Leitsatz (amtlich)
Die Unterstützungsdauer nach AVAVG 1927 § 99 Abs 1 S 1 1 und 2 wird durch den Bezug von Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung wegen des Alters oder wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit nicht beeinflußt.
Die erweiterte Unterstützungsdauer nach AVAVG 1927 § 99 Abs 1 S 3 endet jedoch mit dem Zeitpunkt, von dem an der Anspruch auf eine derartige Rente dem Arbeitslosen gegenüber anerkannt ist.
Normenkette
AVAVG § 99 Abs. 1 S. 3; AVAVG 1927 § 99 Abs. 1 S. 3; AVAVG § 99 Abs. 1 S. 1; AVAVG 1927 § 99 Abs. 1 S. 1; AVAVG § 99 Abs. 1 S. 2; AVAVG 1927 § 99 Abs. 1 S. 2
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Februar 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der Kläger, ein 1890 geborener Bauarbeiter, hatte zuletzt vom 5. Juni 1950 bis zum 19. Oktober 1954 - mit dazwischenliegenden Krankheitszeiten - in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden. Am 20. Oktober 1954 meldete er sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosenunterstützung (Alu), die ihm vom Facharbeitsamt II in Berlin vom 20. Oktober 1954 an für 45 Wochen = 270 Unterstützungstage bewilligt wurde. Hiervon verbrauchte er zunächst nur 36 Tage, weil er vom 1. bis 29. Dezember 1954 wiederum als Bauarbeiter tätig war.
Am 30. Dezember 1954 meldete sich der Kläger erneut arbeitslos, und es wurde ihm jetzt vom 30. Dezember 1954 an die Alu für 234 Unterstützungstage weiterbewilligt.
Am 26. Mai 1955 erhielt das Arbeitsamt von der Landesversicherungsanstalt Berlin die Mitteilung, daß für den Kläger vom 1. Mai 1955 an Invalidenrente bewilligt und zur Zahlung angewiesen worden sei. Daraufhin entzog es dem Kläger durch Verfügung vom 31. Mai 1955 die Alu mit Ablauf des 18. Mai 1955, bewilligte ihm gleichzeitig aber vom 19. Mai 1955 an Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Mit Einzugsverfügung vom 7. Juni 1955 forderte die Arbeitsverwaltung den Unterschiedsbetrag zwischen der gezahlten Alu und der zugebilligten Alfu für die Zeit vom 19. bis zum 21. Mai 1955 in Höhe von 18,05 DM zurück.
Gegen die Einstellung der Alu sowie gegen die Bemessung der Alfu legte der Kläger Widerspruch ein. Nach Neufestsetzung der Alfu und nach Ermäßigung des Rückforderungsbetrages auf 17,50 DM wurde im übrigen der Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid der Widerspruchsstelle beim Facharbeitsamt II Berlin vom 14. Juli 1955 mit der Begründung zurückgewiesen, Alu über 26 Wochen hinaus könne von Gesetzes wegen nicht gewährt werden, wenn der Empfänger Rente im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a.F. beziehe.
Der Kläger beschritt den Klageweg und machte unter anderem geltend, die Beschränkung der Bezugsdauer auf 26 Wochen komme nur für solche Arbeitslose in Betracht, die bereits bei Beantragung der Alu invalide seien. Eine vor Beginn der Invalidität liegende Unterstützungszeit dürfe aber nicht auf die Unterstützungsdauer nach Eintritt der Invalidität angerechnet werden.
II Das Sozialgericht Berlin hob durch Urteil vom 17. Oktober 1955 die Verfügungen der Beklagten vom 31. Mai und 7. Juni 1955 sowie den Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1955 auf. Der Kläger habe auf Grund seiner langjährigen Beschäftigung einen Anspruch auf Alu für die Dauer von 45 Wochen. Vom Rentenbeginn an (1. Mai 1955) stände ihm Alu für 26 Wochen zu, die allerdings zusammen mit der bis dahin schon gezahlten Unterstützung für keinen längeren Zeitraum als 45 Wochen beansprucht werden könne.
Die Beklagte legte Berufung ein und beantragte - nachdem sie vor dem Landessozialgericht auf den restlichen Erstattungsanspruch von 17,50 DM verzichtet hatte -, unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts die Verfügung vom 31. Mai sowie den Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1955 wiederherzustellen.
Durch Urteil vom 15. Februar 1956 stellte das Landessozialgericht Berlin unter teilweiser Abänderung des Urteils des Sozialgerichts die Verfügung der Beklagten vom 31. Mai 1955 sowie den Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1955 wieder her. Maßgebend für die Erlangung der Eigenschaft als Rentenbezieher im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG sei der Zeitpunkt, von dem ab die Rente, wenn auch rückwirkend, bewilligt wird. Diese Auffassung stehe auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts in wiederholten grundsätzlichen Entscheidungen. Im Rahmen des & 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG sei der Nichtbezug einer Rente nicht nur eine anspruchsbegründende, sondern auch eine anspruchserhaltende Voraussetzung. Diese Vorschrift ziele darauf ab, bei Rentenbezug eine verlängerte Bezugsdauer der Alu auszuschließen. Dagegen verbleibe dem Rentner die Bezugsdauer aus § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 AVAVG immer. Mithin sei dem Kläger zutreffend die Unterstützung nach Ablauf der 26 Wochen entzogen worden. Revision wurde zugelassen.
III Der Kläger legte gegen das am 27. Februar 1956 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts am 7. März 1956 Revision ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 21. April, eingegangen am 23. April 1956. Seiner Meinung nach hat das Landessozialgericht in seiner Entscheidung das Versicherungsprinzip nicht ausreichend beachtet. Die gesetzlichen Vorschriften über die verlängerte und erweiterte Bezugsdauer seien im Zweifel zu Gunsten des Versicherten auszulegen. Durch die ursprüngliche Bewilligung des Arbeitsamts habe er einen Anspruch auf Zahlung der Alu für 270 Tage erworben. Wortlaut, Sinn und Systematik der gesetzlichen Vorschriften verlange, daß die einmal festgesetzte Alu tatsächlich auch unverändert ausgezahlt werde. Da er bislang nur für 159 Tage Unterstützung erhalten habe, sei ihm noch ein Restanspruch für 111 Tage an Alu zu gewähren. Der Kläger beantragte daher,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Oktober 1955 zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 22. Mai 1955 ab Arbeitslosenunterstützung auf die Dauer von 111 Tagen zu zahlen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Bundessozialgericht gestellte Antrag stelle gegenüber dem Antrag des Klägers aus der Revisionsschrift eine echte Klagänderung dar, insoweit ein zusätzlicher Leistungsanspruch erhoben werde. Eine solche Klagänderung sei unzulässig.
Sachlich hält die Beklagte die Entscheidungsgründe im Urteil des Landessozialgerichts für zutreffend. § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) sei eine Ausnahmevorschrift. Die erweiterte Unterstützungsdauer stelle eine über die Regeldauer hinausgehende zusätzliche Leistung dar, die aber nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nur denjenigen Arbeitslosen zugute komme, die keine Rentenempfänger, also gegenüber den rentenbeziehenden Arbeitslosen sozial schlechter gestellt seien. Im Falle des Klägers sei daher von dem Zeitpunkt ab, seit dem ihm Invalidenrente bewilligt wurde, die Fortzahlung der Alu nicht zu rechtfertigen. Eine Doppelversorgung aus der Sozialversicherung und gleichzeitig aus der Arbeitslosenversicherung sei unzulässig.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
IV Die - vom Landessozialgericht zugelassene - Revision ist statthaft. Sie ist auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt sowie begründet worden und demgemäß zulässig.
Die Revision ist gestützt auf § 99 AVAVG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 (BGBl. S. 1022), das durch Berliner Gesetz vom 16. Oktober 1953 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin - GVBl.- S. 1283) übernommen worden ist. Es handelt sich mithin um revisibles Recht.
Auch bei einer zulässigen Revision hat das Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob bereits die Prozeßvoraussetzungen für das Berufungsverfahren vorgelegen haben (BSG 2, 225). In Streitsachen vorliegender Art stehen diesem Rechtsmittel die Berufungsausschließungsgründe nach §§ 144 und 147 SGG nicht entgegen, wie der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl. SozR. Bl. Da 2 Nr. 9 zu § 144 SGG; BSG. 1, 126 f.; BSG. 4, 257 f.).
Die Berufung fand daher nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statt.
Was die von der Beklagten zur formellen Seite des Revisionsverfahrens als unzulässig bemängelte Änderung des Klagantrags anbelangt, so ist festzustellen, daß der Kläger seinen in der Revisionsschrift enthaltenen Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in der Revisionsbegründungsschrift lediglich dahin ergänzt hat, daß er ohne Änderung des Klaggrundes auch die Zahlung der Alu für die nach seiner Auffassung noch offenen Bezugstage begehrte. Der Senat vermag hierin keine unzulässige Klagänderung im Sinne von § 168 SGG, sondern nur eine Erweiterung des Klagantrags gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zu finden. Eine solche aber ist nach § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 165 SGG auch in der Revisionsinstanz zulässig.
V Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Rechtsgrundlage für die Bezugsdauer der Alu bilden die Vorschriften des § 99 AVAVG (a.F.). Nach dessen Absatz 1 Satz 1 wird die Alu für insgesamt dreizehn Wochen gewährt. Nach Satz 2 a.a.O. erhöht sich die Unterstützungsdauer bei Arbeitslosen, die während der Rahmenfrist des § 95 wenigstens neununddreißig bis zweiundfünfzig Wochen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sind, darüber hinaus gestaffelt auf insgesamt sechsundzwanzig Wochen. Diese zwei Regelungen setzen neben der Erfüllung der allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen (§ 87 AVAVG a.F.) keine zusätzlichen Bedingungen sonst voraus. Beide mal wird die Unterstützungsdauer also nicht durch den Bezug von Renten beeinflußt.
Abweichend davon ist die Rechtslage in den Fällen des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG in der Fassung von § 1 des Gesetzes vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022). Diese Ausnahmevorschrift - um eine solche handelt es sich rechtlich, wie der Senat bereits im Urteil vom 30. August 1955 (BSG. 1, 126 f.) dargelegt hat - erweitert die Unterstützungsdauer (Bezugsdauer der Alu) über 26 Wochen hinaus gestaffelt bis auf höchstens 52 Wochen unter zwei besonderen (zusätzlichen) Voraussetzungen,
1. der positiven, daß vor der Arbeitslosmeldung mindestens 104 bis 260 Wochen ununterbrochener versicherungspflichtiger Beschäftigung nachgewiesen sind,
und 2. der negativen, daß die Arbeitslosen Renten aus der Rentenversicherung wegen Alters oder wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit nicht beziehen.
Nach den im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die den erkennenden Senat binden (§ 163 SGG), ist ohne Rechtsirrtum davon auszugehen, daß der Kläger wohl die positive Voraussetzung ununterbrochener Beschäftigung von über 208 Wochen erfüllt, seit dem 1. Mai 1955 aber nicht mehr der negativen des Nichtbezugs einer Rente genügt hat.
Zutreffend hat das Landessozialgericht dem Wortlaut des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) entnommen, daß der Nichtbezug einer Rente sowohl anspruchsbegründende wie auch anspruchserhaltende Voraussetzung ist. Gegenteiliges kann aus dem Gebrauch der Gegenwartsform des Zeitwortes "beziehen" jedenfalls nicht geschlossen werden, wenn nicht überhaupt der Grundsatz des geltenden Sozialrechts, Doppelleistung und Doppelbezug auszuschließen, aufgegeben werden soll. "Bezieher" einer Rente wird man regelmäßig von dem Tage ab, der im Rentenbescheid als Beginn des Rentenlaufs angegeben ist, auch wenn dieser Zeitpunkt, wie es oft der Fall ist, selbst vor dem Datum des Rentenbescheids liegt. Die gleiche Auffassung hat auch das Reichsversicherungsamt für die hier entsprechend heranziehbaren Vorschriften des § 1236 Reichsversicherungsordnung und des § 13 Angestelltenversicherungsgesetz in seinen Grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 2843 (AN. 1925 S. 48) und Nr. 3459 (AN. 1929 S. 263) ausgesprochen.
Die erweiterte Unterstützungsdauer nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) endet daher regelmäßig mit dem Zeitpunkt, von dem an der Anspruch auf eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung wegen Alters oder wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit den Arbeitslosen gegenüber anerkannt ist.
Auch die Neufassung des AVAVG vom 3. April 1957 (BGBl. I S. 322), die allerdings für den vorliegenden Fall von Rechts wegen noch nicht anwendbar ist, enthält - was vergleichsweise erwähnt sei - in § 87 Abs. 5, der den bisherigen § 99 ersetzt, die Regelung, daß der Anspruch auf Arbeitslosengeld über 156 Tage hinaus während einer Zeit ruht, für die dem Arbeitslosen ein Anspruch auf Rente zuerkannt ist. Das Ruhen tritt hiernach zwar erst ein, wenn der Anspruch zuerkannt ist, die Wirkung reicht jedoch gegebenenfalls auch in die Vergangenheit zurück.
Nach allem war die Beklagte auf Grund des § 177 Abs. 1 Satz 1 AVAVG (a.F.) nicht nur befugt, sondern - wie der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG. 3, 106 f.) festgestellt hat - verpflichtet, dem Kläger die Alu nach Ablauf der Unterstützungsdauer von 26 Wochen (§ 99 Abs. 1 Satz 2 AVAVG (a.F.), d.i. vom 19. Mai 1955 an, zu versagen, weil dann die Voraussetzungen zum Bezuge nicht mehr vorlagen.
Da eine wesentliche Voraussetzung des Bezugs für die erweiterte Unterstützungsdauer des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) selbst entfallen war, blieb auch kein Raum, aus Billigkeitserwägungen oder in Ausübung eines nicht gebundenen Ermessens die vom Kläger langfristig entrichteten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abzugelten, wie es diesem offenbar bei seinem Hinweis auf das "Versicherungsprinzip" vorschwebt. Der Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift steht dem eindeutig und klar entgegen.
VI Die Revision war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG), weil das Urteil des Landessozialgerichts der Rechtslage zur Zeit der Geltung der §§ 99 und 177 AVAVG (a.F.) entspricht.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen