Leitsatz (amtlich)

Die in SozSichAbk CAN Art 5 Abs 1 Buchst b UAbschn ii vom 1971-03-30 enthaltene Anordnung, daß nur auf Beitragszahlungen gegründete Rententeile auszuzahlen sind, gilt auch für Verfolgte.

 

Normenkette

RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; SozSichAbk CAN Art. 5 Abs. 1 Buchst. b UAbschn ii Fassung: 1971-03-30

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 29.09.1977; Aktenzeichen V JBf 84/76)

SG Hamburg (Entscheidung vom 29.01.1974; Aktenzeichen 19 J 1342/72)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. September 1977 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Frage, ob von der in Art 5 Abs 1 Buchst b Unterabschnitt ii des deutsch-kanadischen Abkommens über Soziale Sicherheit enthaltenen Anordnung, daß nur auf Beitragszahlungen gegründete Rententeile auszuzahlen sind, zugunsten der Ersatzzeiten der Verfolgung (§ 1251 Abs 1 Nr 4 Reichsversicherungsordnung - RVO -) eine Ausnahme zu machen ist.

Der im Jahr 1902 geborene Kaufmann E W früher W, war jüdischer Abstammung und Verfolgter aus Gründen der Rasse. Er war von 1921 bis 1933 in Deutschland beschäftigt und mit Unterbrechungen in der Rentenversicherung versichert. Im Juni 1935 wanderte er aus Verfolgungsgründen nach Südafrika aus; dort erwarb er im Jahr 1947 die südafrikanische Staatsangehörigkeit. Im Mai 1949 kehrte er nach Deutschland (Südbaden) zurück. Von 1950 bis 1956 war er als Vorstand der Klosterbrennerei AG in E tätig. Im Jahr 1956 wanderte er nach Kanada aus; dort erwarb er im Jahr 1961 die kanadische Staatsangehörigkeit; er lebte in Kanada bis zu seinem Tod (29. Mai 1974).

Auf einen Antrag des Versicherten hin erkannte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden mit Bescheid vom 1. Februar 1968 aufgrund von 23 Monaten Beitragszeit, 168 Monaten Ersatzzeit und einem Monat pauschaler Ausfallzeit den Anspruch auf Altersruhegeld an, stellte aber fest, daß die Rente ruhe. Mit einem weiteren Bescheid vom 21. Oktober 1970 berechnete sie das Altersruhegeld neu, beließ es aber bei dem Ruhen. Die Klage des Versicherten gegen diese Bescheide wurde abgewiesen, vom Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg im Urteil vom 4. Februar 1972 - L 4 J 1023/70 - ua mit folgender Begründung: Das Altersruhegeld ruhe nach § 1315 Abs 1 RVO, weil der Versicherte sich freiwillig außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhalte und weder Deutscher im Sinne von Art 116 Abs 1 Grundgesetz (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne von Art 116 Abs 2 Satz 1 GG sei. Der Versicherte habe nicht mehr den verfassungsrechtlichen Sonderstatus des Art 116 Abs 2 Satz 1 GG mit dem dazugehörenden Wiedereinbürgerungsanspruch. Er habe diesen Status dadurch verloren, daß er im Jahr 1947 eine ausländische Staatsangehörigkeit angenommen habe, nach Rückkehr in das Bundesgebiet 1956 erneut ausgewandert sei und im Jahr 1961, also lange nach Inkrafttreten des GG und nach Entstehung seines Anspruches auf Wiedereinbürgerung, wiederum eine ausländische Staatsangehörigkeit angenommen habe. Die Revision des Versicherten wurde durch den Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. Juni 1972 - 12 RJ 160/72 - als unzulässig, weil verspätet, verworfen.

Im Juni 1972 beantragte der Versicherte im Hinblick auf das deutsch-kanadische Abkommen über Soziale Sicherheit (Abk) vom 30. März 1971 (BGBl 1972 II 218) die Auszahlung des Altersruhegeldes. Die Beklagte - als zuständige Verbindungsstelle - ordnete mit Bescheid vom 1. November 1972 für die Zeit vom 1. Mai 1972 an die Auszahlung des Teiles des Altersruhegeldes, der auf den 23 Beitragsmonaten beruht, an und lehnte im übrigen den Antrag ab.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat mit Urteil vom 29. Januar 1974 die Klage des Versicherten auf Auszahlung der vollen Rente abgewiesen. Der Versicherte hat im März 1974 Berufung eingelegt. Nach seinem Tod hat der Kläger, sein Sohn und Alleinerbe, das Verfahren fortgesetzt. Das LSG Hamburg hat mit Urteil vom 29. September 1977 die Berufung als unbegründet zurückgewiesen, aber die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Der Versicherte sei weder Deutscher im Sinne des Art 116 Abs 1 noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art 116 Abs 2 Satz 1 GG gewesen. Grundsätzlich müsse sein Altersruhegeld also ruhen. Die Erleichterung, die Art 5 Abs 1 Buchst b Unterabschnitt ii des Abk bringe, gelte nur für den Teil der Rente, der auf bundes- oder reichsdeutschen Beitragszeiten beruhe. Daß die zuerkannte Ersatzzeit eine solche der Verfolgung sei (§ 1251 Abs 1 Nr 4 RVO), ändere an dem Ergebnis nichts.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1315 Abs 1 RVO und des Abk. Für seine Ausführungen wird auf den Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 12. Dezember 1977 Bezug genommen.

Er beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. September 1977 und des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Januar 1974 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 1. November 1972 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, das Altersruhegeld in voller Höhe auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Auf ihren Schriftsatz vom 16. Januar 1978 wird verwiesen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, rechtmäßig. Der Kläger hat keinen weitergehenden Anspruch auf Auszahlung des dem Versicherten bewilligten Altersruhegeldes.

Daß das Altersruhegeld - läßt man das Abk. außer acht - ruhte, ist durch die Bescheide der LVA Baden vom 1. Februar 1968 und 21. Oktober 1970 festgestellt (vgl zu der Rechtsfrage auch BSGE 28, 99 = SozR Nr 2 zu § 1321 RVO sowie BSGE 27, 219 und Urteil vom 26. Oktober 1976 - 4 RJ 21/76 - DRV 77, 260). Die Bescheide waren für die Beteiligten in der Sache bindend (§ 77 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Denn ein Verwaltungsakt, der über das Ruhen einer Rente ergeht, ist der Bindungswirkung fähig (BSGE 26, 98, 100/101; 32, 114, 115).

Gegenüber der allgemeinen Ruhensregelung des § 1315 RVO idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG), auf die auch die Bescheide von 1968 und 1970 gestützt sind, bringt das Abk gewisse Erleichterungen. Es ist am 1. Mai 1972 in Kraft getreten. Art 3 Abs 1 regelt die Gleichstellung der beiderseitigen Staatsangehörigen, Art 4 Abs 1 die Zahlbarkeit von Geldleistungen, jedoch jeweils nur, soweit das Abk. nichts anderes bestimmt. Nach Art 5 Abs 1 Buchst b Unterabschnitt ii werden Renten nur gezahlt, soweit sie auf Zeiten entfallen, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Rentenversicherungen Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten. Damit hat das Abk. eine "eigene sehr eingeschränkte Zahlungsgrundlage" geschaffen, bei der "beitragslose Zeiten stets von der Honorierung in das Ausland ausgeschlossen sind" (Koch/Hartmann/Schmidt, Die Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch, Anm 1 zu Art 5 des Abk.). Wie sich aus der Denkschrift zum Abk., Abschnitt II, zu Art 5, ergibt, haben die Vertragschließenden geglaubt, auf die in dieser Regelung liegende, in den meisten anderen Abkommen über Soziale Sicherheit vermiedene Härte - insbesondere aus Gründen des kanadischen Rechts - nicht verzichten zu können.

Nach Art 14 Abs 2 des Abk. werden bei dessen Anwendung auch die vor seinem Inkrafttreten nach den Rechtsvorschriften der Vertragsparteien gegebenen erheblichen Tatsachen berücksichtigt; nach Abs 3 sind die Bestimmungen des Abk. ohne Rücksicht auf die Rechtskraft von Entscheidungen anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des Abk. getroffen worden sind; Abs 4 sieht vor, daß bereits festgestellte Renten unter Berücksichtigung des Abk. auch von Amts wegen neu festgestellt werden können. Das bedeutet hier, daß einerseits die Vergünstigungen des Abk. dem Versicherten ohne Rücksicht auf die bindenden Bescheide zugute kommen mußten, andererseits aber die Bindung bestehen bleibt, soweit das Abk. keine Besserstellung vorsieht. Die Rechtslage entspricht der des sprachlich ähnlich gefaßten Art 5 § 6 Satz 1 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476), wonach bei einer Neufeststellung die Bindungswirkung des früheren Bescheides nur insoweit entfällt, als es sich um die durch das RVÄndG eingeführten Leistungsverbesserungen handelt, im übrigen aber der frühere, bindend gewordene Rentenbescheid nicht nachzuprüfen ist (BSG SozR Nr 3 zu Art 5 § 6 RVÄndG; BSGE 36, 251, 253).

Sind sonach die Bescheide von 1968 und 1970 in dem Umfang bindend, als sie das Ruhen des Rententeiles betreffen, der nicht auf Beitragszeiten beruht, und hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Vergünstigungen des Abk. vollständig angewendet, dann könnte die Klage nur Erfolg haben, wenn, wie der Kläger meint, das Abk. gegen seinen Wortlaut auf die Ersatzzeit der Verfolgung (§ 1251 Abs 1 Nr 4 RVO) zu erstrecken wäre. Das ist jedoch nicht der Fall.

Der Auslegung zwischenstaatlicher Sozialversicherungsabkommen sind enge Grenzen gezogen (BSGE 36, 125, 126; 39, 284, 287; Urteil vom 31. August 1978 - 4/5 RJ 106/76 -). Aber selbst eine großzügige Auslegung könnte nicht zu dem vom Kläger gewünschten Ergebnis führen. Denn die Beschränkung der Auszahlungspflicht auf den auf Beitragszeiten beruhenden Beitragsteil entspricht, wie sich aus der Denkschrift ergibt, der Absicht der vertragschließenden Staaten und folgt dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Wenn sich Kanada zu einer Verbesserung seiner Auslandszahlungsbestimmungen an deutsche Staatsangehörige "nicht verstehen wollte oder konnte", mußte die deutsche Seite ihrerseits den Export ihrer Leistungen einschränken (Koch/Hartmann/Schmidt, aaO, Anm 1 zu Art 5).

Der Vortrag des Klägers, es sei nicht die Absicht der vertragschließenden Staaten gewesen, den Verfolgten Vergünstigungen des Sozialversicherungsrechts zu entziehen, trifft nicht den Kern der Sache. Sicherlich hatten die Vertragschließenden eine solche Absicht nicht. Was sie aber beabsichtigt und vereinbart haben, war, das grundsätzlich für Verfolgte und Nicht-Verfolgte bestehende Ruhen der Auslandsrente nur teilweise und nicht vollständig zu beseitigen.

Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652412

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge