Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Februar 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen insoweit aufgehoben, als die Sache nicht durch den Vergleich vom heutigen Tage erledigt ist. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit zwischen der Klägerin und der Beklagten wegen Gewährung von Waisenrente ist durch einen zur Niederschrift des erkennenden Senats am 28. August 1963 geschlossenen Vergleich erledigt worden. Daher war nur noch der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Witwerrente streitig.

Die am 26. März 1958 verstorbene Versicherte, die Ehefrau des Klägers, war seit Jahren bis zum 28. Juli 1956 als Kremplerin beschäftigt. Ihr Bruttojahresarbeitsverdienst betrug in den Jahren

1948

=

1.559,89 DM

1949

=

2.498,03 DM

1950

=

2.936,89 DM

1951

=

3.229,92 DM

1952

=

3.021,19 DM

1953

=

3.659,60 DM

1954

=

3.284,76 DM

1955

=

3.461,95 DM

und bis zum 28. Juli 1956 = 2.025,88 DM.

Sie mußte wegen Krankheit diese Tätigkeit aufgeben. Vom 1. Januar 1957 bis zu ihrem Tode erhielt sie Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von 119,30 DM monatlich.

Der Kläger bezog von Dezember 1948 bis Juni 1952 – abgesehen von Zeiten kurzfristiger Beschäftigungen – Arbeitslosenunterstützung und bezieht seit dem 1. April 1952 Invalidenrente in Höhe von anfangs 104,40 DM, vom 1. April 1955 an in Höhe von 116,40 DM und in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum Tode der Versicherten in Höhe von 168,– DM monatlich einschließlich des Kinderzuschusses für die Tochter Inge.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Witwerrente durch Bescheid vom 13. November 1958 mit der Begründung ab, daß die Verstorbene unmittelbar vor ihrem Tode nicht den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten habe.

Auf Klage hat das Sozialgericht (SG) in Osnabrück durch Urteil vom 1. April 1960 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Witwerrente vom 1. Mai 1958 an zu gewähren. Die Versicherte habe während ihres jahrzehntelangen Arbeitslebens überwiegend den Unterhalt der Familie bestritten. In keinem bedeutsamen Verhältnis hierzu stehe die Tatsache, daß während der verhältnismäßig kurzen Zeit der zum Tode führenden Erkrankung der Kläger ein geringfügig höheres Einkommen als die Versicherte gehabt habe.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht durch Urteil vom 8. Februar 1961 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Voraussetzung für den Anspruch des Klägers auf Witwerrente sei, daß die Versicherte überwiegend den Unterhalt der Familie bestritten habe. Wann dies der Fall gewesen sein müsse, sei im Gesetz nicht gesagt. Die mit der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts übereinstimmende Auffassung des Senats hierzu sei diese: Die Hinterbliebenenrenten hätten den Zweck, den infolge des Todes des Versicherten weggefallenen Unterhalt zu ersetzen; der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten entspreche es, daß der Unterhalb bis zum Tode oder doch wenigstens bis zu einem Zeitpunkt geleistet worden sein müsse, der vom Versicherungsfall des Todes noch nicht so weit zurückliege, daß dem Unterhaltsbeitrag infolge Zeitablaufs keine Bedeutung mehr beigemessen werden könne. Die Versicherte habe seit dem 1. Januar 1957 ein niedrigeres Einkommen als der Kläger gehabt, so daß sie von diesem Zeitpunkt ab bis zu ihrem Tode nicht überwiegend, den Unterhalt der Familie bestritten habe. Es handle sich hierbei um einen Zeitraum von 15 Monaten. Ein solcher Zeitraum könne nicht mehr als verhältnismäßig kurz angesehen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt Verletzung der §§ 1266 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und hat insbesondere ausgeführt: Die Unterhaltsgewährung seitens der Versicherten habe niemals aufgehört; diese habe wenigstens während dreier Jahrzehnte aus ihrem Arbeitsverdienst einen weit überwiegenden Unterhaltsbeitrag für ihre Familienangehörigen geleistet. Sogar noch an ihrem Todestag habe sie in Gestalt der unmittelbar aus ihrer Erwerbstätigkeit stammenden Rente ins Gewicht fallenden Unterhalt geleistet. Gegenüber einer mehr als 30jährigen Beitragsleistung erscheine ein Zeitraum von nicht einmal 1 1/4 Jahren so geringfügig, daß ihm eine entscheidende Rolle nicht zuerkannt werden sollte. Es müsse für die Feststellung, daß der Unterhalt überwiegend bestritten worden sei, genügen, wenn die Versicherte wenigstens längere Zeit hindurch überwiegend zum Lebensunterhalt beigetragen habe, und es könne nicht eine verhältnismäßig kurze Unterbrechung in der Unterhaltsleistung vor dem Ableben der Versicherten allein den Ausschlag geben. Aber auch dann, wenn man die Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum Tode der Versicherten (26. März 1958) in Betracht ziehe, sei eine Zweijahresfrist (BSG 3, 197, 200) nicht überschritten, ganz abgesehen davon, daß die Unterhaltsleistung auch zuletzt noch beachtlich im Verhältnis zu seiner eigenen Renteneinnahme gewesen sei. Zudem sei nicht geklärt, ob die Versicherte nicht aus ihrer früheren Erwerbstätigkeit ein Spar- oder Bankkonto unterhalten habe und von diesem aus mit Zuschüssen für den Haushalt eingesprungen sei, ob sie nicht eventuell ganz für die Wohnungsmiete aufgekommen und vielleicht möbiliert abvermietet habe oder sonst noch aus irgendwelchen Einnahmequellen Unterhaltsmittel für den Haushalt beigesteuert habe.

Der Kläger beantragt,

  • unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen vom 8. Februar 1961 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG in Osnabrück vom 1. April 1960 als unbegründet zurückzuweisen,
  • hilfsweise,

    die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen

  • und

    der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zudem habe der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Urteil vom 23. März 1961 – 4 RJ 13/60 – entschieden, maßgebende Zeit, in der Familienunterhalt überwiegend, d. h. mehr als zur Hälfte, von der Versicherten bestritten sein müsse, sei der letzte Dauerzustand, der seit der zuletzt in der Familie eingetretenen wesentlichen Änderung der Einkommensverhältnisse bis zum Tode der Versicherten bestanden habe. Dieser Gesichtspunkt, der sich zwar auf § 1266 RVO beziehe, müsse auch hier angewandt werden. Seit der letzten wesentlichen Änderung der Einkommensverhältnisse habe die verstorbene Versicherte nicht mehr als die Hälfte des Familienunterhalts bestritten. – Die in der Revisionsbegründung enthaltene Rüge, das LSG habe den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt, indem es nicht festgestellt habe, ob die verstorbene Versicherte aus ihrer früheren Erwerbstätigkeit ein Spar- oder Bankkonto unterhalten habe, von dem aus sie mit Zuschüssen für den Haushalt einspringen konnte, sei unbegründet. Es werde auch jetzt nicht behauptet, daß ein solches Konto vorhanden gewesen sei. Auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht sei eine derartige Behauptung nicht substantiiert vorgetragen worden, so daß sich das LSG nicht habe dazu gedrängt fühlen müssen, in dieser Richtung noch weitere Ermittlungen anzustellen.

Der zulässigen Revision konnte der Erfolg insofern nicht versagt bleiben, als das angefochtene Urteil, soweit es die Revision des Klägers betrifft, aufgehoben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden mußte.

Nach § 1266 Abs. 1 RVO erhält Witwerrente der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (BSG 14, 129), die inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mittelbar dadurch bestätigt worden ist, daß es zu dem wörtlich übereinstimmenden § 43 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) im Ergebnis dieselbe Auffassung vertreten hat (Urteil vom 24. Juli 1963 – 1 BvL 11/61; 1 BvL 30/57 –), verstößt § 1266 Abs. 1 RVO nicht gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG).

Allein zweifelhaft und streitig ist, ob „die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat”. Wenn auch in § 1266 Abs. 1 RVO kein Zeitraum genannt ist, in welchem die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten haben muß, so kann doch nur der letzte Zeitraum vor dem Tode der Versicherten gemeint sein, und zwar kommt es nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auf denjenigen letzten Zeitraum an, von dem man annehmen kann, daß sich seine Umstände fortgesetzt hätten, wenn die Versicherte nicht gestorben wäre, d. h. auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode der Versicherten. Hinterbliebenenrenten haben den Zweck, den durch den Tod des Versicherten weggefallenen Unterhalt zu ersetzen. Weggefallener Unterhalt in diesem Sinne ist derjenige Unterhalt, den die Versicherte geleistet hätte, wenn sie nicht gestorben wäre. Da infolge ihres Todes nicht festgestellt werden kann, ob und in welcher Höhe sie ohne diesen in der Zukunft Unterhalt geleistet hätte, hat der Gesetzgeber den zu ihren Lebzeiten von ihr bestrittenen Unterhalt als maßgebend dafür angesehen, ob Witwerrente gewährt, wird in dem Gedanken, daß dieser voraussichtlich weiter geleistet worden wäre, wenn sie nicht gestorben wäre. Die Zeit vor dem Tode wird vom Gesetzgeber als symptomatisch dafür angesehen, was in der Zeit nach dem Tode der Versicherten wahrscheinlich gewesen wäre. Dabei kann es nur auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand, nicht aber auf einen nur vorübergehenden wirtschaftlichen Zustand ankommen. Denn nur von einem Dauerzustand kann angenommen werden, daß er sich fortgesetzt hätte, wenn die Versicherte nicht gestorben wäre. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand beginnt mit der letzten wesentlichen Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Familienmitglieds mit Dauerwirkung vor dem Tode der Versicherten und endet grundsätzlich mit dem Tode der Versicherten (BSG 14, 129; SozR RVO § 1266 Aa 3 Nr. 2). Allerdings ist es, wie in der Rechtsprechung von jeher anerkannt war, nicht in jedem Falle erforderlich, daß die überwiegende Unterhaltsgewährung unmittelbar bis zum Tode gedauert hat; die Eigenschaft als Ernährerin der Familie verliert die Versicherte nicht dadurch, daß sie während einer verhältnismäßig kurzen Zeit den überwiegenden Unterhalt nicht gewährt hat (AN 1929 S. 221; EuM 33 S. 516). Der häufigste Fall dieser Art ist der, daß die zum Tode führende Krankheit der Versicherten sie für eine gewisse Zeit gehindert hat, den Unterhalt überwiegend zu bestreiten.

Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß im vorliegenden Fall der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vom 1. Januar 1957 bis zum 26. März 1958, dem Todestag der Versicherten, reicht. Denn am 1. Januar 1957 ist eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen sowohl des Klägers wie auch der Versicherten eingetreten. Die Versicherte bezog seit diesem Zeitpunkt eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, und die Rente des Klägers ist auf Grund der Vorschriften des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) erhöht worden. Dagegen geht es nicht an, wie der Kläger will, als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand die Zeit vor dem 1. Januar 1957 und die Folgezeit bis zum Tode der Versicherten als einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum, der außer Betracht zu bleiben habe, anzusehen. Denn dieser Zeitraum umfaßt rund 1 1/4 Jahre; ein Zeitraum von einem Jahr und mehr kann aber im allgemeinen nicht als verhältnismäßig kurz in diesem Sinne angesehen werden (zu vgl. SozR RVO § 1265 Aa 9 Nr. 9).

Wenn auch insoweit dem Berufungsgericht zuzustimmen ist, so war die Revision doch deshalb begründet, weil das Berufungsgericht bei der Entscheidung der Frage, ob die Versicherte während dieses Zeitraums den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat, nur die Barleistungen der Ehegatten, nicht aber den Wert der Haushaltsführung und der Betreuung des Kindes berücksichtigt hat. Das Berufungsgericht befand sich bei seiner Entscheidung zwar im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung einer Reihe von Senaten des BSG. Diese Rechtsprechung ist jedoch inzwischen durch das oben angeführte Urteil des BVerfG überholt. Danach ist § 43 Abs. 1 AVG unter Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 2 GG dahin auszulegen, daß die Arbeit der Frau als Mutter und Hausfrau mit ihrem tatsächlichen Wert als Unterhaltsleistung mit zu berücksichtigen ist. Wenn diese Entscheidung auch zu § 43 Abs. 1 AVG ergangen ist, so muß doch der mit dieser Vorschrift wörtlich übereinstimmende § 1266 Abs. 1 RVO ebenso ausgelegt werden. Das Berufungsgericht wird nunmehr die hiernach noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen und erneut zu prüfen haben, ob die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie in diesem Sinne in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zu ihrem Tode überwiegend bestritten hat. Sollte, da die Versicherte erkrankt war, auch der Kläger im Haushalt mit tätig gewesen und das Kind mit betreut haben, so müßte der Wert dieser Leistungen seinen Barleistungen ebenfalls zugerechnet werden.

Die Rüge des Klägers, die Beklagte hätte feststellen müssen, ob die Versicherte nicht aus einem etwa vorhandenen Vermögen Leistungen erbracht habe, ist nicht genügend substantiiert und kann daher nicht berücksichtigt werden. Der Kläger wird aber nunmehr Gelegenheit haben, nähere Darlegungen in dieser Hinsicht zu machen, damit das Berufungsgericht gegebenenfalls die erforderlichen Ermittlungen anstellen kann.

Falls das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers bejaht, wird es zu beachten haben, daß die Rente nach § 1290 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 RVO mit dem 1. April 1958 und nicht erst – wie das SG entschieden hat – mit dem 1. Mai 1958 beginnt.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Unterschriften

Raack, Dr. Schwankhart, Dr. Dapprich

 

Fundstellen

Dokument-Index HI674105

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