Leitsatz (amtlich)
Bei Streit über die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Entschädigung (RVO § 620 aF; RVO § 628 nF) muß nach SGG § 79 Nr 1 ein Vorverfahren stattfinden (Anschluß BSG 1956-08-23 3 RJ 293/55 = BSGE 3, 209).
Normenkette
SGG § 79 Nr. 1; RVO § 620 Fassung: 1928-03-29, § 628 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. November 1963 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger leidet seit dem Jahre 1955 an einer Staublungenerkrankung in Verbindung mit aktiv fortschreitender Lungentuberkulose. Er wurde deshalb in einer Lungenheilstätte stationär behandelt. Die Beklagte gewährte ihm wegen Berufskrankheit nach Nr. 27 Buchst. b der Anlage zur Fünften Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 26. Juli 1952 Rente als vorläufige Fürsorge gemäß § 1735 Reichsversicherungsordnung (RVO), weil der für die Entschädigungsleistung zuständige Versicherungsträger noch nicht festgestellt sei. Über diese Maßnahme erhielt der Kläger von der Beklagten die Mitteilung vom 27. August 1957. Diese Mitteilung wurde am 13. Mai 1958 durch eine neue ersetzt, weil die Beklagte den Schädigungszustand des Klägers für gebessert und niedrigere Leistungen für ausreichend hielt. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), welcher die an den Kläger ergangenen Mitteilungen bekanntgegeben worden waren, unterrichtete die Beklagte im August 1959 davon, daß sie dem Kläger für zunächst vier Monate ein Heilverfahren in einem Sanatorium wegen Lungentuberkulose bewilligt habe, und meldete gleichzeitig vorsorglich ihren Ersatzanspruch gegen die Beklagte an. Sie teilte der Beklagten am 11. Januar 1960 weiterhin mit, daß der Kläger am 28. Dezember 1959 in eine Lungenheilstätte aufgenommen worden sei. In Heilstättenbehandlung befand sich der Kläger vom 10. September bis 11. Dezember 1959 und vom 28. Dezember 1959 bis 10. Mai 1960.
Die Beklagte stellte mit Ablauf des Februar 1960 die Rentenzahlungen an den Kläger unter Bezugnahme auf § 559 e RVO ein.
Durch Bescheid vom 25. Mai 1960 forderte die Beklagte von dem Kläger 1656,96 DM zurück, weil Rentenbeträge in dieser Höhe während seines Aufenthalts in den Lungenheilstätten zu Unrecht gezahlt worden seien. Die Beklagte verfügte in diesem Bescheid gleichzeitig, daß der überzahlte Betrag in Teilbeträgen von monatlich 50,- DM von der laufenden Rente künftig einbehalten werde.
In der dem Bescheid angefügten Rechtsmittelbelehrung ist auf den Rechtsbehelf der Klage hingewiesen.
Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Darmstadt am 23. August 1962 abgewiesen.
Mit der Berufung hiergegen hat der Kläger geltend gemacht, daß bisher nicht geprüft worden sei, ob die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens nach § 620 RVO gehandelt habe, wenn sie von ihrem Rückforderungsanspruch Gebrauch mache. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 13. November 1963 das Urteil des SG vom 23. August 1962 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 1960 aufgehoben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Nach § 620 RVO aF stehe es im Ermessen der Beklagten, ob sie die überzahlten Leistungen vom Kläger zurückfordern wolle. Von jeher sei dieses Rückforderungsrecht in der Rechtsprechung auf solche Fälle begrenzt worden, in denen es nicht dem auch im öffentlichen Recht geltenden allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben zuwiderlaufe. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz sei angenommen worden, wenn den Versicherungsträger und nicht den Leistungsempfänger das Verschulden an der Überzahlung treffe. Dieses Verschulden liege im vorliegenden Fall allein auf Seiten der Beklagten. Diese habe daher ihr Ermessen aus § 620 RVO aF fehlerhaft ausgeübt; der Kläger sei hierdurch beschwert und seine Klage begründet. Die gleiche Rechtslage ergebe sich aus § 628 RVO nF, so daß dahingestellt bleiben könne, ob diese Vorschrift hier überhaupt anzuwenden sei.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 6. Januar 1964 zugestellt worden; sie hat hiergegen am 28. Januar 1964 Revision eingelegt und diese am 22. Februar 1964 wie folgt begründet: Bei dem Bescheid vom 25. Mai 1960, mit dem vom Kläger ein gezahlter Rentenbetrag zurückgefordert werde, handele es sich um die Regelung von Modalitäten der Auszahlung der Rente, die dem Kläger zugestanden habe. Gegen diesen Bescheid hätte trotz der darin enthaltenen nicht zutreffenden Rechtsmittelbelehrung nicht unmittelbar Klage erhoben werden dürfen; es hätte vielmehr zunächst das Vorverfahren gemäß §§ 78, 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durchgeführt werden müssen. Das LSG habe diese Vorschriften nicht beachtet; deshalb leide sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel, der die Statthaftigkeit der nicht zugelassenen Revision begründe. Das LSG sei sodann zu dem Ergebnis, der Bescheid vom 25. Mai 1960 sei auf Grund fehlerhafter Ausübung des Ermessens der Beklagten ergangen, unter Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG gelangt. Es hätte den aus den Akten ersichtlichen Umstand berücksichtigen müssen, daß der Bescheid einer mit dem Kläger getroffenen Vereinbarung entsprochen habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger stellt den Ausführungen der Beklagten keinen Antrag entgegen.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, der ordnungsmäßig gerügt ist (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2 und 164 Abs. 2 Satz 2 SGG); das LSG hat über einen gegen den Kläger auf Rückzahlung zuviel geleisteter Rente geltend gemachten Anspruch der Beklagten entschieden, obwohl es für den Rechtsstreit hierüber an einer zulässigen Klagerhebung fehlt.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Rentenbeträge zurückfordern darf, welche sie nach ihrer Ansicht während der Heilstättenbehandlung des Klägers zu Unrecht gezahlt hat. Diesen Rückzahlungsanspruch, der Gegenstand des dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegenden Bescheides vom 25. Mai 1960 ist, leitet die Beklagte aus § 620 RVO aF her. Ob nach dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) der Streitfall nach § 628 RVO nF zu beurteilen ist, kann dahingestellt bleiben, denn die Voraussetzung, unter der nach § 620 RVO aF eine überzahlte Leistung überhaupt zurückgefordert werden konnte, ist von der Neuregelung nicht berührt worden; es steht nach altem wie nach neuem Recht im freien Ermessen des Versicherungsträgers, ob er von seinem Rückforderungsrecht Gebrauch machen will. Stellt er eine Forderung dieser Art gegen einen Versicherten durch Bescheid fest, so ist Gegenstand dieses Verwaltungsakts eine "Ermessensleistung". Mit der Klage kann ein solcher Bescheid erst angefochten werden, wenn ein Vorverfahren nach §§ 78 ff SGG durchgeführt ist.
Bei dem Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 1960 handelt es sich um eine Ermessensentscheidung in dem angeführten Sinne.
Es wäre daher vor der Erhebung der Klage gegen ihn nach § 79 Nr. 1 SGG erforderlich gewesen, die Rechtmäßigkeit des gegen den Kläger geltend gemachten Rückzahlungsanspruchs der Nachprüfung im Wege des Widerspruchsverfahrens (§§ 83 ff SGG) zu unterwerfen. Nach § 79 Nr. 1 SGG findet ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Der Wortlaut dieser Vorschrift schließt allerdings nicht jeden Zweifel darüber aus, ob unter sie auch das Begehren auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes fällt, der, wie im vorliegenden Streitfalle, eine andere als eine echte Ermessensleistung, eine sogenannte Kannleistung (z. B. Heilverfahren), betrifft. In Rechtsprechung und Schrifttum wird diese Frage nicht einhellig beantwortet (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Aufl., Band I S. 240 und 285 mit den dortigen Nachweisungen). Das Bundessozialgericht (BSG) hat sie in mehreren Urteilen bereits dahin entschieden, daß alle Ermessensentscheidungen - vorbehaltlich des § 81 SGG - vor Klagerhebung im Widerspruchsverfahren nachzuprüfen sind (BSG 3, 209, 215; 7, 292, 293; 15, 161, 165; SozR SGG § 79, Bl. Da 3 Nr. 9 sowie das nicht veröffentlichte Urteil vom 9. August 1962 - 4 RJ 355/60 -). Dieser Auffassung hat sich der erkennende Senat angeschlossen. Bedenken hiergegen sind um so weniger veranlaßt, als, soweit zu übersehen ist, keine abweichende Entscheidung ergangen ist, die sich mit dieser Rechtsprechung auseinandersetzt. Hiervon macht auch das Urteil des LSG Niedersachsen vom 16. Juli 1959 (Breithaupt 1959, 1090 ff) keine Ausnahme; es will Ermessensentscheidungen im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG auf Entscheidungen über materiell-rechtliche Leistungen beschränkt sehen, läßt dabei aber offen, ob darunter begrifflich auch Erstattungsansprüche, also nicht nur Leistungen, deren Empfänger Versicherte sind, fallen.
Hiernach hätte im vorliegenden Rechtsstreit, da der Anwendungsfall des § 79 Nr. 1 SGG gegeben ist, das Vorverfahren stattfinden müssen. Dem steht auch das Urteil des ersten Senats des BSG vom 7. Dezember 1962 (BSG 18, 148, 153) nicht entgegen; dort ist ausgeführt, daß es bei einem Rechtsstreit über die Ausgleichspflicht des Empfängers von Rentenvorschüssen aus der Rentenversicherung keines Vorverfahrens nach den §§ 78 ff SGG bedürfe, weil die Entscheidung über den Ausgleich von Vorschußzahlungen nicht im Ermessen des Versicherungsträgers liege. Nach der Begründung dieser Entscheidung ist die Frage, ob ein Vorverfahren erforderlich ist, aus dem Wesen der Vorschußleistungen in der Rentenversicherung, und nicht aus dem Fragenkreis des § 1301 RVO beurteilt worden. Der Leitsatz, der hierzu allein in Breithaupt 1963, 422 veröffentlicht ist, wird in der dort ersichtlichen allgemeinen weitreichenden Fassung, daß es eines Vorverfahrens nicht bedürfe, wenn streitig sei, ob der Versicherungsträger einen Überempfang wieder einziehen darf, von den Gründen der Entscheidung nicht getragen.
Da nach allem das Vorverfahren zu Unrecht unterblieben ist, leidet das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel, der die Statthaftigkeit der Revision rechtfertigt.
Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet. Das Fehlen des Vorverfahrens hätte das LSG an der Entscheidung über den Rückforderungsanspruch der Beklagten gegen den Kläger hindern müssen. Der mit der Klage gegen den Bescheid vom 25. Mai 1960 beschrittene Rechtsweg ist unzulässig, solange das Vorverfahren nicht durchgeführt ist (vgl. BSG 8, 3, 9). Das Urteil des LSG unterliegt daher der Aufhebung. Es ist jedoch nicht geboten, die Klage wegen Fehlens dieser Prozeßvoraussetzungen als unzulässig abzuweisen. Vielmehr ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG aus prozeßwirtschaftlichen Gründen für tunlich zu erachten, den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs. 2 SGG zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens an die Vorinstanz zurückzuverweisen (vgl. BSG 8, 3, 10; 16, 21, 24; SozR SGG § 79 Bl. Da 3 Nr. 11).
Es war deshalb wie geschehen zu erkennen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2379959 |
NJW 1964, 2449 |