Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 12.09.1966) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. September 1966 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der in Guardiagrele (Provinz Chieti) beheimatete Kläger war im Jahre 1958 als Gastarbeiter in Stuttgart beschäftigt, wo er am 16. Mai 1958 durch einen Arbeitsunfall Verletzungen der rechten Hand erlitt. Die Beklagte gewährte ihm hierfür eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. bis zum 31. Dezember 1960. Eine weitere Rentengewährung lehnte die Beklagte ab, weil die unfallbedingte MdE seit dem 1. Januar 1961 nur noch 10 v.H. betrage.
Die fristgerecht hiergegen erhobene Klage wurde vom Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 15. Oktober 1963 abgewiesen, dessen Rechtsmittelbelehrung lautete: „Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig. Sie ist innerhalb drei Monaten nach Zustellung des Urteils entweder schriftlich (zweifach) beim Landessozialgericht Baden-Württemberg, Stuttgart-W., Breitscheidstraße 18, einzulegen oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Landessozialgerichts oder der des Sozialgerichts Stuttgart-W. Rotebhühlstraße 79, zu erklären.” Unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Rom wurde das Urteil dem Kläger am 19. November 1963 durch den Gerichtsvollzieher beim Amtsgericht (Pretura) in Guardiagrele zugestellt; der Beamte vermerkte in seiner Niederschrift über die Zustellung, er habe den Kläger darauf hingewiesen, daß dieser binnen drei Monaten Berufung beim „Tribunale Soziale di Baden-Wurttemberg, Stuttgart, Breitscheidstraße 18” einlegen könne.
Der Kläger hat jedoch seine in italienischer Sprache abgefaßte Berufungsschrift vom 22. Januar 1964 an die Beklagte gerichtet, bei der sie am 27. Januar 1964 eingegangen ist. Die Beklagte hat das Schreiben am 4. Februar 1964 einem Dolmetscher nach München übersandt, von wo es – nebst deutscher Übersetzung – am 10. Februar 1964 wieder bei der Beklagten in Stuttgart eingetroffen ist. Mit Begleitschreiben vom 14. Februar 1964 hat sodann die Beklagte die Berufung des Klägers nebst Übersetzung dem Landessozialgericht (LSG) vorgelegt. Diese Sendung ist laut Eingangsstempel am 20. Februar 1964 beim LSG eingegangen. Vom LSG auf die Versäumung der Berufungsfrist hingewiesen und befragt, weshalb er das Berufungsschreiben falsch adressiert habe, hat der Kläger entgegnet, ihm sei das SG-Urteil von einem österreichischen Touristen, den er in seinem Wohnort zufällig getroffen habe, mündlich übersetzt worden; dieser Tourist habe ihm gesagt, das Rechtsmittel sei an die Beklagte zu richten; er – der Kläger – könne nicht verstehen, daß die Weiterleitung seines Briefes von der Beklagten an das LSG 24 Tage erfordert habe.
Das LSG hat durch Urteil vom 12. September 1966 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen: Der Kläger habe die Berufungsfrist, die hier in entsprechender Anwendung von § 87 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) drei Monate betragen habe, versäumt; denn für die Fristwahrung komme es auf den Eingang der Berufungsschrift beim LSG, nicht dagegen bei der Beklagten, an. Die Auffassung des Klägers, wegen Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung sei § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG anzuwenden, treffe nicht zu; da nach § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes die Gerichtssprache deutsch sei, habe das Gericht das Urteil – nebst Rechtsmittelbelehrung – allein in deutscher Sprache abzufassen und sei es Sache des Klägers, sich das Urteil übersetzen zu lassen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) sei dem Kläger nicht zu gewähren, denn er habe die Berufungsfrist nicht unverschuldet versäumt. Sein Vorwurf, die Beklagte habe sein Berufungsschreiben verzögerlich behandelt, sei unbegründet. Daß die Beklagte einen in München ansässigen Dolmetscher zuzog, habe zu keiner Verzögerung geführt; nicht zu beanstanden sei auch, daß zwischen dem Eingang der Übersetzung bei der Beklagten und dem Eingang der Berufung beim LSG noch 10 Tage verstrichen seien; denn dies habe – unter Berücksichtigung des in diese Zeit fallenden langen Wochenendes – durchaus dem bei größeren Behörden üblichen Bearbeitungszeitraum entsprochen. Die Fristversäumnis gehe eindeutig zu Lasten des Klägers, zumal da dieser seiner Berufungsschrift nicht gleich eine Übersetzung beigefügt und entgegen der von einem italienischen Zustellungsbeamten erhaltenen Belehrung sich auf die laienhafte Beratung durch einen Touristen verlassen habe.
Gegen das am 16. Oktober 1966 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 14. November 1966 Revision eingelegt. In der am 12. Dezember 1966 eingegangenen Revisionsbegründung wird u. a. gerügt, das LSG hätte dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgeben müssen, es habe zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
Verwerfung der Revision.
Sie hält das Verfahren des LSG für einwandfrei.
Entscheidungsgründe
II
Die vom LSG nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision ist auf die Rüge gestützt, das LSG habe zu Unrecht ein Prozeßurteil statt eines Sachurteils erlassen; sie macht damit einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG geltend (vgl. BSG 1, 283 ff); die Statthaftigkeit der Revision hängt also davon ab, ob die Rüge zutrifft (vgl. BSG 1, 150). Das ist nach Meinung des Senats der Fall.
Mit Recht geht das LSG davon aus, daß die Berufungsfrist für den Kläger, dem das erstinstanzliche Urteil außerhalb des Geltungsbereichs des SGG zugestellt worden war, auf jeden Fall in entsprechender Anwendung des § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG drei Monate betrug (ebenso SozR Nr. 11 zu § 151 SGG), mithin am 19. Februar 1964 24,00 Uhr ablief.
Das LSG sieht die am 20. Februar 1964 bei ihm eingegangene Berufungsschrift als verspätet an. Die Ausführungen, mit denen die Revision dieser Ansicht entgegentritt und sich auf die Jahresfrist gemäß § 66 Abs. 2 SGG beruft, können unerörtert bleiben, da – auch wenn insoweit dem LSG beigepflichtet würde – jedenfalls seine Auffassung, dem Kläger sei keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, nicht gebilligt werden kann,
Anspruch auf Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte der Kläger nach § 67 Abs. 1 SGG, wenn er ohne Verschulden verhindert war, die mit dem 19. Februar 1964 abgelaufene Berufungsfrist einzuhalten; da er die versäumte Rechtshandlung am 20. Februar 1964 bereits nachgeholt hatte, kam es auf einen besonderen Wiedereinsetzungsantrag nicht an (§ 67 Abs. 2 Sätze 3 und 4 SGG, vgl. SozR Nr. 9 zu § 67 SGG).
Seine Annahme, der Kläger habe die Versäumung der Berufungsfrist durch sein schuldhaftes Verhalten herbeigeführt und damit auch zu vertreten, stützt das LSG an sich mit Recht auf den Umstand, daß der Kläger, obwohl ihm die Rechtsmittelbelehrung durch den italienischen Zustellungsbeamten verständlich gemacht und erläutert worden war, auf den zweifellos nicht zuverlässigen Rat eines Touristen die Berufungsschrift nicht an das LSG, sondern an die Beklagte abgeschickt hatte. Da das Schreiben in italienischer Sprache abgefaßt war, konnte der Kläger nicht damit rechnen, daß eine deutsche Dienststelle den Inhalt sofort erkennen und das Schreiben ohne weiteres an die richtige Adresse weiterleiten würde. Alles, was diese Fehlhandlung des Klägers an Verzögerungen bewirkte, mußte zu Lasten des Klägers gehen, so etwa wenn das Berufungsschreiben bei der Übersendung zum Dolmetscherbüro abhanden gekommen oder dort verlegt worden wäre, ferner wenn der Dolmetscher im normalen Geschäftsbetrieb die Übersetzung nicht rechtzeitig fertiggestellt hätte.
Daß nun die Berufungsschrift des Klägers einen Tag zu spät beim LSG einging, ist indessen nicht auf Umstände dieser Art zurückzuführen. Dies hat das LSG verkannt und damit nicht beachtet, daß der erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen dem Verschulden des Klägers und der Fristversäumnis (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.–6. Aufl., S. 238 b IV; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 7 a zu § 67 SGG) hier fehlt.
Nachdem die Berufungsschrift – mit deutscher Übersetzung – am 10. Februar 1964 vom Dolmetscherbüro wieder bei der Beklagten eingetroffen war, hat deren Kanzlei am 14. Februar 1964 das Begleitschreiben an das LSG gefertigt. Daß diese Datierung zutrifft, folgt aus den Angaben der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 19. November 1964. Da der 14. Februar 1964 ein Freitag war, kann möglicherweise das Begleitschreiben erst am Montag, dem 17. Februar 1964, dem Geschäftsführer der Beklagten zur Unterzeichnung vorgelegt worden sein. Ob bei diesem zeitlichen Ablauf der Ereignisse von einer verzögerten Bearbeitung der Angelegenheit durch die Beklagte – wie der Kläger gemeint hat – die Rede sein kann, bedarf keiner abschließenden Erörterung. Auf jeden Fall sind nämlich – auch wenn man den Gang der Dinge bis einschließlich 17. Februar 1964 noch dem Kläger zur Last legt – jedenfalls von da an nur noch Geschehensabläufe denkbar, die nicht mehr vom Kläger schuldhaft verursacht wurden.
Entweder schickte die Beklagte die Postsendung, bestehend aus ihrem Begleitschreiben, der Berufungsschrift im Original und der deutschen Übersetzung, noch am 17. Februar 1964 an das LSG ab. Dieses Verhalten, das keinerlei zeitraubenden Verwaltungsaufwand mehr bedingte, war der Beklagten nicht nur zumutbar, sondern mußte von ihr auch erwartet werden, da es – unabhängig von ihrer Pflicht, in den Fällen des § 91 Abs. 2 SGG „unverzüglich” tätig zu werden – schon aus der allgemeinen Fürsorgepflicht einer Berufsgenossenschaft (BG) gegenüber den von ihr betreuten Versicherten folgt. Nach Meinung des Senats hat in einem Fall der hier gegebenen Art die BG diejenige Sorgfalt anzuwenden, mit der sie ihre eigenen Rechtsmittelschriften behandelt. Dazu gehört jedenfalls, daß ein derartiger Schriftsatz nach Unterzeichnung unverzüglich abgesandt wird. Wurde aber die Berufungsschrift von der in Stuttgart ansässigen Beklagten am 17. Februar 1964 zur Post gegeben, so war dies rechtzeitig genug, um ihren verspäteten Eingang beim LSG als unverschuldet zu kennzeichnen; daß eine am Montag in Stuttgart aufgegebene Postsendung erst am Donnerstag den gleichfalls in Stuttgart domizilierenden Empfänger erreicht, bedeutet einen außergewöhnlichen Umstand, mit dem niemand zu rechnen braucht (vgl. BSG 1, 227, 232; SozR Nr. 17 und 36 zu § 67 SGG).
Die andere theoretisch noch denkbare Möglichkeit bestünde darin, daß die Beklagte die Berufungsschrift nach Unterzeichnung des Begleitschreibens nicht sogleich am 17. Februar 1964 abgesandt, sondern zunächst noch bei sich behalten hat. Wie bereits oben dargelegt, würde ein solches Vorgehen einer BG gegen die ihr obliegende Sorgfaltspflicht verstoßen. Mit einem solchen Verstoß – mag er auch nur auf Nachlässigkeit beruhen – braucht aber ein Versicherter nicht zu rechnen, auch wenn er selbst schuldhaft seine Rechtsmittelschrift nicht auf den richtigen Weg gebracht, sondern sie dem Versicherungsträger überantwortet hat. Die hierdurch bewirkte Fristversäumnis könnte also gleichfalls nicht dem Kläger angelastet werden.
Das LSG hat somit zu Unrecht dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert. Bei fehlerfreiem Verfahren hätte es die Berufung nicht verwerfen dürfen, vielmehr über das Rechtsmittel in der Sache selbst entscheiden müssen. Auf die begründete Revision muß somit das angefochtene Urteil aufgehoben und – da eine Sachentscheidung durch den erkennenden Senat nicht in Betracht kommt – der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Dem LSG obliegt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.
Unterschriften
Brackmann, Bundesrichter Dr. Kaiser ist durch Urlaub an der Unterschrift verhindert., Dr. Baresel, Brackmann
Fundstellen