Entscheidungsstichwort (Thema)
Selbständige Unterhaltsverpflichtung
Leitsatz (redaktionell)
Eine selbständige Unterhaltsverpflichtung stellt einen sonstigen Grund iS des RVO § 1265 dar. Sie war es aber zur Zeit des Todes des Versicherten dann nicht mehr, wenn sich seit dem Abschluß dieser Vereinbarung die Umstände, dh die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten oder der Klägerin so grundlegend geändert haben, daß infolge dieser Erschütterung der Geschäftsgrundlage die Unterhaltsverpflichtung entfallen ist.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 11. Mai 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin beansprucht Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Arbeiterrentenversicherung des Stukkateurs Hermann L als dessen frühere Ehefrau. Ihre Ehe mit dem Versicherten wurde im Jahre 1929 aus dessen Verschulden geschieden. Der Versicherte wurde nach der Scheidung im Jahre 1930 durch amtsgerichtliches Urteil zur Zahlung von Unterhalt in Höhe von wöchentlich 15,- RM an die Klägerin verpflichtet. Im Jahre 1938 oder 1939 verpflichtete sich der Versicherte gegenüber der Klägerin noch einmal zur Zahlung dieses Unterhaltsbetrages. Zahlungen leistete er an die Klägerin jedoch nicht. Seit dem Jahre 1944 bezog er Invalidenrente. Im Jahre 1953 starb er.
Durch Bescheid vom 22. August 1958 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin ab. Eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber der Klägerin habe nach dem Ehegesetz (EheG) zur Zeit des Todes des Versicherten nicht bestanden, weil dieser seit 1944 Invalidenrente bezogen habe und daher zur Unterhaltsleistung an die Klägerin nicht mehr fähig gewesen sei. Unterhalt sei auch tatsächlich nicht geleistet worden.
Durch Urteil vom 27. Oktober 1959 hat das Sozialgericht (SG) in Bremen die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. April 1957 an Hinterbliebenenrente zu zahlen. Der Verstorbene habe der Klägerin "aus sonstigem Grunde" im Sinne des § 1265 RVO Unterhalt zu leisten gehabt. Ein sonstiger Grund liege u.a. vor, wenn ein vollstreckbares Unterhaltsurteil erwirkt worden sei. Es komme nicht darauf an, ob der Versicherte im Zeitpunkt seines Todes auch tatsächlich unterhaltsfähig gewesen sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 11. Mai 1960 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und hat die Revision zugelassen. Der Klägerin stehe Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zu. Zwar habe der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin keinen Unterhalt geleistet, und es könne auch dahinstehen, ob er zur Zeit seines Todes nach dem EheG zum Unterhalt der Klägerin verpflichtet gewesen sei. Denn jedenfalls sei er "aus sonstigem Grund" im Sinne des § 1265 RVO zum Unterhalt verpflichtet gewesen. Sowohl die Verurteilung durch das Amtsgericht zur Zahlung von wöchentlich 15,- RM Unterhalt an die Klägerin wie auch die später eingegangene Verpflichtung des Versicherten zur Zahlung von Unterhalt an die Klägerin in derselben Höhe seien als sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO anzusehen. Da der Versicherte eine Klage auf Abänderung des Urteils des Amtsgerichts nach § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) bis zu seinem Tode nicht erhoben habe, sei dieses Urteil zur Zeit des Todes des Versicherten noch voll wirksam gewesen. Entsprechendes gelte auch für dessen später eingegangenes Unterhaltsversprechen. Daher komme es nicht darauf an, ob der Versicherte vor seinem Tode unterhaltsfähig und die Klägerin unterhaltsbedürftig, d.h. ob der Versicherte unterhaltsverpflichtet gewesen sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1265 RVO. Ein Unterhaltsurteil hält sie nicht für einen sonstigen Grund im Sinne dieser Vorschrift, weil es keine materielle Anspruchsgrundlage darstelle. Im übrigen hätte die Klägerin aus dem Urteil niemals vollstrecken können, weil die Akten dieses Urteils nicht mehr zu beschaffen seien. Auch die im vorliegenden Fall später eingegangene Unterhaltsverpflichtung sei kein "sonstiger Grund", weil in dieser nur das wiederholt worden sei, was bereits durch das vorher erlassene Unterhaltsurteil ausgesprochen sei.
Auch handele es sich bei diesem Unterhaltsurteil entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht um ein Anerkenntnisurteil.
Sie beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des LSG Bremen vom 11. Mai 1960 und des SG Bremen vom 27. Oktober 1959 die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere erblickt sie in der Verpflichtungserklärung des Versicherten, die nach Erlaß des Unterhaltsurteils ergangen ist, einen neuen selbständigen materiell-rechtlichen Grund für die Unterhaltspflicht des Versicherten im Sinne des § 1265 RVO. Durch diese Erklärung habe sich der Versicherte seiner Rechte aus den §§ 323, 767 ZPO begeben. Die Angabe in dem angefochtenen Urteil über den Charakter des Urteils als eines Anerkenntnisurteils stelle keine tatsächliche Feststellung im Sinne des § 1265 RVO dar. Im übrigen handle es sich auch nur um einen Schreibfehler. Außerdem beruhe die Entscheidung nicht auf dieser Feststellung, da das Berufungsgericht letztlich jede Urteilsart als "sonstigen Grund" im Sinne des § 1265 RVO ansehe. Auch sie sei der Auffassung, daß jeder vollstreckbare Titel ein "sonstiger Grund" im Sinne dieser Vorschrift sei. Wenn die Beklagte einwende, daß sie - die Klägerin - wegen Verlustes des Vollstreckungstitels aus diesem nicht hätte vollstrecken können, so greife sie damit die Feststellung des Berufungsgerichts an, daß sie - die Klägerin - sich jederzeit bei dem zuständigen Gericht eine Zweitausfertigung hätte beschaffen können. Dieses Vorbringen entspreche nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die zulässige Revision hatte insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde.
Obwohl der Versicherte im Jahre 1953, also vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gestorben ist, richtet sich der Anspruch der Klägerin, wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat, gemäß Art. 2 § 19 ArVNG nach § 1265 RVO idF des ArVNG.
Nach dieser Vorschrift steht der Klägerin dann Hinterbliebenenrente zu, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte, oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Dem Berufungsgericht ist darin zuzustimmen, daß ein vollstreckbares Unterhaltsurteil - mag es ein Anerkenntnisurteil sein oder nicht - als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO anzusehen ist, wie der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Beschluß vom 27. Juli 1963 (GS 5/61) entschieden hat. Auch greift der Einwand der Beklagten, aus dem im vorliegenden Falle ergangenen Unterhaltsurteil sei eine Vollstreckung unmöglich, weil die Akten dieses Urteils nicht mehr zu beschaffen seien, nicht durch. Das Berufungsgericht hat lediglich festgestellt, daß die Akten des Wohlfahrtsamtes, in welchen sich eine Ausfertigung des Urteils befand, nicht mehr vorhanden seien, nicht aber daß die Akten des Amtsgerichts nicht mehr vorhanden seien. Es hat sogar ausgeführt, daß eine neue Ausfertigung beantragt werden könne. Dann aber kann keine Rede davon sein, daß wegen fehlender Urteilsausfertigung eine Vollstreckung unmöglich sei. Jedoch hat der Große Senat jenen Grundsatz dahin eingeschränkt, daß ein vollstreckbarer Unterhaltstitel dann kein "sonstiger Grund" mehr ist, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses Titels durch eine Klage nach den §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können. Abgesehen davon, daß sich aus dem amtsgerichtlichen Urteil nichts darüber ergibt, ob das auf Reichsmark lautende Unterhaltsurteil auf Deutsche Mark umgestellt ist, kommt es also darauf an, ob eine solche Klage Erfolg gehabt hätte. Dies kann der erkennende Senat nicht entscheiden, weil die für eine solche Entscheidung erforderlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht nicht getroffen sind, aus seiner Sicht allerdings auch nicht getroffen zu werden brauchten. So fehlen vor allem Feststellungen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten und der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten. Denn ohne diese Feststellungen kann nicht entschieden werden, ob der Versicherte damals nach den §§ 58, 59 des EheG von 1946 der Klägerin gegenüber überhaupt noch zum Unterhalt verpflichtet gewesen ist. Denn die Unterhaltsverpflichtung ist davon abhängig, ob und inwieweit der Versicherte unterhaltsfähig und die Klägerin unterhaltsbedürftig ist (BSG 3, 197 ff.). Wenn das Einkommen des Versicherten so niedrig war, daß es nur zur Bestreitung seines eigenen notdürftigen Unterhalts ausreichte, entfiel eine Unterhaltsverpflichtung überhaupt (vgl. dazu Godin, EheG, 2. Aufl. Anm. 3 letzter Absatz zu § 59; Hoffmann-Stephan, EheG, Anm. 3 B vorletzter Absatz zu § 58). Dann aber würde eine Abänderungsklage Erfolg gehabt haben.
Der Versicherte hat nach Erlaß des Unterhaltsurteils außerdem noch eine Verpflichtungserklärung über die Zahlung von Unterhalt in derselben Höhe wie in dem Unterhaltsurteil festgestellt abgegeben. Ob es sich hierbei um eine selbständige materielle Unterhaltsverpflichtung handelt, wie das Berufungsgericht meint, oder ob sie nur eine Bestätigung des Unterhaltsurteils ohne eigene selbständige Bedeutung ist, da sie inhaltlich mit diesem übereinstimmt, kann dahingestellt bleiben. Denn selbst dann, wenn es sich um eine selbständige Verpflichtung handeln würde und wenn, wie die Klägerin meint, der Versicherte sich hierdurch seiner Rechte aus den §§ 323, 767 ZPO begeben hätte, kann nicht ohne weiteres der Schluß gezogen werden, daß sie auch im Zeitpunkt des Todes des Versicherten noch bestanden hat. Richtig ist, daß eine selbständige Unterhaltsverpflichtung einen sonstigen Grund im Sinne des § 1265 RVO darstellt. Sie war es aber zur Zeit des Todes des Versicherten dann nicht mehr, wenn sich seit dem Abschluß dieser Vereinbarung die Umstände, d.h. die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten oder der Klägerin so grundlegend geändert haben, daß infolge dieser Erschütterung der Geschäftsgrundlage die Unterhaltsverpflichtung entfallen ist (zu vgl. BGB, Kommentar von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern, 11. Aufl. Anm. 95 zu § 242 und die dort angeführten Entscheidungen). Aber auch diese Entscheidung kann von dem erkennenden Senat nicht getroffen werden, weil es an den hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen über Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten und der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten ebenso mangelt wie an Feststellungen über den genauen Inhalt der Verpflichtungserklärung des Versicherten. Gleichfalls konnte der Senat nicht entscheiden, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes nach dem EheG zum Unterhalt verpflichtet war. Maßgebend ist, wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 5, 277 ff.), dasjenige EheG, welches in dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten gegolten hat, hier also das EheG von 1946. Eine Entscheidung, ob eine Unterhaltsverpflichtung nach den §§ 58, 59 des EheG 1946 bestanden hat, setzt aber ebenfalls voraus, daß die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten und der Klägerin für die Zeit vor dem Tode des Versicherten festgestellt sind.
Allein die Frage, ob die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 1265 RVO vorliegen, kann entschieden werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet hat.
Somit mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen