Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Unterhaltstitel als sonstiger Grund
Orientierungssatz
Ein Unterhaltstitel oder ein gerichtlicher Unterhaltvergleich ist dann nicht als "sonstiger Grund" iS des § 1265 RVO anzusehen, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses vollstreckbaren Unterhaltstitels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können (vgl BSG 1963-06-27 GS 5/61 = BSGE 20, 1).
Normenkette
RVO § 1265 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; ZPO §§ 323, 767
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 02.09.1960) |
SG Bremen (Entscheidung vom 16.03.1960) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 2. September 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 16. März 1960 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (sog. Geschiedenen-Witwenrente) aus der Versicherung ihres verstorbenen früheren Ehemannes.
Die Ehe der im Jahre 1884 geborenen Klägerin mit dem im Jahre 1881 geborenen Versicherten, dem Tischler Heinrich S, wurde durch Urteil des Landgerichts in Bremen vom 27. Oktober 1936 aus alleinigem Verschulden des Versicherten geschieden. Vor dem Amtsgericht in Bremen verglichen sich die Klägerin und der Versicherte, der damals noch beschäftigt war und etwa 33,- RM wöchentlich verdiente, am 24. Mai 1937 dahin, daß der Versicherte der Klägerin eine wöchentliche Unterhaltsrente von 5,- RM zu zahlen hatte. Der Klägerin wurde eine vollstreckbare Ausfertigung dieses Vergleichs am 17. Mai 1938 erteilt. Seit 1948 lebte der Versicherte nur von seiner Rente, die zuletzt 64,- DM monatlich betrug. Der Versicherte leistete zwar früher Unterhalt an die Klägerin, jedoch nicht mehr im letzten Jahr vor seinem Tode. Am 5. Oktober 1950 starb er.
Durch Bescheid vom 21. August 1959 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter nach § 1265 RVO ab.
Durch Urteil vom 16. März 1960 hat das Sozialgericht (SG) Bremen die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. März 1959 an Witwenrente zu zahlen. Der Unterhaltsvergleich sei als ein "sonstiger Grund" im Sinne von § 1265 RVO anzusehen. Nach den vorhandenen Unterlagen müsse davon ausgegangen werden, daß der der Klägerin erteilte Vollstreckungstitel rechtswirksam geblieben sei. Es liege nichts dafür vor, daß eine Abänderungsklage nach § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) durchgeführt worden sei.
Das Berufungsgericht hat durch Urteil vom 2. September 1960 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO für gegeben angesehen. Auch wenn die Klägerin im letzten Jahr vor dem Tode ihres geschiedenen Ehemannes keinen Unterhalt erhalten habe und dieser zur Zeit seines Todes möglicherweise auch nicht nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zum Unterhalt verpflichtet gewesen sei, so sei er doch auf Grund des vor dem Amtsgericht in Bremen am 24. Mai 1937 geschlossenen Unterhaltsvergleichs und damit aus einem "sonstigen Grund" im Sinne von § 1265 RVO zur Leistung von Unterhalt verpflichtet gewesen. Dieser Unterhaltsvergleich sei auch bis zum Tode des Versicherten nicht abgeändert worden.
Die Beklagte, die gegen dieses Urteil Revision eingelegt hat, hält entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts den Anspruch der Klägerin nicht für gegeben. Ein gerichtlicher Vergleich sei nicht als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO anzusehen. Eine Unterhaltsverpflichtung nach dem EheG habe nicht bestanden, weil der Versicherte mit seinem geringen Einkommen kaum den für ihn selbst notwendigen Unterhalt habe bestreiten können.
Sie beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 2. September 1960 und des Sozialgerichts Bremen vom 16. März 1960 die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt und nicht Stellung genommen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zu Unrecht bejaht. Richtig ist, daß sich dieser Anspruch, obwohl der Versicherte vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gestorben ist, nach § 1265 RVO richtet. Denn nach Art. 2 § 19 ArVNG sind auch diejenigen Versicherungsfälle, die nach dem 30. April 1942 eingetreten sind, bereits nach dieser Vorschrift zu beurteilen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für die Frage, ob eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber seiner früheren Ehefrau zur Zeit seines Todes bestand, dasjenige Ehegesetz maßgebend, das zur Zeit des Todes in Kraft war, hier also das EheG 46 (BSG 5, 277 ff).
Nach §§ 58, 59 EheG 46 besteht eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung des früheren Ehemannes gegenüber seiner früheren Ehefrau, wenn er für allein oder überwiegend für schuldig erklärt ist, soweit er unterhaltsfähig und seine frühere Ehefrau unterhaltsbedürftig ist (BSG 3, 197 ff). Bei einem Einkommen von lediglich 64,- DM monatlich ist der Versicherte vor seinem Tod, wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat, nicht unterhaltsfähig gewesen. Denn dieser Betrag reichte kaum aus, um auch nur den eigenen notdürftigen Unterhalt des Versicherten (für Wohnung, Nahrungsmittel und Kleidung) sicherzustellen (vgl. dazu Godin, EheG 2. Aufl. Anm. 3, letzter Absatz zu § 59; Hoffmann-Stephan, EheG Anm. 3 B, vorletzter Absatz zu § 58). Der Versicherte war daher in der Zeit vor seinem Tode nicht verpflichtet, der Klägerin Unterhalt zu leisten.
Zwar ist, wie das Berufungsgericht richtig erkannt hat, ein Unterhaltsurteil und ein gerichtlicher Unterhaltsvergleich grundsätzlich als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO anzusehen, wie der Große Senat des BSG in seinem Beschluß vom 27. Juni 1963 (GS 5/61) entschieden hat. Jedoch ist dies, wie der Große Senat weiter ausgeführt hat, dann nicht mehr der Fall, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses vollstreckbaren Unterhaltstitels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können. Ob im vorliegenden Fall der Unterhaltstitel schon deshalb nicht die Bedeutung als "sonstiger Grund" im Sinne dieser Vorschrift haben könnte, weil er noch auf Reichsmark lautet, kann dahingestellt bleiben. Denn er kann diese Bedeutung jedenfalls deshalb nicht haben, weil sich seit dem Abschluß dieses Vergleichs die Verhältnisse des Versicherten wesentlich geändert haben und der Versicherte infolge dieser Änderung seit 1948 nicht mehr unterhaltsfähig war. Denn er hatte zu dieser Zeit sein Arbeitsverhältnis aufgegeben und war nur auf seine kleine Rente angewiesen. Wie bereits oben ausgeführt, ist diese Rente so niedrig, daß sie kaum geeignet ist, den eigenen notdürftigen Unterhalt des Versicherten sicherzustellen. Hätte der Versicherte also nach 1948 eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO erhoben, so wären dieser Vergleich und das ihm zugrunde liegende Unterhaltsurteil für die Zukunft aufgehoben worden. Im vorliegenden Fall kann daher das Vorliegen eines "sonstigen Grundes" im Sinne des § 1265 RVO nicht angenommen werden.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin keinen Unterhalt geleistet, so daß auch die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 1265 RVO nicht gegeben sind.
Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts ist daher der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO nicht gegeben, so daß das angefochtene Urteil ebenso wie das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen werden mußte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen