Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 08.08.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. August 1990 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
In dem Rechtsstreit um Hinterbliebenenentschädigung streiten die Beteiligten, ob der Ehemann und Vater der Klägerinnen, R … S … … (Verletzter), durch einen Arbeitsunfall gestorben ist.
Der Verletzte war als Meister in der Betriebsschlosserei einer Kompressorenfabrik beschäftigt. Am 13. Dezember 1984 verließ er nach dem Ende seiner Arbeitsschicht um 16.40 Uhr das Werksgelände durch das Werkstor, um den Heimweg anzutreten. Das Werksgelände mit seinen Betriebsgebäuden liegt in langgestreckter Front an einer öffentlichen Straße. An der anderen Seite dieser Straße, der weitgeschwungenen Einfahrt zum Betriebsgelände durch das Werkstor direkt gegenüber, befindet sich ebenfalls langgestreckt ein großer Parkplatz, der von der Straße durch einen mit niedrigen Sträuchern bepflanzten Grünstreifen getrennt war. Die östliche der beiden Ein- oder Ausfahrten des Parkplatzes liegt dem Werkstor annähernd gegenüber. Der gewöhnliche Heimweg des Verletzten führte vom Werk aus gesehen auf der öffentlichen Straße nach links in östliche Richtung. Da der Verletzte für die Wege nach und von dem Werk einen privaten Pkw benutzte, ging er am Unfalltag zu Fuß auf den gegenüberliegenden Parkplatz zu seinem auf dem hinteren, für Belegschaftsmitglieder reservierten Teil des Parkplatzes abgestellten Auto, stieg ein und fuhr los. In welche Richtung er fuhr, ist unaufgeklärt geblieben. Jedenfalls wurde er wenige Minuten später gesehen, als er sein Auto auf den vorderen, direkt an der Straße gelegenen und für Firmenkunden reservierten Teil desselben Parkplatzes abgestellt hatte und zu Fuß auf das Werkstor zuging. Mitten auf der Fahrbahn der öffentlichen Straße, in der Höhe der Einmündung zum Werksgelände, wurde der Ehemann und Vater der Klägerinnen von einem mit überhöhter Geschwindigkeit aus östlicher Richtung kommenden Pkw erfaßt, mitgerissen und zu Boden geschleudert. Seine dabei erlittenen Verletzungen waren tödlich.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab (drei Bescheide vom 29. Mai 1985 und drei Widerspruchsbescheide vom 26. Mai 1986). Während die Klägerinnen auch vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth keinen Erfolg gehabt haben, weil der Verletzte auf dem Weg zurück zum Betrieb verunglückt sei, wozu ein innerer Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit nicht habe festgestellt werden können (Urteil vom 8. Dezember 1988), hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Verwerfung der Berufung im übrigen verurteilt, den Klägerinnen Witwen- und Waisenrente zu gewähren (Urteil vom 8. August 1990): Der Tod des Verletzten sei durch einen Arbeitsunfall eingetreten (§ 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Der Verletzte habe, nachdem der Heimweg bereits begonnen worden sei, sein Fahrzeug verlassen, um offensichtlich wieder das Firmengelände zu betreten. Die Tatsache, daß er im öffentlichen Verkehrsbereich seines Heimweges angefahren worden sei, mache deutlich, daß er seinen Heimweg noch nicht unterbrochen gehabt habe. Die Unterbrechung hätte erst mit dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsbereichs der Straße begonnen. Unter diesen Umständen brauche es – das LSG – zu dem Vorbringen der Klägerinnen keine Stellung zu nehmen, daß die beabsichtigte Rückkehr des Verletzten in den Betrieb mit der Betriebstätigkeit im inneren Zusammenhang gestanden habe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts.
Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ließen nur den Schluß zu, daß der Verletzte keinen Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 RVO erlitten habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordere der Unfallversicherungsschutz nicht nur einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der versicherten Betriebstätigkeit, sondern auf Wegen auch die Einhaltung der vom Versicherungsschutz erfaßten Zielrichtung und vor allem einen inneren Zusammenhang der unfallbringenden Verrichtung mit der Betriebstätigkeit. Die Entscheidung über letzteren verlange Feststellungen darüber, aus welchen Gründen der Verletzte in den Betrieb habe zurückkehren wollen. Das LSG hätte das nicht dahinstehen lassen dürfen. Denn der unfallgeschützte Heimweg des Verletzten sei längst unterbrochen gewesen. Entweder dadurch, daß der Verletzte schon zuvor mit seinem Auto in die seinem Heimweg genau entgegengesetzte Richtung gefahren sei, oder jedenfalls später deshalb, weil er nach den Feststellungen des LSG zu Fuß in die Gegenrichtung zum Betrieb gelaufen sei, nachdem er sein Auto auf den für Firmenkunden reservierten Teil des Parkplatzes abgestellt gehabt habe. Der Heimweg habe durch diese totale Richtungsänderung eine so deutliche Zäsur erhalten, daß der Unfallversicherungsschutz sofort unterbrochen worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG zu ändern und die Berufung der Klägerinnen gegen das angefochtene Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Das LSG habe zutreffend entschieden, daß der Verletzte seinen Heimweg nur geringfügig unterbrochen habe und deshalb beim Überqueren der öffentlichen Straße versichert gewesen sei. Rein vorsorglich sei darauf hinzuweisen, daß im übrigen alle Umstände für eine Rückkehr in den Betrieb aus betrieblichen Gründen sprächen, wie sie schon im Berufungsverfahren vorgetragen hätten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen war. Es fehlen tatsächliche Feststellungen des LSG zu der Frage, aus welchen Gründen der Verletzte zum Werk umgekehrt ist. Entgegen der Meinung des LSG sind sie entscheidungserheblich. Nur wenn zur Überzeugung des Gerichts als erwiesen angesehen werden kann, daß der unfallbringende Rückweg des Verletzten zum Werk im inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis gestanden hat und der Verletzte deswegen unfallversichert gewesen ist, können die Rentenansprüche der Klägerinnen begründet sein.
Im Gegensatz zu der Meinung des LSG lassen seine bisherigen Feststellungen insoweit nur den Schluß zu, daß der Verletzte seinen nach § 550 Abs 1 RVO geschützten Heimweg abgebrochen hatte, als er tödlich verletzt wurde. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem angefochtenen Urteil stellte der Verletzte, nachdem er sich „offensichtlich” entschlossen hatte, wieder zum Firmengelände zurückzukehren, sein Auto auf den Kundenparkplatz ab, stieg aus und schlug zu Fuß die seinem Heimweg entgegengesetze Richtung ein, aus der er zuvor nach Betriebsschluß gekommen war. Auf diesem Rückweg zum Werk wurde er angefahren, als er gerade die Fahrbahn der öffentlichen Straße in dem Bereich überquerte, durch den er auch seinen Heimweg zu nehmen pflegte.
Selbst wenn man mit dem LSG davon ausgeht, daß der Verletzte ursprünglich das Werk verlassen hatte, um nach Hause zu fahren, müssen im weiteren Verlauf alle genannten Umstände des Einzelfalls zusammenhängend daraufhin geprüft werden, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 550 Abs 1 RVO auch noch bei der unfallbringenden Handlung erhalten geblieben sind. Das hat das LSG nicht berücksichtigt. Es hat die unfallbringende Handlung stattdessen isoliert als Überqueren der Fahrbahn im öffentlichen Verkehrsbereich des Heimweges gewürdigt. Weil das unzureichend ist, kann das LSG sich auch nicht auf die Rechtsprechung des Senats zur Bewegungsfreiheit des Versicherten im öffentlichen Verkehrsbereich seines Heimweges berufen, wie noch auszuführen sein wird.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Verletzter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit diesen Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO). Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit bestehen, der innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Fehlt es an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg zu und von der Arbeit gewöhnlich benutzt (BSG Urteil vom 12. Juni 1990 – 2 RU 58/89 – in … HV-Info 1990, 2064 mwN). Auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur eigenen Wohnung, dem Heimweg, wird gemäß § 550 RVO grundsätzlich ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muß (vgl zB BSG Urteil vom 27. Juli 1989 – 2 RU 10/89 – in BAGUV RdSchr 94/89 und Urteil vom 24. Januar 1991 – 2 RU 35/90 –). Dieser innere Zusammenhang setzt mit anderen Worten voraus, daß der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, nach Beendigung der Betriebstätigkeit die eigene Wohnung zu erreichen. Maßgeblich ist also die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (vgl das Urteil des Senats vom 8. Dezember 1988 – 2 RU 15/88 – mwN in HV-Info 1989, 521 = Breithaupt 1989, 872).
Alle vom LSG bisher festgestellten tatsächlichen Umstände des vorliegenden Falles deuten jedoch darauf hin, daß der Verletzte seinen unfallbringenden Weg nicht mit der Absicht zurücklegte, zu seiner Wohnung zu gelangen. Stattdessen machen sie es – wie das LSG zutreffend festgestellt hat – offensichtlich, daß die Handlungstendenz des Versicherten darauf gerichtet war, zum Werk zurückzukehren. Mangels eines entsprechenden inneren Zusammenhangs wird damit der unmittelbare Versicherungsschutz des Heimweges nach § 550 Abs 1 RVO abgebrochen und kann auf dem Rückweg nicht mehr ohne weiteres fortwirken.
Zwar trifft der Hinweis des LSG zu, daß die gesetzliche Unfallversicherung dem Versicherten grundsätzlich ein bestimmtes Maß an räumlicher Bewegungsfreiheit einräumt, ohne daß er negative versicherungsrechtliche Auswirkungen befürchten muß. Sie überläßt ihm nach freiem Belieben, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraums, in dem er seinen Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit zurücklegt, er sich bewegen will, ob er also von einem Bürgersteig zum anderen ein- oder mehrmals hinüberwechselt (Urteil des Senats vom 31. Oktober 1972 – 2 RU 99/71 – in USK 72162; BSG SozR 2200 § 550 Nr 69 jeweils mwN). Der Versicherungsschutz des Heimweges bleibt stets von solchem Seitenwechsel unberührt.
Ebenso zitiert das LSG auch zutreffend die Rechtsprechung des Senats, daß eine Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit erst beginnt, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat, und endet, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum wieder erreicht hat (BSGE 63, 26, 27 = SozR 2200 § 550 Nr 77 mwN).
Aber dieser Rechtsprechung des BSG liegen in einer wie der anderen Hinsicht ausnahmslos Fälle zugrunde, die in folgendem übereinstimmen. Der bisher zurückgelegte Heimweg ist als Annäherung an das Ziel im Ergebnis derart erhalten geblieben, daß entweder nach dem Durchqueren des öffentlichen Verkehrsraums oder sogar nach einer Unterbrechung wieder unbeschadet daran angeknüpft werden kann und im weiteren Verlauf des Heimweges nur die noch nicht zurückgelegte Wegstrecke zu bewältigen ist. Insoweit ist auch in allen entschiedenen Fällen der oben beschriebene innere Zusammenhang des Heimweges stets erhalten geblieben (s BSGE 20, 219, 220; 49, 16, 18; 63, 26, 27; BSG SozR 2200 § 550 Nr 69; BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 – 2 RU 99/71 – aaO; Urteil vom 31. Januar 1984 – 2 RU 83/82 – in HV-Info 1985 Nr 5, S 20 = USK 8410).
Davon zu unterscheiden sind Fälle wie der vorliegende. Wenn der Versicherte nicht nur geringfügig, wie im Vorübergehen – was hier wegen der Länge des Rückweges nicht in Betracht kommt –, die bisher auf dem Heimweg bewältigte Wegstrecke zurückgeht, um wieder zu seinem Betrieb als Ausgangspunkt zu gelangen, dann befindet er sich nicht mehr auf dem nach § 550 Abs 1 RVO geschützten Heimweg, weder nach dem Gesetzeswortlaut noch nach dem Sinn des Gesetzes. Der Heimweg ist vielmehr abgebrochen, sein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ist nicht mehr erhalten geblieben, weil die Annäherung an die eigene Wohnung als Ziel Schritt für Schritt wieder aufgehoben wird, und zwar derart, daß an die bisher zurückgelegte Wegstrecke nicht mehr angeknüpft werden kann.
Diese Grundgedanken sind auch der bisherigen Rechtsprechung des Senats zu entnehmen (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 24; Urteile vom 31. Juli 1985 – 2 RU 63/84 – in HV-Info 1985 Nr 19 S 19, vom 11. August 1988 – 2 RU 80/87 – in HV-Info 1988, 2015 = USK 88164; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 3 und BSG Urteil vom 19. März 1991 – 2 RU 45/90 –, zur Veröffentlichung bestimmt). Entscheidend war in allen diesen entschiedenen Fällen, daß der innere Zusammenhang des begonnenen und nach § 550 Abs 1 RVO geschützten Weges völlig aufgehoben und durch eine andere Handlungstendenz des Versicherten ersetzt war. Das entnahm das BSG zum einen daraus, daß der Versicherte zu einem anderen Zweck und Ziel die bisher benutzte Wegstrecke selbst im öffentlichen Verkehrsbereich wieder in umgekehrter Richtung zurücklegte (s Urteile vom 31. Juli 1985 – 2 RU 63/84 – aaO und vom 19. März 1991 aaO), oder zum anderen daraus, daß aus dem ruckartigen Steuern des Pkw auf die Gegenfahrbahn selbst im öffentlichen Bereich des Heimweges auf eine ausgewechselte Handlungstendenz des Versicherten iS einer Selbsttötungsabsicht zu schließen war (s BSGE 58, 76, 77 f).
Danach hängt der Versicherungsschutz des Verletzten auf seinem unfallbringenden Rückweg zum Werk davon ab, ob der Weg für sich genommen im inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis stand; der Zusammenhang könnte sich zB daraus ergeben, daß der Versicherte noch eine betriebliche Tätigkeit verrichten wollte oder plötzlich ein Hindernis aufgetreten war, den Heimweg fortzusetzen, das die Umkehr erforderlich machte (vgl BSG SozR 3-2200 § 48 Nr 3 und Urteil vom 11. August 1988 – 2 RU 80/87 – aaO).
Da das LSG – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig -dazu ausdrücklich nicht Stellung genommen hat, wird es die notwendigen Feststellungen nachzuholen haben. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, daß sich die Klägerinnen möglicherweise in einem Beweisnotstand befinden (vgl das Urteil des Senats vom 12. Juni 1990 – 2 RU 58/89 – in HV-Info 1990, 2064).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen