Entscheidungsstichwort (Thema)

Wartezeit. Heimweg. Ausbildungsstätte. Lernender. Lehrling. Unterbrechung. Wiederholung. üblicher Weg

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz während einer notwendigen Wartezeit.

 

Orientierungssatz

1. Dem Versicherungsschutz gegen Wegeunfälle unterliegen auch alle Tätigkeiten, die im wesentlichen von dem Zweck geprägt sind, eine notwendige Wartezeit sinnvoll auszufüllen.

2. Ein Lehrling, dem man unter der Last einer längeren Wartezeit zubilligen muß, sich vorübergehend auch von der Stelle zu entfernen, an der der Heimweg fortgesetzt wird, steht jedenfalls auch unter Versicherungsschutz, wenn er sich zum Ende der Wartezeit wieder auf dem üblichen Weg von der Ausbildungsstätte zum Bahnhof befindet, um den Heimweg fortzusetzen (vgl BSG vom 30.1.1963 - 2 RU 197/61 = SozR Nr 40 zu § 543 RVO aF).

3. Verkehrsbedingte Verzögerungen, die eine Wartezeit von mehr als 2 Stunden für die Fortsetzung des Weges von der Arbeitsstätte verursachen, führen nicht zur Unterbrechung des Unfallversicherungsschutzes.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs 1 S 1, § 550 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 10.09.1987; Aktenzeichen L 5 U 211/86)

SG Koblenz (Entscheidung vom 13.11.1986; Aktenzeichen S 6 U 307/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls als Arbeitsunfall.

Der im Jahre 1944 geborene Kläger wurde vom 1. September 1959 an bei einem Schwermaschinenbau-Unternehmen in Leipzig als Schlosserlehrling ausgebildet. Er wohnte bei seinen Eltern in einer benachbarten Stadt. Um von der Wohnung seiner Eltern zu seinem Ausbildungsbetrieb zu gelangen, pflegte er zunächst mit der Eisenbahn etwa 35 km zum Leipziger Hauptbahnhof zu fahren, anschließend mit der Straßenbahn etwa 3 km zurückzulegen und den kurzen Rest der Wegstrecke zu Fuß zu gehen.

Am 29. Oktober 1959 wollte er nach Arbeitsschluß gegen 14.00 Uhr denselben Weg nach Hause zurücklegen. Als er jedoch mit der Straßenbahn beim Hauptbahnhof verspätet ankam, erreichte er nicht mehr den planmäßigen Anschlußzug zu seinem Wohnort. Deshalb war er gezwungen, etwa 3 Stunden lang auf den folgenden Zug zu warten, der in diese Richtung fuhr. Nachdem er das festgestellt hatte, suchte er zu Fuß eine nahegelegene Badeanstalt auf. Gegen 16.00 Uhr verließ er diese Einrichtung, um mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof auf einer Teilstrecke von etwa 600 m seines üblichen Weges von dem Lehrbetrieb zurückzufahren. Als er an der Haltestelle gegen 16.30 Uhr in die Straßenbahn zum Hauptbahnhof einsteigen wollte, stürzte er so unglücklich von der Bahn ab, daß seine beiden Beine überfahren wurden und er doppelseitig amputiert werden mußte. Der Ausbildungsbetrieb erstattete keine Unfallmeldung.

Den Antrag des Klägers vom 19. September 1972 auf Unfallrente lehnte die zuständige Verwaltung der Sozialversicherung ab. Auf den Einspruch des Klägers bewilligte die Bezirksbeschwerdekommission dagegen Unfallrente wegen eines Körperschadens von 80 vH ab 1. November 1973 als Einzelentscheidung aufgrund der Härte dieses Falles.

Nach seiner Übersiedlung am 15. August 1984 in die Bundesrepublik Deutschland begehrte der Kläger Unfallentschädigung von der Beklagten. Dies lehnte die Beklagte ab, weil er nach den für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden bundesrechtlichen Vorschriften keinen als Arbeitsunfall geltenden Wegeunfall erlitten habe; er sei auf einem unversicherten Abweg verunglückt (Bescheid vom 27. März 1985, Widerspruchsbescheid vom 12. September 1985).

Während der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz erfolglos geblieben ist (Urteil vom 13. November 1986), hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Beklagte verurteilt, "dem Kläger für die Folgen des Wegeunfalls vom 29. Oktober 1959 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren" (Urteil vom 10. September 1987): Es brauche nicht entschieden zu werden, ob der Kläger auch auf dem Weg vom Bahnhof zur Badeanstalt und von dort zur Straßenbahnhaltestelle unter Versicherungsschutz gestanden habe. Jedenfalls dann, als er die übliche Wegstrecke erreicht gehabt habe, auf der er regelmäßig mit der Straßenbahn zum und vom Ausbildungsort gefahren sei, habe Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) bestanden. In der Wahl des Weges und des Verkehrsmittels sei ein Versicherter grundsätzlich frei. Da keine Anhaltspunkte beständen, daß der Kläger aus wesentlich anderen Gründen den längeren Weg zur Haltestelle gewählt habe, als nach Hause zu gelangen, sei er auch zum Zeitpunkt des Unfalls versichert gewesen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und § 550 Abs 1 RVO. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichten für eine Verurteilung zur Unfallentschädigung nicht aus. Aber auch abgesehen davon habe das LSG § 550 Abs 1 RVO rechtsirrig angewandt. Der Versicherungsschutz, der für den Kläger auf dem Weg zum Hauptbahnhof ursprünglich bestanden habe, sei insoweit mit dem Erreichen des Bahnhofs verbraucht worden. Da es aus betrieblichen Gründen nicht erforderlich gewesen sei, den Weg vom Betrieb zum Hauptbahnhof ein zweites Mal zurückzulegen, habe der Kläger am Hauptbahnhof den versicherten Weg aus privaten, eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen. Das LSG habe nicht festgestellt, daß der Besuch der Badeanstalt aus betrieblichen Gründen notwendig gewesen sei. Es sei kein Umweg, sondern vom Hauptbahnhof aus ein unversicherter Abweg gewesen, den der Kläger zur Badeanstalt zurückgelegt habe. Dieser Abweg sei entgegen der Meinung des LSG nicht schon dann beendet gewesen, als der Kläger den Weg erreicht habe, den er zuvor schon einmal zum Hauptbahnhof gefahren sei, sondern er wäre es erst mit Erreichen des Hauptbahnhofs als Ausgangspunkt des Abweges gewesen. Deshalb hätten zum Zeitpunkt des Unfalls nicht die Voraussetzungen eines versicherten Wegeunfalls iS des § 550 Abs 1 RVO vorgelegen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. September 1987 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 13. November 1986 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Voraussetzungen für seinen Versicherungsschutz zum Zeitpunkt des Unfalls hätten deshalb vorgelegen, weil auch während der notwendigen Wartezeiten Versicherungsschutz bestehe. Um die wegen der Versäumung des ersten Zuges notwendige Wartezeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges zu überbrücken, habe er die nahegelegene Badeanstalt aufgesucht, um sich von der betriebsbedingten Verschmutzung zu reinigen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Zu Recht hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und der Klage stattgegeben.

Gemäß § 5 Abs 1 Nr 1 und Abs 4 Fremdrentengesetz (FRG) steht dem Kläger Unfallentschädigung zu, weil sein Unfall in Leipzig am 29. Oktober 1959 nach der Reichsversicherungsordnung idF vor dem am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (RVO aF), deren Anwendung § 7 FRG hier vorschreibt (s BSG SozR 5050 § 9 Nr 1), nach § 543 Abs 1 Satz 1 RVO aF als Arbeitsunfall (sogenannter Wegeunfall) gilt. Danach gelten als Arbeitsunfälle auch Unfälle auf einem mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weg nach und von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

§ 542 Abs 1 RVO aF - hier iVm § 543 Abs 1 Satz 1 RVO aF - setzt ebenso wie § 548 Abs 1 RVO nF iVm § 550 Abs 1 RVO nF voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Bei versicherten Wegen iS des § 543 Abs 1 RVO aF ist es die Notwendigkeit, eine Wegstrecke zurückzulegen, um von der privaten, unversicherten Lebenssphäre an den Ort der versicherten Betriebstätigkeit zu gelangen oder von dort aus wieder zurück zu einem Ort, an dem der Versicherte abschließend zur privaten Lebensgestaltung übergeht; dieser Ort ist in den überwiegenden Fällen - so auch im vorliegenden - die Wohnung des Versicherten.

Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die insoweit nicht mit begründeten Revisionsrügen angegriffen und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), reichen entgegen der Meinung der Beklagten aus, den Klageanspruch abschließend zu beurteilen. Eine Verletzung des § 103 SGG liegt deshalb nicht vor. Insbesondere lassen die tatsächlichen Feststellungen des LSG den erforderlichen inneren Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten des Klägers und seiner Betriebstätigkeit erkennen. Nach den Feststellungen des LSG wollte der Kläger gegen Ende der Wartezeit bis zur Abfahrt des Zuges an der letzten Haltestelle vor derjenigen am Hauptbahnhof in die Straßenbahn einsteigen, um zum Hauptbahnhof zu gelangen und von dort aus mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Dabei verunglückte er und erlitt dadurch die geltend gemachten Verletzungen.

Dieses Verhalten wurzelt nicht wesentlich allein in einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit losgelöst von der Betriebstätigkeit, nämlich der Lehrlingsausbildung, in der der Kläger an diesem Tage 8 Stunden lang an der Ausbildungsstätte gestanden hatte. Sondern es hängt stattdessen mit den Sonderbedingungen des Weges von der Ausbildungsstätte an diesem Tage zusammen. Denn der Kläger mußte wegen der Verspätung der Straßenbahn eine Wartezeit von etwa 3 Stunden ausfüllen, um seinen versicherten Heimweg fortsetzen zu können. Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) ständig entschieden, daß der Versicherungsschutz auch in derartigen Wartezeiten fortbesteht (s RVA, EuM 25,2; BSG SozR Nr 40 zu § 543 RVO aF; BSGE 10, 226, 228; 42, 42, 46 = SozR 2200 § 550 Nr 14; SozR 2200 § 550 Nr 52 und Nr 70; BSGE 57, 222, 225 = SozR § 550 Nr 67). Versichert sind dementsprechend jedenfalls alle Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die Wartezeit zu überstehen. Der Maßstab dafür darf sich nicht nur auf Verhaltensweisen des passiven Wartens beschränken, wenn das dem Versicherten unzumutbar ist. Der Kreis von Verhaltensweisen, die erforderlich sind, um Wartezeiten zumutbar überstehen zu können, wird um so größer, je länger die Wartezeit dauert und je mehr in der Person des Versicherten unabweisbare Bedürfnisse entstehen, sich in bestimmter Weise zu verhalten. Letzteres gilt besonders für Kinder und jugendliche Versicherte, die noch dem Spiel- und Bewegungstrieb jugendlicher Menschen unterliegen (s BSGE 42, aaO; 57 aaO; SozR 2200 § 550 Nr 52 und Nr 70). Beides gewinnt im vorliegenden Fall Bedeutung.

Jedenfalls für Versicherte wie den Kläger, der als Lernender während der beruflichen Ausbildung in Betriebsstätten auch dem Versicherungsschutz des § 537 Nr 11 RVO aF unterstanden hätte, gilt, daß es ihnen ebenso wie Schülern allgemeinbildender Schulen grundsätzlich nicht zugemutet werden kann, während einer Wartezeit von 3 Stunden an einen Ort wie den Bahnhof gebunden zu sein, von dem aus der Heimweg fortgesetzt werden muß. Der Kläger war erst 15 Jahre alt und weniger als 2 Monate gewöhnt, weit von zu Hause entfernt in einem körperlich anstrengenden Lehrverhältnis zu stehen.

Dem Versicherungsschutz gegen Wegeunfälle unterliegen danach auch alle Tätigkeiten, die im wesentlichen von dem Zweck geprägt sind, eine notwendige Wartezeit sinnvoll auszufüllen. Wie immer läßt sich das in der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls näher bestimmen. Kommen danach Wege in verschiedene Richtungen in Betracht, wird der Versicherte unter ihnen frei wählen dürften.

Jedenfalls aber ist es nach dem Vorstehenden versicherungsunschädlich, wenn sich der versicherte Lehrling zur Ausfüllung einer notwendigen, längeren Wartezeit entweder wieder zurück zur Ausbildungsstätte begibt und dort wartet, oder wenn er nur eine Teilstrecke dieses ursprünglich versicherten Weges ein zweites Mal zurücklegt, je nach Dauer der Wartezeit. Die Ausbildungsstätte und der übliche Weg dorthin sind diejenigen bekannten Daten, die regelmäßig von der Organisation des Lehrverhältnisses her Unfallversicherungsschutz gewährleisten. Daran darf sich der Versicherte orientieren. Ein Lehrling, dem man unter der Last einer längeren Wartezeit zubilligen muß, sich vorübergehend auch von der Stelle zu entfernen, an der der Heimweg fortgesetzt wird, steht jedenfalls auch unter Versicherungsschutz, wenn er sich zum Ende der Wartezeit wieder auf dem üblichen Weg von der Ausbildungsstätte zum Bahnhof befindet, um den Heimweg fortzusetzen (s BSG SozR Nr 40 zu § 543 RVO aF).

Das trifft nach den Feststellungen des LSG auf den Kläger zu. Seine notwendige Wartezeit von 3 Stunden war lang genug, um sich zu Beginn der Wartezeit eine relativ kurze Wegstrecke vom Bahnhof zu entfernen. Jedenfalls als er zum Ende der Wartezeit gegen 16.30 Uhr die letzten 600 m des üblichen Weges zum Hauptbahnhof ein zweites Mal mit der Straßenbahn zurücklegen wollte, um von dort aus seinen Heimweg fortzusetzen, stand er schon an der Straßenbahnhaltestelle nach § 543 Abs 1 RVO aF unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Wie schon das LSG läßt es deshalb auch der Senat dahinstehen, ob der Kläger auch in der Badeanstalt versichert gewesen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666660

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?