Leitsatz (amtlich)
1. Ein Widerspruch ergreift im Zweifel alle Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsaktes.
2. Dem Prozeßerfordernis des Vorverfahrens (SGG §§ 78, 80 Nr 1) ist auch dann genügt, wenn die Verwaltung nur über einen Teil der belastenden Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsakts und damit nur unvollständig über den Widerspruch entschieden hat.
Normenkette
SGG §§ 77-78, 80 Nr. 1, § 84 Abs. 1
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Juli 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezog auf Grund des Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) V vom 29. Juni 1951 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. wegen der Schädigungsfolgen "Herzmuskelschwäche nach Eiweißmangelschaden, Blasenschwäche". Im August 1953 beantragte er die Gewährung von Ausgleichsrente, weil er nunmehr als Tankwart tätig sei, nicht etwa mehr im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb. Das VersorgA gewährte unter Zugrundelegung eines sonstigen Einkommens von 100,- DM Ausgleichsrente von 60,- DM vom 1. August 1953 an, von 80,- DM vom 1. September 1954 an und von 105,- DM vom 1. Januar 1955 an. Mit Neufeststellungsbescheid vom 21. August 1956 entzog das VersorgA dem Kläger die Rente mit Ende September 1956, weil die MdE unter 25 v. H. liege. Zugleich stellte das VersorgA die Ausgleichsrente auf 31,- DM vom 1. Mai 1955 an und auf 68,- DM vom 1. April 1956 bis 30. September 1956 fest und forderte den überhobenen Betrag von 1.036,- DM gemäß § 47 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vom Kläger zurück. Mit einem am 30. August 1956 beim VersorgA eingegangenen Schriftsatz erhob dieser Widerspruch. Mit einem weiteren Schriftsatz vom 5. Oktober 1956 beantragte er, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, Herzschädigung als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und für sämtliche Schädigungsfolgen die MdE neu festzustellen. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 29. Dezember 1956). Im Klageverfahren verglichen sich die Beteiligten dahin, daß der Beklagte dem Kläger wegen Blasenschwäche und Stecksplitter eine Beschädigtenrente nach einer MdE von 25 v. H. vom 1. Oktober 1956 an zu zahlen hat. Das Sozialgericht (SG) Lüneburg änderte mit Urteil vom 10. Oktober 1961 die Verwaltungsbescheide ab, soweit sie nicht durch den Teilvergleich vom 10. Oktober 1961 erledigt worden waren. Es verneinte die Pflicht des Klägers, 1.036,- DM zurückzuzahlen. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 23. Juli 1962 das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage gegen den Rückforderungsbescheid als unzulässig ab. Es ließ die Revision zu. Der Bescheid vom 21. August 1956 umfasse eine Neufeststellung der MdE nach § 62 BVG, eine Neufeststellung der Ausgleichsrente und eine auf § 47 Abs. 2 VerwVG gestützte Rückforderung. Die Neufeststellung der MdE sei durch Vergleich erledigt. Die Neufeststellung (Entziehung) der Ausgleichsrente sei vom Kläger nicht angefochten worden. Gegenstand des Klageverfahrens sei allein die Rückforderung. Hierbei fehle es aber an der Prozeßvoraussetzung des Vorverfahrens. Der Widerspruchsbescheid vom 29. Dezember 1956 enthalte keine Ausführungen über den Rückforderungsanspruch. Der allgemeinen Anfechtung sei kein substantiierter Antrag gefolgt; der etwa im Schriftsatz vom 11. Juli 1957 enthaltene Widerspruch sei verspätet, weil die Frist am 23. September 1956 abgelaufen sei. Dem LSG sei wegen der Rechtsverbindlichkeit des Rückforderungsbescheides verwehrt, in eine sachliche Prüfung einzutreten.
Gegen das ihm am 13. August 1962 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. August 1962 die zugelassene Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 10. Oktober 1961 zurückzuweisen.
Mit der rechtzeitig eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger, das LSG habe zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen. Das LSG hätte auch über die Rückforderung und über die Anrechnung von Einkommen auf die Ausgleichsrente entscheiden müssen, weil er den Bescheid vom 21. August 1956 hinsichtlich aller Punkte angefochten habe.
Der Beklagte hat keine Erklärungen abgegeben.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist form- und fristgerecht erhoben (§ 164 SGG) und auch begründet.
Streitig ist, ob das LSG befugt war, von einer sachlichen Prüfung des Begehrens des Klägers abzusehen und die Klage als unzulässig abzuweisen. Nachdem der Teilvergleich den Streit über die Feststellung der Versorgungsleiden und die Höhe der MdE erledigt hatte, blieb im Berufungsverfahren noch die Neufeststellung der Ausgleichsrente und der Rückforderungsanspruch des Beklagten in Höhe von 1.036 DM im Streit. Die Verwaltung konnte unbeschadet ihrer Rechte alle drei Punkte (MdE des Leidenszustandes, Ausgleichsrente, Rückforderung) in einem Bescheid sachlich-rechtlich regeln. Diesen Bescheid vom 21. August 1956 hat der Kläger form- und fristgemäß und ohne Beschränkung auf einzelne Ansprüche angefochten. Er hat seinen Widerspruch auch später weder ausdrücklich eingeschränkt noch dadurch erkennbar begrenzt, daß er in seiner Begründung sich nur mit der Schädigungsfolge und der Höhe der MdE befaßt hat. Die in § 84 Abs. 1 SGG normierten Mindesterfordernisse für einen Widerspruch (Beachtung der Monatsfrist, schriftliche Einreichung beim VersorgA) sind erfüllt. Das Gesetz verlangt weder einen substantiierten Antrag noch eine Begründung des Widerspruchs (Peters/Sautter/Wolff, SGb § 84 Anm. 4; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 234 a XVII). Hat der Kläger aber über die Erfordernisse eines Widerspruchs hinaus diesen teilweise begründet, so fehlt jeder Anhalt dafür, daß er damit seinen Widerspruch hat einschränken wollen. Das LSG durfte nicht ohne weiteres eine stillschweigende Beschränkung des Begehrens unterstellen; es hätte vielmehr den Kläger zunächst befragen müssen, welche Ansprüche er noch aufrechterhalte. Dies hat das LSG nicht getan; es war mithin nicht befugt, den unbeschränkt erhobenen Widerspruch des Klägers auf den Gegenstand des Teilvergleichs zu beschränken. Für das weitere Verfahren ist daher davon auszugehen, daß der Kläger seinen Widerspruch weder beschränkt noch teilweise zurückgenommen hat. Das Landesversorgungsamt hat danach bei dieser Sachlage den Widerspruch nur unvollständig geprüft und Ausführungen über die Ausgleichsrente und über die Rückforderung unterlassen. Diese Mängel der Verwaltung braucht der Kläger nicht zu vertreten. Durch seinen rechtzeitigen Widerspruch ist mithin die Bindung des angefochtenen Bescheides im Ganzen gehemmt, so daß das LSG nicht von einer teilweisen Bindung des Klägers an den belastenden Bescheid ausgehen durfte (§ 77 SGG).
Da hiernach ein Vorverfahren stattgefunden hat - mag es auch nicht über die Ausgleichsrente und über die Rückforderung entschieden haben -, so besteht für den Fortgang des Klageverfahrens kein Prozeßhindernis im Sinne der §§ 78, 80 Nr. 1 SGG. Es ist insbesondere kein weiteres Vorverfahren erforderlich, wenn die Verwaltung das ihr eingeräumte Prüfungsrecht im Vorverfahren teilweise ungenutzt gelassen hat. Dieser Auffassung steht auch nicht die Entscheidung des 11. Senats in BSG 20, 199, entgegen, weil sie von einem anderen Sachverhalt ausgeht. Dort hatte das Vorverfahren ganz gefehlt, während hier ein Vorverfahren, wenn auch mangelhaft, durchgeführt worden ist. Da sonach das LSG aus dem Widerspruch des Klägers zu dessen Nachteil unzutreffende rechtliche Folgerungen gezogen und deshalb ein Prozeßurteil erlassen hat, hat es das Gesetz und zwar § 77 SGG verletzt; denn der Kläger hat Anspruch auf eine Sachentscheidung. Wegen dieser mit Erfolg gerügten Gesetzesverletzung war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben.
Da infolge des Prozeßurteils des LSG tatsächliche Feststellungen über den Anspruch des Klägers auf Ausgleichsrente seit 1. Mai 1955 und über die Voraussetzungen des Rückforderungsanspruches des Beklagten (§ 47 Abs. 2 VerwVG idF v. 2. Mai 1955, BGBl I 202) fehlen, konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden.
Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt einer den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen