Entscheidungsstichwort (Thema)

Fiktion des Witwenrentenanspruchs

 

Leitsatz (redaktionell)

Das AVG nF kennt keine Vorschrift, nach der das Bestehen eines Witwenrentenanspruchs im Zeitpunkt der Wiederheirat in bestimmten Fällen fingiert würde.

 

Normenkette

RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Oktober 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 2. November 1961 werden aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. April 1960 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf eine wiederaufgelebte Witwenrente hat (§ 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Die Klägerin, geboren 1903 und in Berlin-Pankow wohnhaft, war in erster Ehe mit K Sp verheiratet, der 1940 verstorben ist. Sie erhielt aus dessen Versicherung von der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) Witwenrente bis einschließlich Mai 1945. 1947 heiratete sie in Berlin-Pankow G W. Am 25. Oktober 1958 zog sie in die Bundesrepublik. Das Stadtbezirksgericht Pankow schied im Juni 1959 auf Klage des G. W die Ehe. Das Landgericht München I stellte mit Urteil vom 19. Dezember 1963 fest, daß die Klägerin an der Scheidung kein größeres als gleich großes Mitverschulden trifft.

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten im Dezember 1959 eine Witwenrente aus der Versicherung des K. Sp. Die Beklagte lehnte den Antrag ab.

Das Sozialgericht (SG) Bremen verurteilte die Beklagte, der Klägerin Witwenrente zu gewähren (Urteil vom 2. November 1961).

Das Landessozialgericht (LSG) Bremen wies die Berufung der Beklagten zurück und ließ die Revision zu (Urteil vom 20. Oktober 1964). Es sah die Voraussetzungen des § 68 Abs. 2 AVG als erfüllt an. Es führte aus, die Klägerin behaupte zwar selbst nicht, daß sie bei der Wiederheirat im Jahre 1947 einen Anspruch auf Witwenrente nach dem damals in Berlin geltenden Recht gehabt habe. Damals habe sie auch im Bundesgebiet keine Witwenrente beanspruchen können; denn die Aufsplitterung Deutschlands nach 1945 habe in allen Teilen den Untergang der nach früherem Reichsrecht entstandenen Ansprüche bewirkt; es seien also auch die Ansprüche untergegangen, die der Klägerin aus dem Bescheid der früheren RfA zugestanden hatten (Hinweis auf BSG 19, 97 und weitere Urteile des erkennenden Senats vom 23. April 1963). Jedoch sei im vorliegenden Fall, in dem bereits jahrelang Witwenrente bezogen worden sei, ausnahmsweise die Versagung der Witwenrente nicht gerechtfertigt. Das Eingliederungsprinzip verlange, daß bei Wiederheirat der Witwe im jetzigen Sowjetsektor von Berlin oder in der sowjetisch besetzten Zone das Wiederaufleben der Rente darauf abgestellt werde, ob im Fall der Wiederheirat in der Bundesrepublik ein Anspruch auf Witwenrente bestanden und die Wiederheirat zum Wegfall des Anspruchs geführt haben würde. Bei dieser Betrachtung erfülle die Klägerin aber die Voraussetzungen für das Wiederaufleben der Witwenrente (Hinweis auf "Die Praxis" 1963, 337).

Die Beklagte beantragt mit der Revision, das Urteil des LSG Bremen und das Urteil des SG Bremen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG. Was das LSG zur Anwendung des Eingliederungsprinzips bei Wiederheirat im Sowjetsektor von Berlin sage, finde im Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) und Fremdrentengesetz (FRG) keine Grundlage.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach dem Gesetz keinen Anspruch auf eine Witwenrente, weil mit ihrer Wiederheirat kein Anspruch auf Witwenrente weggefallen ist, der wieder aufleben kann (§ 68 Abs. 2 AVG, Art. 2 § 25 AnVNG).

§ 68 Abs. 2 AVG gibt der Witwe, die nach dem Tod ihres ersten Ehemannes, eines Versicherten, wieder geheiratet hat und deren zweite Ehe ohne ihr alleiniges oder überwiegendes Verschulden aufgelöst worden ist, keinen originären Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes. Es lebt nur der Witwenrentenanspruch wieder auf, der mit der Wiederheirat weggefallen ist. Eine Witwe, der bei der Wiederheirat kein solcher Anspruch zugestanden hat, erlangt deshalb mit der Auflösung der zweiten Ehe auch keinen Anspruch nach § 68 Abs. 2 AVG (BSG 14, 238).

Die Klägerin hatte zur Zeit der Wiederheirat keinen Anspruch auf Witwenrente. Der ihr früher von der RfA zuerkannte Rentenanspruch war mit dem Zusammenbruch 1945 und der Stillegung der RfA untergegangen (BSG 4, 91 ff). Nach der Aufteilung Deutschlands nach 1945, die auch mehrere organisatorisch und materiell-rechtlich unterschiedliche Systeme der Sozialversicherung entstehen ließ (BSG 19, 97), unterstand die Klägerin dem an ihrem Wohnort geltenden Recht. Zur Zeit ihrer Wiederheirat war dies die Satzung der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) vom 20. September 1946. Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin nach der Satzung der VAB keinen Anspruch auf Witwenrente hatte (§§ 51, 52, 53 der Satzung). Diese Feststellung bindet das Revisionsgericht (§ 162 Abs. 2 SGG; SozR Nr. 60 zu § 162 SGG; § 562 ZPO).

Zur Zeit der Wiederheirat hatte die Klägerin, weil sie in Berlin wohnte, auch nach dem in den Ländern der jetzigen Bundesrepublik geltenden Recht keinen Anspruch auf Witwenrente; denn die einzelnen damaligen Regelungen gewährten - unter bestimmten weiteren Voraussetzungen - Rentenansprüche nur solchen Personen, die in dem jeweiligen Geltungsbereich wohnten (zB SVA Nr. 1 vom 29.1.1947 - ArbBl für die britische Zone 1947, 74; Bayerische Anordnung Nr. 7 vom 22.11.1945 und Bayerische Verordnung Nr. 51 vom 12.2.1946, sowie Bayerisches Flüchtlingsrentengesetz vom 3.12.1947 - GVBl 1946, 56, 186; 1947, 215 -).

Entgegen der Meinung des LSG kann aus den Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) nicht entnommen werden, daß bei Wiederheirat seit dem Zusammenbruch im Mai 1945 in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin ein nach § 68 Abs. 2 AVG zu berücksichtigender Witwenrentenanspruch zu unterstellen wäre, wenn die Klägerin damals - hätte sie im Bundesgebiet gewohnt - einen solchen Anspruch gehabt hätte (BSG 19, 97; s. auch BSG vom 18.5.1966 - 11/1 RA 132/63). Das Eingliederungsprinzip, das dem neuen Fremdrentenrecht zugrunde liegt, ist zwar bei der Auslegung der einzelnen Normen des FRG und FANG zu berücksichtigen. Es bildet aber keinen selbständigen Rechtsgrund, der es ermöglicht, eine "wiederaufgelebte" Witwenrente zuzusprechen. Das Prinzip ist im FRG nur im Bereich des Arbeits- und Versicherungslebens durchgeführt. Die nach diesem Gesetz berechtigten Personen werden für bestimmte Rechtsfolgen so gestellt, als wären sie unter den gleichen Verhältnissen (zB Ersatzzeiten, Ausfallzeiten) im Gebiet der Bundesrepublik versichert bzw. beschäftigt gewesen. Das AVG nF kennt aber keine Vorschrift, nach der das Bestehen eines Witwenrentenanspruchs im Zeitpunkt der Wiederheirat in bestimmten Fällen fingiert würde. Da es den Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente gerade entscheidend davon abhängig macht, daß mit der Wiederheirat ein Witwenrentenanspruch aufgegeben wurde, kann § 68 Abs. 2 AVG nicht auf Fälle ausgedehnt werden, in denen bei der Wiederheirat ein Witwenrentenanspruch, der hätte untergehen können, nicht bestanden hat.

Das angefochtene Urteil verweist bei der Begründung seiner Entscheidung zu Unrecht auf die Abhandlung in "Die Praxis" 1963, 337. Dort wird der Gedanke einer umfassenderen Eingliederung nur als Anregung an den Gesetzgeber ausgesprochen (Teil IX).

Da die Klägerin somit keinen Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente hat, ist die Revision der Beklagten begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Dieses Ergebnis mag der Klägerin zwar unbillig erscheinen, weil sie bis 1945 Witwenrente bezogen und den Anspruch hierauf nur wegen der Nachkriegsverhältnisse verloren hat. Jedoch lassen Sinn und Wortlaut des Gesetzes, in dem das Wiederaufleben des Anspruchs allein an den früheren Wegfall durch die Wiederheirat geknüpft ist, eine andere Auslegung, d.h. die Einbeziehung sonstiger Wegfallgründe nicht zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297149

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