Leitsatz (redaktionell)
Für die Anwendung des BVG § 3 Abs 2 genügt es, wenn die Verhältnisse, unter denen die Zivilbediensteten der Wehrmacht arbeiten mußten, höhere Gefahren mit sich brachten als die Verhältnisse, unter denen in vergleichbaren Betrieben anderer Arbeitgeber während des Krieges gearbeitet werden mußte.
Normenkette
BVG § 3 Abs. 2 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. September 1957 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die 1923 geborene Klägerin wurde im Januar 1944 vom Arbeitsamt dienstverpflichtet und war auf Grund eines mit einer Wehrmachtseinheit abgeschlossenen Arbeitsvertrages vom 6. Januar 1944 an bei D... in einem Tunnel als Büroangestellte tätig. Nach halbjähriger Tätigkeit mußte sie wegen eines krankhaften Lungenbefundes einige Zeit mit der Arbeit aussetzen. Im Dezember 1944 kam sie mit ihrer Einheit nach Artern in Thüringen, von wo sie am 2. April 1945 nach Hause entlassen wurde. Im Mai 1952 beantragte die Klägerin Versorgung wegen einer im April 1947 festgestellten Lungentuberkulose, die nach ihrer Meinung durch die ungünstigen Verhältnisse in dem Tunnel entstanden ist. Das Versorgungsamt lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 19. August 1954 mit der Begründung ab, es habe sich nicht um eine Dienstverpflichtung auf Grund der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938, sondern um eine solche nach der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 gehandelt; die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit müsse deshalb als Zivildienst gelten. Dieser sei aber nicht gemäß § 3 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als militärähnlicher Dienst anzusehen, da er nicht mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit verbunden gewesen sei. Der Widerspruch wurde am 27. Oktober 1954 zurückgewiesen. Auf die Klage hin verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten dem Grunde nach, bei der Klägerin Lungen-Tbc als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen (Urteil vom 3. April 1957). Die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) zurück (Urteil vom 26. September 1957). Zur Begründung führte es aus, die Klägerin habe Zivildienst bei der Wehrmacht geleistet. Dieser gelte nach § 3 Abs. 2 BVG als militärähnlicher Dienst, wenn der Einsatz mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit verbunden gewesen sei. Dies sei bei der langdauernden Tätigkeit der Klägerin in einem Tunnel unter klimatisch ungünstigen Verhältnissen anzunehmen. Es sei angängig, die Tätigkeit der Klägerin, die mit der kriegsbedingten Unterbringung von Rüstungsbetrieben in einem Tunnel zusammenhänge, als eine Auswirkung kriegerischer Zustände auf das Heimatgebiet zu betrachten. Der Beklagte sei daher verpflichtet, die dadurch entstandenen Schädigungen anzuerkennen, und zwar im Sinne der Entstehung, wie sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. Sch... und Dr. R... ergebe und auch von dem Beklagten im Berufungsverfahren nicht bestritten worden sei. Der Anspruch auf Versorgung sei daher dem Grunde nach berechtigt. Das LSG ließ die Revision zu.
Gegen das am 12. November 1957 zugestellte Urteil legte der Beklagte am 26. November 1957 Revision ein und begründete sie am 14. Dezember 1957. Er rügt Verletzung des § 3 Abs. 2 BVG: Sinn und Zweck dieser Vorschrift sei es, denjenigen Personen Versorgung nach dem BVG zu gewähren, die während ihrer zivilen Tätigkeit bei der Wehrmacht besonderen Gefahren, in der Regel außerhalb der Reichsgrenzen, insbesondere im Osteinsatz, ausgesetzt gewesen seien und hierbei Gesundheitsschäden erlitten hätten. Dagegen sollten Gefolgschaftsmitglieder der Wehrmacht, deren Dienst sich in nichts vom reinen Zivildienst in Friedenszeiten unterscheide, von der Versorgung nach dem BVG ausgeschlossen sein. Dies ergebe sich auch aus den Verwaltungsvorschriften zu § 3 Abs. 2 BVG. Hiernach könnten im allgemeinen besondere, dem Kriege eigentümliche Gefahren nur bei einer Verwendung außerhalb des früheren Reichsgebiets anerkannt werden. Sie könnten in der Unterbringung, in der Verpflegung, in den klimatischen Bedingungen des betreffenden Gebiets und in den sanitären Verhältnissen gegeben sein. Diese Voraussetzungen seien aber bei der Klägerin nicht erfüllt. Ihr Dienst im Büro bzw. in einer Telefonzentrale sei zwar von einem ähnlichen Dienst insofern abgewichen, als die Arbeit bei künstlichem Licht, bei Heizung sowie Warmluft- und Entlüftungsanlagen verrichtet worden sei. Darin könnten aber bei den damaligen Verhältnissen keine solchen Umstände erblickt werden, die mit außergewöhnlichen Gefahren für die Gesundheit verbunden gewesen seien. Auch könne die Lungenerkrankung nicht als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anerkannt werden, weil die Klägerin im Alter von sieben Jahren einen Lungenspitzenkatarrh durchgemacht habe. Allein durch schlechte äußere Verhältnisse könne eine Lungen-Tbc nicht entstehen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 26. September 1957 und des SG Koblenz vom 3. April 1957 aufzuheben und die Klage gegen die Bescheide des Versorgungsamts K... bzw. Landesversorgungsamts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1954 und 27. Oktober 1954 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist teilweise begründet.
Das LSG hat, von der Revision nicht angegriffen und damit nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Bundessozialgericht (BSG) bindend, festgestellt, daß die Klägerin auf Grund eines Dienstvertrages bei der Wehrmacht Dienst geleistet hat. Ein solcher Dienst gilt nach § 3 Abs. 2 BVG dann als militärähnlicher Dienst, wenn der Einsatz mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit verbunden war. Hierzu ist aber nicht erforderlich, wie der Beklagte meint, daß es sich um eine Verwendung außerhalb des früheren Reichsgebiets gehandelt hat. Es genügt vielmehr, wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 9, 229, 230), wenn die Verhältnisse andere oder höhere Gefahren für die Gesundheit der Wehrmachtbediensteten mit sich brachten, als die Verhältnisse, unter denen Bedienstete anderer Arbeitgeber in gleichen oder ähnlichen Betrieben im Kriege zu arbeiten hatten. Denn während des Krieges hätten kriegseigentümliche Gefahren in gleicher Weise für Arbeitnehmer bei der Wehrmacht wie für Arbeitnehmer bei anderen Arbeitgebern bestanden. Bei der Frage, ob dies der Fall sei, dürften zum Vergleich allerdings nicht die Verhältnisse im Frieden herangezogen werden, sondern diejenigen, unter denen während des Krieges in gleichen oder ähnlichen Betrieben gearbeitet werden mußte. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn des Gesetzes sei zu entnehmen, daß die Zivilangestellten der Wehrmacht in der Heimat von der Einbeziehung unter § 3 Abs. 2 Halbsatz 2 BVG ausgeschlossen sein sollten. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an.
Das Vorliegen von besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit hat das LSG im vorliegenden Fall zutreffend festgestellt. Die Klägerin war bei ihrer langdauernden Tätigkeit in dem Tunnel klimatisch außerordentlich ungünstigen Verhältnissen ausgesetzt. Verschiedene Zeugen haben bekundet, die Räume im Tunnel seien ungesund und sehr feucht gewesen, so daß sich die Beschäftigten häufig Erkältungen und andere Krankheiten zugezogen hätten. Die einzelnen Räume waren lediglich mit Holz- oder Heraklitplatten abgeteilt. Sogar nachdem später Warmluftanlagen und elektrische Heizungen in Betrieb genommen waren, blieb eine erhebliche Feuchtigkeit zurück. Wenn man dabei berücksichtigt, daß der Arbeitsraum der Klägerin mindestens 500 m tief im Tunnel untergebracht war und daß über diesem eine Erddecke bis zu 70 m lag, so ist die Schlußfolgerung berechtigt, es habe sich um Verhältnisse gehandelt, die nicht mit den in Rüstungs- und anderen Betrieben während des Krieges üblichen verglichen werden können. Vielmehr hat die Klägerin praktisch unter Umständen gelebt, wie sie Soldaten in Bunkern und unterirdischen Befestigungsanlagen ausgesetzt waren. Hiergegen läßt sich auch nicht sagen, daß es in gewissem Umfang Rüstungsbetriebe gegeben hat, die unter ähnlichen Umständen haben arbeiten müssen. Denn auch diese Betriebe waren im Vergleich zu Rüstungsbetrieben über Tage insofern wesentlich ungünstiger gestellt.
Das LSG hat daher mit Recht angenommen, daß der Dienst der Klägerin mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren verbunden war und deshalb nach § 3 Abs. 2 BVG als militärähnlicher Dienst gilt. Insoweit ist die Revision des Beklagten unbegründet.
Der Beklagte rügt jedoch mit Recht, daß das LSG unter Verletzung von Verfahrensvorschriften die Lungenerkrankung als eine Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anerkannt hat. Denn das LSG hat seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt und das Recht der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten. Es stützt sich bei seiner Schlußfolgerung auf das Gutachten von Prof. Dr. Sch... und Dr. ... und auf den Umstand, daß der Beklagte im Berufungsverfahren keine Einwendungen gegen eine Anerkennung der Lungenerkrankung als Wehrdienstbeschädigung im Sinne der Entstehung erhoben habe. Ganz abgesehen davon, daß der Beklagte keinen zwingenden Anlaß hatte, auf diesen Punkt einzugehen, weil er der Auffassung war, der Dienst der Klägerin sei kein militärähnlicher Dienst gewesen, gibt es im sozialgerichtlichen Verfahren keine Feststellungen auf Grund von Nichtbestreiten und Zugeständnissen der Parteien, vielmehr hat das Gericht den Sachverhalt gemäß § 103 SGG von Amts wegen zu erforschen. Das genannte Gutachten reicht aber nicht aus, um eine Verurteilung in dem Sinne zu rechtfertigen, die Tbc sei durch den militärähnlichen Dienst entstanden. Denn das Gutachten besagt ausdrücklich, eine Tbc könne ohne Infektion nicht entstehen, vor allem nicht durch schlechte äußere Verhältnisse; es sei nicht bekannt, ob die Klägerin zur Zeit der Dienstverpflichtung mit offen Tuberkulösen zusammengearbeitet habe. Es bestehe aber die Möglichkeit, daß eine alte Tbc durch schlechte und ungünstige äußere Verhältnisse zum Aufflackern gebracht worden sei. Eine solche Tbc werde "in der Regel" für eine frische Erkrankung gehalten; sichere Schlüsse seien jedoch nicht möglich; es sei in etwa wahrscheinlich, daß bei der Patientin im Jahre 1944 eine alte Tbc aufgeflackert sei. Dieses Gutachten beantwortet also die Frage nicht klar, ob die Lungen-Tbc der Klägerin durch die Tätigkeit im Bunker entstanden oder nur verschlimmert ist. Das LSG hätte daher eine Ergänzung des Gutachtens veranlassen müssen. Indem es dies unterließ, hat es gegen § 103 SGG verstoßen. Außerdem liegt auch eine Verletzung des § 128 SGG vor, weil das LSG aus dem Gutachten Schlüsse gezogen hat, die aus ihm nicht zu entnehmen waren (vgl. SozR SGG § 103 Nr. 33, § 128 Nr. 45). Das Urteil des LSG war daher insoweit aufzuheben.
Da die Feststellungen nicht ausreichen, um dem BSG eine abschließende Entscheidung zu ermöglichen, mußte der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen