Entscheidungsstichwort (Thema)

Bisheriger Beruf

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung des "bisherigen Berufs" iS AVG § 23 Abs 2 S 2 (= RVO § 1246 Abs 2 S 2).

 

Leitsatz (redaktionell)

Als "bisheriger Beruf" kann grundsätzlich nur eine pflichtversicherte Beschäftigung oder Tätigkeit angesehen werden, weil nur der pflichtversicherte Beruf das Versicherungsrisiko bestimmt. Nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen oder Tätigkeiten scheiden hingegen als "bisheriger Beruf" selbst dann aus, wenn während ihrer Dauer eine freiwillige Versicherung bestanden hat oder eine bestehende Versicherung freiwillig fortgesetzt worden ist. Im übrigen ist unter der Voraussetzung, daß er nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt worden ist, bisheriger Beruf grundsätzlich die zuletzt ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Sie hat lediglich dann außer Betracht zu bleiben, wenn der Versicherte sie aus gesundheitlichen und damit gerade aus jenen Gründen, für die die gesetzliche Rentenversicherung einzustehen hat, ergriffen und deswegen eine frühere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgegeben hat. In diesem Falle liegt im rentenrechtlichen Sinne eine Lösung von dem früher ausgeübten Beruf nicht vor; er bleibt der bisherige Beruf. Diese Grundsätze gelten auch für Wanderversicherte, die während ihres Arbeitslebens nicht nur den Beruf, sondern auch den Versicherungszweig gewechselt haben.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.12.1977; Aktenzeichen L 8 An 9/77)

SG Köln (Entscheidung vom 06.10.1976; Aktenzeichen S 5 An 147/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit.

Der im Jahre 1929 geborene Kläger erlernte das Schmiedehandwerk und legte 1949 die Gesellenprüfung ab. Bis Juli 1964 war er als Baggerführer, Schmied und Schlosser beschäftigt. Daran anschließend war er bis Juli 1970 als Außendienstmitarbeiter bei verschiedenen Versicherungsunternehmen und schließlich von August 1970 bis Mai 1973 selbständig im Versicherungs- und Immobiliengeschäft tätig.

Seinen Antrag vom Juni 1974 auf Bewilligung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte nach Einholung ärztlicher Gutachten mit Bescheid vom 18. April 1975 ab, weil der Kläger noch in der Lage sei, in der ihm zumutbaren Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter mindestens halbschichtig tätig zu sein. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 6. August 1975).

Das Sozialgericht (SG) Köln hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Oktober 1976). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat nach weiterer Sachaufklärung die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 7. Dezember 1977). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger sei nicht berufsunfähig und erst recht nicht erwerbsunfähig. Trotz eines bei ihm bestehenden hirnorganischen Anfallsleidens mit gelegentlichen Zuständen von Bewußtlosigkeit könne er mit Ausnahme solcher Tätigkeiten, die mit einer Absturzgefährdung oder mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges verbunden seien, alle anderen Tätigkeiten täglich 8 Stunden verrichten. Das gelte beispielsweise für Büroarbeiten oder für das Prüfen und Kontrollieren von Werkstücken, weil hierbei ein gelegentlicher Anfall im allgemeinen weder den Kläger noch andere gefährden könne. Den Angaben des Klägers über die Häufigkeit der Anfälle könne nicht gefolgt werden. An Bürotätigkeiten kämen für ihn vornehmlich solche bei Versicherungsunternehmen im Buchhaltungsbereich oder in einer Fachabteilung in Betracht. Hierfür bringe er Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Außendienst sowie aus der Zeit seiner Selbständigkeit mit. Er könne aber auch Prüf- und Kontrollarbeiten insbesondere in der metallverarbeitenden Industrie verrichten, weil dies seiner anfänglichen beruflichen Tätigkeit entspreche. Hierbei könne er mindestens die Hälfte des Einkommens eines vergleichbaren gesunden Versicherten erzielen.

Mit der durch Beschluß des Senats zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 23, 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Das LSG habe ihn auf seine zuletzt ausgeübten Tätigkeiten im Außendienst von Versicherungsunternehmen und als Selbständiger im Versicherungs- und Immobilienwesen verwiesen. Dabei habe es übersehen, daß er den Beruf des Schmiedes erlernt und bis Juli 1964 in dem gleichgelagerten Beruf des Schlossers gearbeitet habe. Diesen erlernten und ausgeübten Beruf habe er, worauf er wiederholt hingewiesen habe, ausschließlich aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe er sich unter diesen Voraussetzungen von seinem bisherigen Beruf nicht gelöst. Das LSG hätte diesem Vorbringen nachgehen müssen und ihn nicht statt dessen auf Büroarbeiten bei einem Versicherungsunternehmen verweisen dürfen. Es sei nicht auszuschließen, daß das LSG bei Anwendung dieser Grundsätze zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 1977 und des Sozialgerichts Köln vom 6. Oktober 1976 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. April 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 1975 zu verurteilen, ihm ab 1. Juli 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren;

hilfsweise:

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat von einer Antragstellung abgesehen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch nachträgliche Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Hilfsantrages begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Rechtsgrundlagen für diesen Anspruch sind §§ 23, 24 AVG. Hiernach erhält bei Erfüllung der Wartezeit Rente wegen Berufsunfähigkeit der Versicherte, der berufsunfähig ist, und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist (§ 23 Abs 1, § 24 Abs 1 AVG). Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 23 Abs 2 Sätze 1 und 2 AVG). Erwerbsunfähig ist ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 24 Abs 2 Satz 1 AVG).

Bezüglich der Frage, ob ein Versicherter berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist, ist von seinem "bisherigen Beruf" auszugehen. Kann der Versicherte die bisherige Berufstätigkeit auch nach Eintritt der angeblich Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bedingenden Umstände ohne wesentliche Einschränkungen weiterhin ausüben, so schließt allein dies das Vorliegen von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit aus. Für eine Verweisung auf andere Tätigkeiten und für eine Erörterung der sozialen Zumutbarkeit dieser Verweisung ist dann kein Raum (vgl Urteil des Senats vom 13. März 1979 - 1/5 RJ 52/77 -). Aber auch wenn eine solche Verweisung in Betracht kommt, bedarf es der Feststellung des "bisherigen Berufs". Er ist sowohl im Rahmen des § 23 Abs 2 Satz 2 AVG für die Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist (vgl BSGE 43, 243, 244; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 29; Urteil des Senats vom 14. März 1979 - 1 RJ 84/78 -), als auch im Rahmen des § 24 Abs 2 Satz 1 AVG für die Frage, ob die sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergebenden äußersten Grenzen der Verweisbarkeit (vgl BSGE 19, 147, 149 f) gewahrt sind, von entscheidender Bedeutung.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kann als "bisheriger Beruf" grundsätzlich nur eine pflichtversicherte Beschäftigung oder Tätigkeit angesehen werden, weil nur der pflichtversicherte Beruf das Versicherungsrisiko bestimmt. Nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen oder Tätigkeiten scheiden hingegen als "bisheriger Beruf" selbst dann aus, wenn während ihrer Dauer eine freiwillige Versicherung bestanden hat oder eine bestehende Versicherung freiwillig fortgesetzt worden ist (vgl BSGE 41, 129, 130 = SozR 2200 § 1246 Nr 11 mwN; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsprechung vgl BVerfGE 47, 168, 176 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 28). Im übrigen ist unter der Voraussetzung, daß er nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt worden ist, bisheriger Beruf grundsätzlich die zuletzt ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit (vgl BSGE 41, 129, 130 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; BSGE 43, 243, 244 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 29). Sie hat lediglich dann außer Betracht zu bleiben, wenn der Versicherte sie aus gesundheitlichen und damit gerade aus jenen Gründen, für die die gesetzliche Rentenversicherung einzustehen hat, ergriffen und deswegen eine frühere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgegeben hat. In diesem Falle liegt im rentenrechtlichen Sinne eine Lösung von dem früher ausgeübten Beruf nicht vor; er bleibt der bisherige Beruf (BSGE 2, 182, 187; 15, 212, 214; 38, 14, 15; BSG SozR Nr 33 zu § 1246 RVO; 2200 § 1246 Nr 29; Urteil des Senats vom 14. März 1979 - 1 RJ 84/78 -). Diese Grundsätze gelten auch für Wanderversicherte, die während ihres Arbeitslebens nicht nur den Beruf, sondern auch den Versicherungszweig gewechselt haben (BSGE 26, 48, 49).

Die Revision beanstandet zu Recht, daß das angefochtene Urteil diesen Grundsätzen widerspricht. Es enthält schon nicht die Feststellung, welches der "bisherige Beruf" des Klägers gewesen ist. Eine solche Feststellung ist jedoch aus den dargelegten Gründen unabweisbar erforderlich. Das LSG ist demgegenüber, wie die Verweisung des Klägers sowohl auf Bürotätigkeiten bei Versicherungsunternehmen als auch auf Prüf- und Kontrollarbeiten insbesondere in der metallverarbeitenden Industrie erkennen läßt, alternativ von den Berufen als Außendienstmitarbeiter von Versicherungsunternehmen und als Schmied bzw als Schlosser ausgegangen. Eine derartige Alternativfeststellung ist rechtsfehlerhaft. Das LSG wird deswegen festzustellen haben, welche der vom Kläger während seines Arbeitslebens ausgeübten Berufstätigkeiten sein "bisheriger Beruf" gewesen ist. Hinsichtlich der Tätigkeit des Klägers als Außendienstmitarbeiter von Versicherungsunternehmen wird es dabei vor allem zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Einmal hat der Kläger während dieser Tätigkeit ersichtlich nur für relativ kurze Zeit Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Das legt eine Prüfung der Frage nahe, ob er diese pflichtversicherte Tätigkeit möglicherweise nur vorübergehend ausgeübt hat. Zum anderen und vor allem muß das Berufungsgericht der Frage nachgehen, ob der Kläger aus gesundheitlichen Gründen seinen früheren Beruf des Schmiedes bzw Schlossers aufgegeben und die Tätigkeit eines Außendienstmitarbeiters bei Versicherungsunternehmen aufgenommen hat. Der Kläger selbst hat dies während des Verwaltungsverfahrens (zB in der Widerspruchsschrift vom 5. Mai 1975; vgl auch S 5/6 des Gutachtens des Prof.Dr. H vom 8. Februar 1975) und während des Rechtsstreits (vgl zB S 2 der Klageschrift vom 5. September 1975) wiederholt behauptet. Das LSG hätte sich insoweit nicht mit der Auskunft der Firma B AG vom 31. Mai 1977, wonach der Kläger dort nicht beschäftigt gewesen und nicht bekannt sei, begnügen dürfen. Denn diese Auskunft steht in offenkundigem Widerspruch zu dem vom Kläger zu den Gerichtsakten gegebenen Zeugnis der Farbenfabriken B AG vom 25. September 1964. Das LSG wird daher erneut bei diesem früheren Arbeitgeber des Klägers anzufragen und erforderlichenfalls in anderer geeigneter Weise - zB durch Einholung ärztlicher Berichte über Behandlungen während der damaligen Zeit - die Gründe festzustellen haben, aus denen der Kläger bei der Firma B AG ausgeschieden ist. Sollte die hiernach erforderliche weitere Sachaufklärung ergeben, daß "bisheriger Beruf" des Klägers derjenige des Schmiedes oder des Schlossers ist, so wird das Berufungsgericht, sofern es den Kläger als zur Ausübung dieses Berufes nicht mehr fähig erachtet, bei der Bestimmung des Kreises der zumutbaren Verweisungstätigkeiten die einschlägige Rechtsprechung des BSG (vgl etwa das Urteil des erkennenden Senats in BSG SozR 2200 § 1246 Nr 29 mit zahlreichen Nachweisen) zu beachten und weiter zu berücksichtigen haben, daß die für eine Verweisung in Betracht kommenden Tätigkeiten grundsätzlich nicht durch allgemeine und pauschale Ausführungen, sondern konkret zu prüfen und zu benennen sind (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30; Urteile des BSG vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - und vom 13. März 1979 - 1 RJ 62/78 -).

Die hiernach erforderlichen tatsächlichen Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht treffen. Der Rechtsstreit ist deswegen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerde- und Revisionsverfahrens - an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655671

Breith. 1980, 672

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