Entscheidungsstichwort (Thema)
Versorgungsanspruch wegen Besatzungspersonenschadens vor Ende des Zweiten Weltkriegs
Leitsatz (amtlich)
Versorgung nach dem BVG ist auch wegen eines Besatzungsschadens zu gewähren, den Angehörige der Besatzungsmacht vor Ende des Zweiten Weltkrieges verursacht haben.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BVG § 5 Abs. 2 Buchst. a; LKO Haag Art. 42
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 7. September 1995 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
An einem nicht näher bestimmbaren Tag nach Besetzung seines Heimatortes L. … /S. … durch US-amerikanische Truppen Mitte April 1945 und noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg am 7./8. Mai 1945 wurde der damals sechsjährige Kläger als Zuschauer eines Baseballspiels unter US-Soldaten durch einen Ball am Oberschenkel getroffen. Nach Auffassung des Klägers ist dadurch eine Osteomyelitis hervorgerufen worden und sind auf diese die heute bestehenden Gesundheitsstörungen im Stütz- und Bewegungsapparat (Versteifung beider Hüftgelenke, des rechten Knie- und Fußgelenkes sowie Teilversteifung des linken Knie- und Fußgelenkes) zurückzuführen.
Der Beklagte hat den nach Wiederherstellung der deutschen Einheit Ende 1990 gestellten Antrag des Klägers auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) abgelehnt, weil zwischen dem Unfall 1945 und der Erkrankung an Osteomyelitis kein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Aus diesem Grunde hat auch die Klage keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Dezember 1994). Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dagegen mit der Begründung zurückgewiesen, der Unfall habe sich bereits vor Kriegsende ereignet und sei deshalb kein Besatzungspersonenschaden nach § 5 Abs 2 Buchst a BVG (Urteil vom 7. September 1995).
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 5 Abs 2 Buchst a BVG und macht geltend, diese Vorschrift erfasse alle Besatzungsschäden nach dem Einmarsch fremder Truppen. Der Ausschluß von Schäden bis zur förmlichen Kapitulation führe für die Zeit zwischen der Besetzung eines Gebietes und dem Kriegsende am 7./8. Mai 1945 zu einer dem Gesetzeszweck widersprechenden Versorgungslücke.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 7. September 1995, das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Dezember 1994 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. Juni 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 1992 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1991 dem Grunde nach Beschädigtenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat Erfolg. Das angegriffene Urteil ist aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen, weil es an den für eine abschließende Entscheidung notwendigen Feststellungen fehlt (§ 170 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Entgegen der Auffassung des LSG begründet § 5 Abs 2 Buchst a BVG auch Versorgungsansprüche für Besatzungspersonenschäden aus der Zeit vor dem Kriegsende. Dies ergibt sich sowohl aus Wortlaut und Zweck der Vorschrift als auch aus ihrer Entstehungsgeschichte.
Der in § 5 Abs 2 Buchst a BVG verwendete Begriff der Besatzungsmacht ist im völkerrechtlichen Sinne (vgl BSG SozR 3100 § 5 Nr 9) zu verstehen. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, die Streitkräfte eines okkupierenden Staates seien erst dann „Besatzungsmacht”, wenn der Kriegsgegner, dessen Gebiet sie besetzt halten, bereits besiegt sei. Dem steht jedoch Art 42 der Anlage zum internationalen Abkommen betreffend Gesetze und Gebräuche im Landkrieg vom 18. Oktober 1907 (RGBl II 1910, 107 – Haager Landkriegsordnung –) entgegen. Dort heißt es:
Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet.
Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.
Danach ist ein Gebiet (oder Teilgebiet) bereits dann als besetzt anzusehen, wenn der militärische Widerstand gebrochen und die Regierungsgewalt ausgeschaltet ist (vgl Schmoller/Maier/Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, 1957, § 24a, S 20). Die Einstellung jeglicher Kampfhandlungen im gesamten – auch im noch nicht besetzten – Staatsgebiet und insbesondere eine militärische Kapitulation sind mithin nicht erforderlich.
Nach diesen völkerrechtlichen Grundsätzen war die US-Armee im Ort L. … /S. … zur Zeit des Sportunfalls Besatzungsmacht. Denn sie übte sowohl nach ihren eigenen Erklärungen als auch tatsächlich – wie das LSG unangegriffen und damit für den Senat bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes) festgestellt hat – die Herrschaftsgewalt in diesem Gebiet aus. Der oberste Befehlshaber der alliierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower, hatte mit der „Proklamation Nr 1” bereits lange vor Mitte April 1945 folgendes bekanntgemacht (vgl den Abdruck der Proklamation Nr 1 bei Brandl, Das Recht der Besatzungsmacht, 1947, 19 f):
I. Die alliierten Streitkräfte, die unter meinem Oberbefehl stehen, haben jetzt deutschen Boden betreten. …
II. Die höchste gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Machtbefugnis und Gewalt in dem besetzten Gebiet ist in meiner Person als oberster Befehlshaber der alliierten Streitkräfte und als Militärgouverneur vereinigt. …
Wie der Kläger zu Recht geltend macht, entspricht es außerdem dem Zweck des § 5 Abs 2 Buchst a BVG (vgl dazu BSG SozR 3-3100 § 5 Nr 3), Versorgungsansprüche auch für solche Personenschäden zu begründen, die nach Besetzung eines Gebietes aber vor der Kapitulation am 7./8. Mai 1945 durch ausländische Soldaten verursacht worden sind. Denn geschützt soll auch derjenige sein, der einen nach zivilrechtlichen Grundsätzen zu ersetzenden Besatzungspersonenschaden zu einem Zeitpunkt erlitten hat, zu dem eine Regelung für die Entschädigung von Besatzungsschäden noch nicht vorhanden war. Damit schließt das Versorgungsrecht diese zivilrechtliche Anspruchslücke, indem es Schäden, die durch Angehörige der Besatzungsmacht verursacht worden sind, zu nachträglichen Auswirkungen kriegerischer Vorgänge erklärt (§ 5 Abs 2 Buchst a BVG). Dieser Gesetzeszweck würde nur zum Teil erreicht, würde man – wie das LSG – annehmen, daß § 5 Abs 2 Buchst a BVG nur Schäden ausgleichen soll, die erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, obwohl die Besetzung deutschen Gebietes im Zweiten Weltkrieg und damit die Gefahr von Besatzungspersonenschäden bereits lange vorher im September 1944 eingesetzt hatte (vgl Maier in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Band 1, 1960, 190; Schmoller/Maier/Tobler, aaO, § 110, S 8).
Gegen die vom LSG vertretene Auffassung spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 5 Abs 2 Buchst a BVG. In den Verhandlungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das BVG hat der Vertreter des damaligen Bundesministeriums für Arbeit (BAM) zum zeitlichen Anwendungsbereich der Vorschrift erklärt, die Besatzungsmächte wollten die zivilrechtliche Verantwortung für Personenschäden erst ab 1. August 1945, teilweise erst ab 20. September 1945, übernehmen. Es sei aber klar, „daß die meisten Fälle vor diesem Tag zu dem Zeitpunkt, als die Besatzungstruppen einmarschierten, passiert seien” (Ausschußprotokoll, S 10 D). In einer späteren Sitzung des Ausschusses hat der Vertreter des BAM dann erklärt, man habe den 1. August 1945 nicht als Enddatum in § 5 Abs 2 Buchst a hineinnehmen wollen, da man nicht wisse, wie die Besatzungsmächte den Tag festsetzen würden. „Man wolle die Lücke schließen, zwischen dem Tag, den die Besatzungsmächte festsetzen würden, und dem der tatsächlichen Besetzung des deutschen Gebietes, also die Zeit zwischen März und August 1945” (Ausschußprotokoll, S 122 C). Diese im Gesetzgebungsverfahren abgegebenen und dort unwidersprochen gebliebenen Erläuterungen durch Beamte des für die Kriegsopferversorgung zuständigen Ministeriums belegen eindeutig, daß § 5 Abs 2 Buchst a BVG nicht erst für Schäden gelten sollte, die nach Kriegsende bis zur Übernahme zivilrechtlicher Verantwortung durch die Besatzungsmächte eingetreten sind, sondern auch für Schäden aus der Zeit von der Besetzung deutschen Gebiets an bis zur Kapitulation.
Danach könnte der Kläger einen Anspruch auf Versorgung wegen eines Besatzungspersonenschadens haben, falls seine Osteomyelitis mit den daraus folgenden Gesundheitsstörungen auf den Unfall vom April 1945 zurückzuführen sein sollte. Hierzu wird das LSG noch die erforderlichen Feststellungen treffen müssen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1174954 |
SozR 3-3100 § 5, Nr.4 |
SozSi 1998, 279 |