Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. richterliche Überzeugungsbildung. Betriebsbann. Beweislast
Orientierungssatz
1. Ist die Beweiswürdigung - nach Auffassung eines Verfahrensbeteiligten fehlerhaft, so stellt dies für sich grundsätzlich noch keinen Revisionsgrund iS des § 163 SGG begründenden wesentlichen Verfahrensmangel dar (vgl BSG 1980-02-05 2 RU 75/79 = HVGBG RdSchr VB 87/80). Ein Verfahrensmangel ist nur gegeben, wenn das Gericht die Grenzen seiner Verpflichtung zu freier richterlicher Beweiswürdigung überschritten hat.
2. In der allgemeinen gesetzlichen Unfallversicherung ist grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sogenannten Betriebsbannes, nach dem der Versicherungsschutz - im Falle besonderer, einem Betrieb eigentümlichen Gefahr - auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (vgl BSG 1961-05-25 2 RU 264/57 = BSGE 14, 197, 200).
3. Erst die Nichtfeststellbarkeit von Geschehensabläufen wirft die Frage auf, zu wessen Lasten sie geht. Nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast geht die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen Verfahrensbeteiligten, welcher aus dieser Tatsache Rechte für sich ableitet (vgl BSG 1971-12-20 2 RU 88/71 = USK 71237).
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03, §§ 163, 160 Abs 2 Nr 3
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 28.06.1983; Aktenzeichen L 2 U 29/81) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 22.06.1981; Aktenzeichen S 15/3/3a U 2/78) |
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin (H.) verunglückte am 4. November 1976 tödlich auf dem LKW-Parkplatz der Autobahnraststätte Waldmohr an der Autobahn Kaiserslautern-Saarbrücken. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Tod durch einen Arbeitsunfall herbeigeführt wurde. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 22. Juni 1981) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 28. Juni 1983) haben dies nicht angenommen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
H. legte am Abend etwa zwischen 18.30 Uhr und 19.30 Uhr auf der Rückfahrt von Kundenbesuchen mit dem Lieferwagen seiner Arbeitgeberin an der Raststätte eine Pause ein. Es herrschten Nebel und Dunkelheit. Gegen 21.30 Uhr verließ er die Gaststätte nach dem Genuß von Kaffee. Zehn Minuten später wurde er auf dem LKW-Parkplatz tot aufgefunden. Die Leiche lag knapp 40 m von dem Lieferwagen, welcher schräg gegenüber dem Ausgang der Raststätte geparkt war, und mehr als 50 m von diesem Ausgang entfernt. Die Obduktion ergab als Folge einer flächenhaften stumpfen Gewalteinwirkung, welche auf den aufrecht stehenden H. eingewirkt hatte, ein schweres Schädel-Hirntrauma.
Die Beklagte lehnte durch ihren Bescheid vom 25. August 1977 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, H. habe sich im Unfallzeitpunkt auf einem betriebsunabhängigen Abweg befunden. Den Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1978 zurück. Darin ist ausgeführt, der Unfall des H. habe sich zu einem Zeitpunkt ereignet, in welchem er die Dienstfahrt vereinbarungsgemäß hätte beendet haben sollen. Die Überschreitung müsse der privaten Sphäre des H. zugerechnet werden.
Im Urteil des SG heißt es ua, H. habe die Betriebstätigkeit durch den Besuch der Raststätte unterbrochen gehabt. Auch der Weg von der Raststätte zum Unfallort sei ohne betrieblichen Zusammenhang zurückgelegt worden. H. sei zudem einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen.
Das LSG hat nicht mit ausreichender Sicherheit festzustellen vermocht, daß H. bei einer versicherten Tätigkeit den Tod gefunden hat. Der mit dem Gang zur Unfallstelle verbundene Zweck sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu ermitteln gewesen, so daß der zwischen dem Unfall und der Berufstätigkeit notwendige wesentliche innere Zusammenhang nicht als gegeben anzusehen sei. Daß H. sich nach anstrengender Fahrt im Nebel zur Wiedererlangung oder Erhaltung seiner Fahrtüchtigkeit Bewegung habe verschaffen wollen, sei zwar möglich, jedoch durch nichts belegt. Ebenso gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, daß H. sich zu dem von ihm benutzten Fahrzeug habe begeben wollen. Es sei denkbar, daß H. den Freitod gesucht habe; entsprechende Bemerkungen habe er im Anschluß an ein Strafverfahren gegenüber einer Zeugin gemacht. Ferner sei angesichts des Vorbringens gegenüber der zuständigen Staatsanwaltschaft auch möglich, daß H. Opfer eines Verbrechens geworden sei. Da H. nicht ohne weiteres innerhalb des gesamten Verkehrsraumes der Raststätte versichert gewesen sei, könne Unfallschutz nicht angenommen werden, obwohl eine den Versicherungsschutz aufhebende sogenannte selbstgeschaffene Gefahr nicht vorgelegen habe.
Nach der Auffassung der Klägerin hat das LSG die Grenzen freier richterlicher Überzeugungsbildung überschritten, weil die beim Tode des H. als möglich angesehenen betriebsunabhängigen Geschehensabläufe ausschließlich auf theoretischen Erwägungen des Gerichts beruhten. Sie dürften daher dem viel näher liegenden unfallversicherungsrechtlich erheblichen Hergang beim Tode des H. nicht entgegengesetzt werden.
Die Klägerin meint, daß H. sich an der Unfallstelle "im Verkehrsraum seiner Geschäftsreise" aufgehalten habe und folglich Versicherungsschutz nicht ausgeschlossen gewesen sei.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 28. Juni 1983, das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 22. Juni 1981 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. August 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Überzeugung hat die Klägerin die Folgen davon zu tragen, daß das LSG den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des H. und dem Eintritt seines Todes nicht hat feststellen können. Das LSG habe die vorliegenden Beweise richtig gewürdigt und zutreffend angenommen, daß H. am Unfallort nicht ohne weiteres unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet, weil das LSG trotz Ausschöpfung aller Beweismittel nicht festzustellen vermocht hat, daß H. im Unfallzeitpunkt eine dem Betrieb dienende Tätigkeit erledigte.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß H. sich am 4. November 1976 auf einem Betriebsweg befand und dabei gemäß § 539 Abs 1 Nr 1 iVm § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert war. Die von der Klägerin begehrte Leistung ist nach §§ 589, 595 RVO davon abhängig, daß H. "durch Arbeitsunfall" zu Tode gekommen ist. Ein Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 gegeben, wenn sich der Unfall bei der in § 539 Abs 1 Nr 1 RVO genannten Beschäftigung ereignet. Das LSG hat infolgedessen zutreffend geprüft, ob H. sich im Unfallzeitpunkt und am Unfallort bei seiner versicherten Tätigkeit befand, bzw ob er - anders ausgedrückt - den Unfall bei seiner Dienstreise erlitten hat. Es hat diese Frage angesichts des von ihm festgestellten - bzw für nicht feststellbar erachteten - Sachverhalts rechtsfehlerfrei verneint.
Das LSG konnte nicht feststellen, "welche Geschehnisse dem Tod (des H.) vorangegangen sind" (Seite 12). Insbesondere hat es nicht zu klären vermocht, welche Motive H. bewogen haben, sich an die Unfallstelle zu begeben (Seite 15). Es hat in diesem Zusammenhang erwogen, ob H. sich vor Antritt des verbliebenen Weges körperliche Bewegung verschaffen oder sein Fahrzeug aufsuchen wollte, ob er also zur ordnungsgemäßen Rückkehr zu seiner Arbeitgeberin notwendige oder vernünftige Vorkehrungen getroffen hat, welche zur versicherten Tätigkeit zu rechnen sind. Die Unmöglichkeit, entsprechende Feststellungen zu treffen, hat das LSG insbesondere auch angenommen, weil es angesichts des Geschehens, soweit es rekonstruierbar oder nachvollziehbar ist, auch andere Geschehensabläufe als möglich angesehen hat. Das LSG hat sowohl eine Selbsttötung des H. als auch - allerdings als entfernte Möglichkeit - ein Verbrechen ihm gegenüber nicht auszuschließen vermocht.
Die Revision wendet sich gegen die vom LSG angestellten Erwägungen und deren Ergebnis. Sie hält damit die Beweiswürdigung des LSG für unzutreffend. Das Berufungsgericht entscheidet nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG. Ist die Beweiswürdigung - nach Auffassung eines Verfahrensbeteiligten - fehlerhaft, so stellt dies für sich grundsätzlich noch keinen einen Revisionsgrund iSd § 163 SGG begründenden wesentlichen Verfahrensmangel dar (vgl BSGE 1, 150, 153; Urteil des Senats vom 5. Februar 1980 - 2 RU 75/79 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, § 244m VII). Ein Verfahrensmangel ist nur gegeben, wenn das Gericht die Grenzen seiner Verpflichtung zu freier richterlicher Beweiswürdigung überschritten hat.
Die Revision hat keine Gründe aufgezeigt, die eine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen der Verpflichtung zu freier Beweiswürdigung durch das LSG begründen. Sie hat insbesondere keine Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen dargelegt. Die Revision meint, die Erwägungen des LSG zu einer möglichen Selbsttötung des H. oder zu einem Verbrechen ihm gegenüber seien rein theoretischer Natur und aus diesem Grunde nicht geeignet, den Zusammenhang seines Unfalles mit der Zurücklegung des Betriebsweges für unfeststellbar zu halten. Dem vermag der Senat schon um deswillen nicht zu folgen, weil das LSG seine Beweiswürdigung insofern entgegen der Auffassung der Revision an vorhandene Tatsachen angeknüpft hat.
Das LSG hat nicht auszuschließen vermocht, daß H. den Freitod gewählt hat. Es hat in seinem Urteil (Seite 16) die Gründe für seine Schlußfolgerung im einzelnen dargelegt. Danach hat H. im Anschluß an ein für ihn ungünstig ausgegangenes Verfahren in Verzweiflung Selbsttötungsgedanken geäußert. Das LSG hat in diesem Zusammenhang die bevorstehende Entlassung des H. durch seine Arbeitgeberin in Betracht gezogen und den eigentlichen Unfallhergang nicht außer acht gelassen. Demgegenüber hat das LSG die Möglichkeit eines Verbrechens an H. offensichtlich nicht als sehr naheliegend angesehen und auch nur als "letztliche" Möglichkeit erwogen. Aber auch insofern hat es (Seite 16) nicht nur eine denkgesetzliche Möglichkeit erörtert, sondern hat diese vielmehr mit Tatsachen untermauert und dargelegt, warum ein solcher Geschehenshergang nicht ausgeschlossen werden kann.
Damit bleibt festzuhalten, daß die Angriffe der Revision gegen die freie richterliche Beweiswürdigung des LSG unbegründet sind. Das Bundessozialgericht (BSG) ist folglich gemäß § 163 SGG an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden.
Danach ist nicht feststellbar, daß H. bei der Ausübung einer betrieblichen Tätigkeit verunglückt ist. Dies allein würde jedoch den Versicherungsschutz im Unfallzeitpunkt begründet haben. Denn die weitergehende Auffassung der Revision, wonach H. im "Verkehrsraum" der Autobahn-Raststätte verunglückte und allein schon aus diesem Grunde versichert war, hält einer unfallversicherungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Denn in der allgemeinen gesetzlichen Unfallversicherung ist grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sogenannten Betriebsbannes, nach dem der Versicherungsschutz - im Falle besonderer, einem Betrieb eigentümlichen Gefahr - auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (vgl BSGE 14, 197, 200; Urteil des Senats aaO; Brackmann, aaO, S 480 g).
Soweit die Revision annimmt, die Beklagte müsse eine Lösung des H. von seiner betrieblichen Tätigkeit "schlüssig darlegen und beweisen", übersieht sie daß die Frage der Beweislastverteilung überhaupt erst rechtserheblich wird, wenn ein Gericht nach Ausschöpfung aller Beweismittel außerstande ist, bestimmte Tatsachen festzustellen (BSGE 27, 40, 42; Urteil vom 16. Dezember 1971 - 2 RU 118/70 -; s ferner BSGE 19, 52, 53; 30, 278, 280; SozR Nr 28 zu § 548 RVO; USK 71237). Erst die Nichtfeststellbarkeit von Geschehensabläufen wirft die Frage auf, zu wessen Lasten sie geht. Nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast geht die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen Verfahrensbeteiligten, welcher aus dieser Tatsache Rechte für sich ableitet (BSGE 30, 278, 280 mwN; USK aaO). Da das LSG keine betrieblichen Gründe für den Unfall des H. am 4. November 1976 hat feststellen können, ist somit ein Unfall bei einer versicherten Tätigkeit iSv § 539 Abs 1 Nr 1 RVO nicht gegeben (s auch BSG USK 7684). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG daher mit zutreffenden Gründen zurückgewiesen. Die Revision konnte ebenfalls keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen