Entscheidungsstichwort (Thema)
Form der Berufungsschrift
Leitsatz (amtlich)
Das Empfangsbekenntnis nach VwZG § 5 Abs 2 kann selbst dann noch nach Ablauf der Berufungsfrist ausgestellt werden, wenn dadurch das Rechtsmittel unzulässig wird (vgl BGH 1961-06-14 IV ZR 56/61 = BGHZ 35, 236, 239).
Leitsatz (redaktionell)
Eine Berufungsschrift muß handschriftlich vom Berufungskläger oder seinem Bevollmächtigten unterschrieben sein; der maschinengeschriebene Vermerk "gez... nach Diktat verreist -" ersetzt nicht die Unterschrift.
Normenkette
SGG § 151 Abs. 1; VwZG § 5 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juli 1973 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Februar 1972 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. Dezember 1970 Entschädigungsleistungen an den Kläger wegen eines Unfalls ab.
Der Kläger hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Urteil vom 21. Februar 1972 verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 27. Juni 1969 zu entschädigen.
Das Urteil ist der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden. Das Empfangsbekenntnis, das am 11. April 1972 wieder beim SG eingegangen ist, trägt kein Datum des Empfangs des Urteils.
In einem von dem Vertreter der Beklagten nicht unterschriebenen Schriftsatz vom 9. Mai 1972 heißt es, die Beklagte lege "gegen das Urteil des SG Freiburg vom 21.2.1972 - S 12 a U 150/71 - zugestellt am 11.4.1972, Berufung ein". Der Schriftsatz endet mit dem Vermerk in Schreibmaschinenschrift "gez. ... - nach Diktat verreist -". Auf eine Rückfrage des Vorsitzenden des Berufungssenats hat die Beklagte in ihrem am 1. Juli 1972 beim Landessozialgericht (LSG) eingegangenen - unterschriebenen - Schriftsatz vom 29. Juni 1972 ausgeführt, sie sei der Ansicht, daß die mit Schriftsatz vom 9. Mai 1972 eingelegte Berufung zulässig sei. Die Berufungsschrift sei zwar nicht vom Prozeßbevollmächtigten der Beklagten eigenhändig unterschrieben, aber aus dem Inhalt der Berufungsschrift sei eindeutig zu entnehmen, daß diese mit Wissen und Willen des Verfassers bei Gericht eingegangen sei.
Das LSG hat mit Urteil vom 18. Juli 1973 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt: Die Berufung sei formrichtig eingelegt. Im Verfahren vor den Landessozialgerichten seien die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme des § 91 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entsprechend anzuwenden. Das bedeute aber, daß auch bei der Berufungseinlegung die Unterzeichnung der Schrift durch den Berufungsführer oder seinen Vertreter allenfalls eine Sollvorschrift sei. Entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien an die Berufungseinlegung, mit der zur Überprüfung der vorausgegangenen Entscheidung nur eine Fortführung des seitherigen Verfahrens bezweckt werde, hinsichtlich der vorgeschriebenen Schriftform keine höheren Anforderungen zu stellen als an die Klageerhebung, mit der ein Rechtsstreit eingeleitet werde. Der Senat schließe sich daher der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts (NJW 1966, 1043) an, wonach die vorgeschriebene Schriftform einer Berufungsschrift gewahrt sei, wenn sich der Schluß, die Berufungsschrift sei mit Wissen und Willen ihres Verfassers beim Gericht eingegangen, aus der Berufungsschrift selbst oder ihr beiliegenden Schriftstücken ergebe. Die Berufung sei auch begründet.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er führt aus: Das LSG habe zu Unrecht die Berufung als zulässig angesehen. Wegen der fehlenden Unterschrift sei das Rechtsmittel vielmehr unzulässig gewesen. Die Zustellung des Urteils des SG sei trotz der fehlenden Datumsangabe auf dem Empfangsbekenntnis wirksam, da sich der Zugang des Schriftstückes einwandfrei aus dem Empfangsbekenntnis ergebe und aus dem Eingangsstempel bei Gericht außerdem ersichtlich sei, daß das Urteil spätestens am 11. April 1973 als zugestellt angesehen werden müsse.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Februar 1972 als unzulässig zu verwerfen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das Urteil sei nicht formgerecht zugestellt worden, da das dem Urteil beigefügte Empfangsbekenntnis ohne Angabe des Datums unterschrieben worden sei. Die Berufungsfrist sei somit beim Eingang des Schriftsatzes vom 29. Juni 1972 noch nicht abgelaufen gewesen. Außerdem brauche die Berufungsschrift ebenso wie die Klageschrift nicht unterschrieben zu sein.
II.
Die zulässige Revision ist begründet.
Entgegen der Auffassung des LSG ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. u. a. BSG 1, 243; 5, 110; 6, 256; 16, 240, 242; 19, 191, 192) und in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung aller anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes (vgl. u. a. BGH LM Nr. 3 zu § 518 Abs. 1 ZPO; BGH Versicherungsrecht 1972, 767 und 1973, 86; BVerwG 2, 190; 13, 141; BVerwG Sammlung Buchholz 310 Nr. 7 zu § 124 VwGO; BVerwG Bayerische Verwaltungsblätter 1971, 117; BAG 3, 55; BFH NJW 1970, 1151) sowie der im Schrifttum vorherrschenden Meinung (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 236 y f.; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., § 151 Anm. 2; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl., § 151 Rdn. 24 - jeweils mit weiteren Nachweisen; aA Späth, Versicherungsrecht 1972, 24) weiter davon auszugehen, daß die Berufungsschrift, wenn sie dem Erfordernis der Schriftform entsprechen soll, handschriftlich unterschrieben sein muß. In dem vom Berufungsgericht angeführten Urteil vom 25. Juni 1963 (BSG 19, 191) hat das BSG nicht nur dargelegt (aaO S. 193), weshalb eine Widerspruchsschrift abweichend von der Berufungsschrift nicht unterschrieben sein muß, sondern es hat außerdem ausgeführt (aaO S. 194), daß erheblich strengere Formerfordernisse bei der Berufungs- und Revisionsschrift das Erfordernis der handschriftlichen Unterschrift auch dann rechtfertigen, wenn die Klage nicht handschriftlich unterschrieben zu sein braucht (s. BSG SozR Nr. 1 zu § 92 SGG). Hinzu kommt, daß der Schriftsatz der Beklagten vom 10. Mai 1972 nicht einmal mit einem Faksimilestempel (s. zur Klage BSG aaO) unterschrieben ist. Das LSG beruft sich für seine gegenteilige Auffassung zu Unrecht auf den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 14. Februar 1966 (NJW 1966, 1043, 1044). Das BVerwG geht in dieser Entscheidung ebenfalls davon aus, daß eine Berufungsschrift zu ihrer Wirksamkeit der eigenhändigen Unterschrift des Berufungsklägers oder seines Bevollmächtigten bedarf. Das BVerwG hat - wie die Rechtsprechung schon früher - Ausnahmen von diesem Grundsatz nur zugelassen, wenn der Schluß, der bestimmende Schriftsatz sei mit Wissen und Wollen seines Verfassers bei Gericht eingegangen, sich entweder aus der Berufungsschrift selbst (z. B. eigenhändig geschriebene Berufungsschrift - OVG Münster NJW 1963, 2044; Beglaubigung eines in Maschinenschrift auf die Berufungsschrift gesetzten Namens - BVerwG 10, 1, 2) oder doch jedenfalls aus der Berufungsschrift beiliegenden Schriftstücken ergibt (z. B. eigenhändig unterschriebene Abschriften oder eigenhändig unterzeichnetes Begleitschreiben - RG JW 1928, 106; KG JW 1930, 169). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Aus dem Schriftsatz vom 9. Mai 1972 selbst ergibt sich dies nicht. Der Zusatz "nach Diktat verreist" zeigt vielmehr, daß der zur Vertretung der Beklagten befugte Bedienstete den Schriftsatz vor Zusendung an das LSG überhaupt nicht mehr gesehen hat. Irgendwelche Schriftstücke lagen dem Schriftsatz nicht bei. Ebenso wie in dem der Entscheidung des BVerwG vom 14. Februar 1966 (aaO) zugrunde liegenden Fall kann die Beklagte nur geltend machen, der Umstand, daß die nicht unterzeichnete Berufungsschrift mit Wissen und Wollen ihres Bevollmächtigten bei Gericht eingegangen sei, ergebe sich aus dessen zeugenschaftlicher Bekundung, daß er - hier - die Berufungsschrift diktiert habe und auch Berufung habe einlegen wollen. Dies hat aber auch das BVerwG nicht als ausreichend für die Wahrung der Schriftform angesehen.
Dem unterschriebenen Schriftsatz der Beklagten vom 29. Juni 1972 ist zwar zu entnehmen, daß sie gegen das Urteil des SG vom 21. Februar 1972 Berufung einlegt. Dieser Schriftsatz ist jedoch erst am 3. Juli 1972 nach Ablauf der Berufungsfrist beim LSG eingegangen.
Das SG hat der Beklagten das Urteil am 11. April 1972 zugestellt. Das dem zuzustellenden Urteil beigefügte Formular eines Empfangsbekenntnisses ist unterschrieben, aber ohne Angabe des Datums an das SG zurückgesandt worden. Es bedarf keiner Entscheidung, ob eine wirksame Zustellung nach § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) nur vorliegt, wenn das Empfangsbekenntnis das Datum trägt, an dem das Urteil zugegangen ist (so u. a. BGHZ 35, 236; ebenso BayObLG Juristische Rundschau 1967, 347; OLG Schleswig MDR 1958, 171; Kohlrust/Eimert, Das Zustellungsverfahren nach dem Verwaltungszustellungsgesetz, 1967, § 5 Anm. 2 d; Peters/Sautter/Wolff aaO § 63 Anm. zu § 5 VwZG; Volbers, Beitragsrecht 1971, 289, 292; aA BVerwG Sammlung Buchholz 406.11 BBauG § 30 Nr. 5 und 340 § 5 VwZG Nr. 4). Das Empfangsbekenntnis kann jedoch auch später ausgestellt werden (BGH aaO S. 239; BGHZ 57, 160, 165; BFH 102, 457, 459). Die Beklagte hat in dem Schriftsatz vom 9. Mai 1972 ausgeführt, daß sie das Urteil am 11. April 1972 erhalten hat. Dieser Schriftsatz ist allerdings nicht unterschrieben. Dem Schriftsatz der Beklagten vom 29. Juni 1972 ist jedoch ausreichend sicher zu entnehmen, daß die Beklagte die Angaben und Ausführungen vom 9. Mai 1972 sich weiterhin zu eigen macht. Bei einem nachträglich mit Angabe des Datums und der Unterschrift bestätigten Empfang des Urteils liegt ein formgerechtes Empfangsbekenntnis vor. Es wird demnach nicht entgegen § 9 Abs. 2 VwZG ein Formfehler dadurch geheilt, daß der Zugang des Urteils aufgrund anderer Umstände nachgewiesen ist. Es ist vielmehr - anders als nach § 9 Abs. 1 VwZG - allein der Zustellungsempfänger dafür verantwortlich, ob er sich in der Lage sieht, nachträglich die Erklärung - z. B. aufgrund seiner Handakten - abzugeben, er habe das zugestellte Urteil an dem von ihm bezeichneten Tage erhalten (s. BGHZ 35, 236, 239). Somit ist der Empfang des Urteils des SG mit der Angabe des Zustellungsdatums und durch Unterschrift bestätigt. Anders als die Berufungsschrift muß das Empfangsbekenntnis nicht innerhalb der Berufungsfrist ausgestellt sein. Es kann auch noch ausgestellt werden, wenn dadurch das Rechtsmittel unzulässig wird (BGH aaO). Demnach kann es auch dahinstehen, ob das Empfangsbekenntnis einer Unterschrift bedarf (vgl. BVerwG aaO 340 § 5 VwZG Nr. 4).
Die Berufung der Beklagten ist demnach formgerecht erst am 3. Juli 1972 und somit verspätet eingelegt. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Dem erst in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war schon deshalb nicht stattzugeben, weil er verspätet gestellt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen