Orientierungssatz
Revisionsbegründungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Verwerfung der Revision - Witwenrente - überwiegender Unterhalt der Familie - letzter wirtschaftlicher Dauerzustand - einkommenslose Zeit vor dem Tode von 1 1/2 Monaten.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 1 Fassung: 1974-07-30; RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 67 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 11.11.1975; Aktenzeichen L 10 J 521/74) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 22.11.1974; Aktenzeichen S 8a J 94/73) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. November 1975 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau die Witwerrente nach § 1266 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Ehefrau des Klägers hatte den erlernten Beruf als Köchin auch während der Ehe mit dem Kläger ausgeübt. Seit dem 1. Januar 1971 war sie Geschäftsführerin eines Speiselokals. Sie wurde am 16. Juni 1972 entlassen. Danach war sie ohne Arbeit. Am 29. Juli 1972 starb sie an den Folgen eines Verkehrsunfalls.
Der Kläger, der als Vermessungsgehilfe tätig war, beantragte am 10. August 1972 die Witwerrente aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. Januar 1973 ab, weil die Versicherte den Unterhalt der Familie nicht überwiegend bestritten habe.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ist davon ausgegangen, daß § 1266 RVO zur Zeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und insbesondere mit Art 3 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) zu vereinbaren sei. Dem Kläger stehe die Witwerrente nicht zu, weil die Versicherte zur Zeit des Todes den Familienunterhalt nicht überwiegend bestritten habe. Maßgebend sei der letzte wirtschaftliche Dauerzustand. Die Ehefrau des Klägers habe lediglich während ihrer Beschäftigung als Geschäftsführerin eines Lokals ein höheres Einkommen gehabt als der Kläger. Dieses Beschäftigungsverhältnis sei im Zeitpunkt des Todes aber bereits durch fristlose Kündigung auf Dauer beendet gewesen und könne daher nicht berücksichtigt werden. Zwar beständen auch Bedenken, die einkommenslose Zeit von der Kündigung bis zum Tode zugrunde zu legen. Es läge vielmehr nahe, von einem Einkommen der Versicherten als Köchin auszugehen, das aber geringer gewesen sei als das Einkommen des Klägers. Es könne dahinstehen, ob die Behauptung des Klägers zutreffe, die Versicherte hätte die Leitung des Kolpinghauses übernommen und sich damit im Vergleich zu ihrer früheren Stellung als Geschäftsführerin noch verbessert. Maßgebend sei nicht eine Prognose für die Zeit nach dem Tode, sondern der tatsächlich von der Versicherten zum Familienunterhalt erbrachte Beitrag. Als Unterhaltsbeitrag müsse zwar auch die Haushaltsführung berücksichtigt werden. Angesichts einer annähernd gleichen Inanspruchnahme der Versicherten und des Klägers durch die Erwerbstätigkeit sei davon auszugehen, daß die Unterhaltsbeiträge der Ehegatten durch Haushaltsführung und Kinderbetreuung sich im vorliegenden Fall gegeneinander aufhöben.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Der erkennende Senat hat die Revision des Klägers mit Beschluß vom 11. November 1975 wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Dem Kläger ist jedoch mit Beschluß des erkennenden Senats vom 12. Juli 1976 wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden.
Der Kläger ist der Ansicht, es sei das Einkommen seiner Ehefrau als Geschäftsführerin zugrunde zu legen, da der Versicherungsfall eine weitere Erwerbstätigkeit verhindert habe, zumal seine Ehefrau die Leitung des Kolpinghauses übernommen hätte, wenn der Versicherungsfall nicht eingetreten wäre. Als Geschäftsführerin habe seine Ehefrau aber mehr verdient als er und den Familienunterhalt überwiegend bestritten.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Hinterbliebenenrente vom 29. Juli 1972 an zu bewilligen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig, obwohl der Kläger die Revisionsbegründungsfrist versäumt und der erkennende Senat deshalb die Revision mit Beschluß vom 11. November 1975 als unzulässig verworfen hat. Mit Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch Beschluß vom 12. Juli 1976 ist der Verwerfungsbeschluß unwirksam geworden, ohne daß es seiner ausdrücklichen Aufhebung bedurfte. Die Rechtskraft des Berufungsurteils ist damit rückwirkend beseitigt worden (vgl Stein-Jonas, Komm. zur Zivilprozeßordnung - ZPO -, 19. Aufl, 1972, Anm II 4 zu § 238; Wieczorek, ZPO und Nebengesetze, 2. Aufl, 1976, Rand-Ziff B III b zu § 238; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 35. Aufl 1977, Übersicht vor § 230 Anm 3). Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewirkt, daß die nachgeholte Revisionsbegründung als innerhalb der Revisionsbegründungsfrist eingereicht gilt. Die danach zulässige Revision des Klägers hat mit ihrem Hilfsantrag Erfolg. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus, so daß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß § 1266 RVO nicht gegen das GG verstößt und daher in seiner jetzigen Fassung anzuwenden ist. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 12. März 1975 zwar den Gesetzgeber für verpflichtet erklärt, sich um eine sachgerechtere Lösung zu bemühen. Es hat jedoch eine Entscheidung, daß § 1266 RVO mit dem GG unvereinbar sei, gegenwärtig nicht treffen können (vgl SozR 2200 Nr 2 zu § 1266).
Nach § 1266 RVO erhält Witwerrente der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Diese Vorschrift enthält keine ausdrückliche Bestimmung darüber, in welcher Zeit die Versicherte den überwiegenden Familienunterhalt bestritten haben muß. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode der Ehefrau der Zeitraum, der für die Prüfung dieser Voraussetzung maßgebend ist (vgl SozR Nr 3 zu § 1266 RVO). Wegen der Unterhaltsersatzfunktion stellt § 1266 RVO - ähnlich wie bei § 1265 RVO - auf die letzte dauerhafte Unterhaltssituation vor dem Tode der Versicherten ab, weil der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, daß diese Unterhaltsleistung ohne den Tod der Versicherten fortbestanden hätte. Dabei kommt es allerdings nicht auf eine in die Zukunft gerichtete Prognose an, sondern lediglich auf die Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes, dessen Fortbestehen der Gesetzgeber vermutet. Im allgemeinen wird daher der bis zum Tode der Versicherten fortbestehende wirtschaftliche Zustand maßgebend sein. Das gilt jedoch dann nicht, wenn die zur Zeit des Todes der Versicherten bestehende wirtschaftliche Situation der Eheleute lediglich vorübergehender Natur war (vgl BSG in SozR Nrn 3 und 13 zu § 1266 RVO).
Danach muß die kurze Zeit vom 16. Juni 1972 bis zum 29. Juli 1972, während der die Versicherte ohne Einkommen war, unberücksichtigt bleiben. Nach den Feststellungen des LSG spricht der Versicherungsverlauf gegen die Annahme, daß die Versicherte mit der Kündigung am 16. Juni 1972 endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wäre. Bei der kurzen beschäftigungslosen Zeit hat es sich also um einen lediglich vorübergehenden Zustand gehandelt, der bei der Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes unberücksichtigt bleiben muß.
Scheidet der unmittelbar vor dem Tode bestehende wirtschaftliche Zustand aber aus, so muß der davor bestehende, dem Tode zeitlich am nächsten liegende Dauerzustand maßgebend sein. Das gilt entgegen der Ansicht des LSG auch dann, wenn dieser Zustand im Zeitpunkt des Todes bereits beendet gewesen ist. Bleibt der unmittelbar vor dem Tode bestehende wirtschaftliche Zustand wegen seiner vorübergehenden Natur unberücksichtigt, so muß notwendigerweise auf einen früheren und bereits beendeten wirtschaftlichen Zustand zurückgegriffen werden. Maßgebend ist daher die Zeit, während der die Versicherte als Geschäftsführerin eines Speiselokals tätig gewesen ist. Dieser Zustand hat immerhin mehr als ein Jahr lang gedauert, so daß er sich nicht schon wegen der Kürze der Zeit als vorübergehender Zustand darstellt (vgl BSG in SozR Nr 3 zu § 1266 RVO). Es hat sich auch nicht um eine Tätigkeit gehandelt, die dem übrigen Berufsleben der Versicherten so artfremd war, daß sie deshalb als vorübergehende Episode bezeichnet werden könnte. Die Übernahme der Geschäftsführung eines Speiselokals ist für eine gelernte Köchin nicht der Wechsel zu einem anderen Beruf, sondern die Weiterentwicklung und der Aufstieg im bisherigen Beruf. Es besteht daher kein Grund, die Zeit der Beschäftigung als Geschäftsführerin eines Speiselokals unberücksichtigt zu lassen und auf die vorherige Tätigkeit als Köchin zurückzugreifen. Ob die Versicherte ohne den Tod wieder eine Tätigkeit als Geschäftsführerin gefunden hätte oder ob sie zur Tätigkeit einer Köchin hätte zurückkehren müssen, ist unbeachtlich. Der Gesetzgeber unterstellt aufgrund einer generalisierenden Betrachtungsweise unwiderlegbar, daß der letzte Dauerzustand vor dem Tode ohne den Tod der Versicherten wahrscheinlich fortbestanden hätte. Daher ist ohne Bedeutung, wie sich die Verhältnisse voraussichtlich ohne den Tod der Versicherten entwickelt haben würden (vgl BSG in SozR Nr 11 zu § 1266 RVO).
Das LSG hat zwar angenommen, daß die Versicherte nur während ihrer Beschäftigung im "G" vom 1. Januar 1971 bis zum 16. Juni 1972 ein höheres Einkommen als der Kläger gehabt habe. Diese lediglich am Rande und pauschal getroffene Feststellung reicht jedoch zur Entscheidung der Frage nicht aus, ob die Versicherte während dieser Zeit den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Zunächst einmal läßt das angefochtene Urteil nicht erkennen, von welchem Einkommensbegriff es ausgegangen ist, insbesondere ob es die Brutto- oder Nettoverdienste der Ehegatten gegenübergestellt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG ist von den Nettoeinkünften der Familienmitglieder auszugehen (vgl SozR Nr 12 zu § 1266 RVO). Im Tatbestand des angefochtenen Urteils hat das LSG lediglich wiedergegeben, welches Einkommen der Versicherten die Beklagte für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis zum 16. Juni 1972 der Versicherungskarte Nr 10 entnommen hat. Danach steht nicht fest, ob diese Annahme der Beklagten richtig war, ob die Versicherte sonstiges Einkommen hatte, wie hoch das jeweilige Einkommen der Eheleute in der Zeit vom 1. Januar 1971 bis zum 31. Dezember 1971 war, und wie hoch insbesondere in der gesamten Zeit vom 1. Januar 1971 bis zum 16. Juni 1972 das jeweilige Nettoeinkommen der Ehegatten war. Erst die Kenntnis dieser Tatsachen ermöglicht die Entscheidung, ob die Versicherte während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat.
Der Senat hat daher das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen