neue Klage wegen anderweiter Rechtshängigkeit der Sache unzulässig (§ 94 Abs. 2 SGG), nicht aber war das LSG. durch die anderwärts schwebende unzulässige Klage gehindert, über den Entziehungsbescheid mitzuentscheiden.
Nach alledem ist der Entziehungsbescheid Gegenstand des Verfahrens über den Erstbescheid geworden. In diesem Verfahren hat zunächst das OVA. den Rentenanspruch des Klägers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dieses Urteil war nach dem damals geltenden Recht ein Endurteil, das die Instanz abschloß (vgl. RVA. in AN. 92 S. 332 und EuM. 8 S. 388; RVO-Mitgl. Komm. § 1668 Anm. 1 Abs. 3; Schroeter in BG. 1955 S. 338). Vor dem OVA. blieb also im Unterschied zum Zivilprozeß (§ 304 Abs. 2 ZPO) nicht etwa ein Verfahren über die Höhe rechtshängig, das mit dem Inkrafttreten des SGG gemäß § 215 Abs. 2 SGG auf das SG. hätte übergehen können. Infolgedessen kommt als Verfahren, das gemäß § 96 in Verbindung mit § 153 SGG in seinem Streitgegenstand erweitert wurde, nur das durch das Rechtsmittel der Beklagten in die höhere Instanz gelangte Verfahren über den Grund des Rentenanspruchs in Betracht. Ob dies auch Rechtens wäre, wenn das Grundurteil unter der Herrschaft des SGG ergangen wäre (vgl. Peters-Sautter-Wolff a. a. O., § 130 Anm. 2) oder ob nunmehr ein Verfahren über die Höhe des Anspruchs bei der Instanz anhängig bleibt, die das Grundurteil erläßt (vgl. Schroeter a. a. O., S. 338), und ob alsdann das Verfahren über den Grund oder das Verfahren über die Höhe durch einen Zweitbescheid in seinem Streitgegenstand erweitert wird, brauchte der Senat nicht zu entscheiden.
IV
Die Rüge der Revision, dem Kläger sei hinsichtlich der Verhandlung und Entscheidung über den Entziehungsbescheid das rechtliche Gehör verweigert worden, ist begründet. Das LSG. konnte nicht voraussetzen, daß der Kläger § 96 SGG und seine Tragweite kannte. Dies gilt umso weniger, als der Kläger durch die dem Entziehungsbescheid angefügte unzutreffende Rechtsmittelbelehrung irregeführt worden war. Unter den gegebenen Umständen wäre der Vorsitzende des LSG. verpflichtet gewesen, den Kläger schon vor der mündlichen Verhandlung auf die Rechtsfolge des § 96 SGG hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 106 Abs. 1 SGG). In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, daß der Kläger wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. von dem Berichterstatter die Mitteilung erhielt, daß der Beklagten nahegelegt worden war, die nach der Auffassung des Gerichts unstatthafte Berufung zurückzunehmen. Dieser Umstand und die Unkenntnis von der Rechtsfolge des § 96 SGG konnten ihn veranlassen, von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abzusehen und sich auch nicht vertreten zu lassen. Daß das LSG. gleichwohl auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1954 über den Entziehungsbescheid entschieden hat, bedeutet eine teilweise Verweigerung des rechtlichen Gehörs und damit einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG und § 62 SGG. Außerdem sind die §§ 127 und 128 Abs. 2 SGG, die beide auf dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs beruhen, verletzt. Das LSG. hat bei seiner Entscheidung die von den Sachverständigen des Hermann-Schramm-Hauses in Murnau erstatteten Gutachten verwertet, welche die Beklagte mit Schriftsatz vom 19. Juli 1954 vorgelegt hatte. Dies konnte nur im Wege des Urkundenbeweises geschehen, der in der mündlichen Verhandlung erhoben wurde (§ 420 ZPO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG; vgl. hierzu Brackmann a. a. O. S. 244 l und 246 q; ferner Rosenberg a. a. O. S. 557 Ziff. 3). Wie sich den Akten des LSG. entnehmen läßt, ist der Kläger von der beabsichtigten Beweisaufnahme nicht benachrichtigt worden. Nach § 127 SGG darf aber, wenn ein Beteiligter nicht benachrichtigt worden ist, daß in der mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme stattfindet, und er weder zugegen noch vertreten ist, in diesem Termin ein ihm ungünstiges Urteil nicht erlassen werden. Außerdem hätte das Urteil des LSG. nicht auf die angeführten Gutachten gestützt werden dürfen, weil der Kläger weder von der Einbeziehung des Entziehungsbescheides in die Verhandlung noch von der Beweiserhebung wußte und er sich infolgedessen zu den Beweisergebnissen nicht äußern konnte (§ 128 Abs. 2 SGG).
In der angeführten mehrfachen Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, der die Statthaftigkeit der Revision begründet. Der Mangel ist in der durch § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Weise gerügt. Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist somit zulässig. Hiernach brauchte nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die weiteren von der Revision gerügten Verfahrensmängel vorliegen.
V
Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich zugleich, daß die Revision begründet ist. Es läßt sich nicht ausschließen, daß der Vorderrichter zu einer dem Kläger günstigen Entscheidung gelangt wäre, wenn er ihm hinsichtlich des Entziehungsbescheides rechtliches Gehör gewährt hätte. Da dies in einer Tatsacheninstanz zu geschehen hat, konnte das Bundessozialgericht in der Sache nicht selbst entscheiden, vielmehr mußte gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil insoweit mit den ihm zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden, als der Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 1954 bestätigt worden ist.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen