Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Punktbewertung bei Prüfung des Anspruchs auf Schwerstbeschädigtenzulage wegen mehrerer Folgen einer Hirnverletzung.

 

Leitsatz (redaktionell)

Das menschliche Gehirn ist in zwei selbständige Funktionsbereiche und damit praktisch in zwei selbständige Organsysteme iS der DV § 31 Abs 5 BVG § 2 Abs 2 unterteilt.

 

Normenkette

BVG § 31 Abs. 5 S. 2; BVG § 31 Abs 5 DV § 2 Abs. 2

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1963 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger erlitt im Januar 1944 als Soldat einen Radunfall, an dessen Einzelheiten er sich nicht mehr erinnern kann; als Folge dieses Radunfalls kam es zu einem Schädelbasisbruch mit längerer Bewußtlosigkeit.

Bei der Umanerkennung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG - Bescheid vom 25. Mai 1951) wurden die bereits nach den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 (SVD 27) als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen

"1) Schwund des linken Sehnerven und geringe Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links, Hirnleistungsschwäche mit Wesensveränderung,

2) abgeheilter Speichenbruch links"

ohne Änderung übernommen. Wegen dieser Schädigungsfolgen bezieht der Kläger die Rente eines Erwerbsunfähigen (100 v. H.) und Pflegezulage nach Stufe I.

Sein Antrag vom 2. Dezember 1960, ihm im Hinblick auf die Schwere seiner anerkannten Gesundheitsstörungen eine Schwerstbeschädigtenzulage zu gewähren, wurde mit Bescheid vom 24. Juli 1961 abgelehnt, weil mit den anerkannten Schädigungsfolgen "die erforderliche Punktzahl" - das sind 130 Punkte - im Sinne der Verordnung zur Durchführung (DVO) des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1961 nicht erreicht werde.

Der hiergegen vom Kläger erhobene Widerspruch wurde nach Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme (Dr. Z vom 30. November 1961) und nach Anhörung des ärztlichen Dienstes der Versorgungsbehörde (Stellungnahme vom 6. Dezember 1961) mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1962 zurückgewiesen; dabei wurden die Schädigungsfolgen des Klägers wie folgt bewertet:

1) Hirnschädigung

= MdE 80 v. H.

= 80 Punkte

2) Auswirkung der Hirnschädigung auf den linken Arm

= MdE 30 v. H.

= 15 Punkte

3) Auswirkungen auf das linke Bein

= MdE 30 v. H.

= 15 Punkte

4) Erblindung des linken Auges

= MdE 30 v. H.

= 15 Punkte

Gesamtpunktzahl

125 Punkte

Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat im Klageverfahren einen Befund- und Behandlungsbericht des Neurologen Dr. D in L (vom 12. April 1962) eingeholt und im Termin zur mündlichen Verhandlung den Internisten Dr. K als ärztlichen Sachverständigen gehört. Mit Urteil vom 25. April 1962 hat es den Bescheid vom 24. Juli 1961 abgeändert sowie den Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1962 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. Juni 1960 an eine Schwerstbeschädigtenzulage gemäß § 31 Abs. 5 BVG nach Stufe I zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat zu der Frage, in welchem Maße die anerkannten Schädigungsfolgen einzeln betrachtet die Erwerbsfähigkeit des Klägers beeinträchtigen, den Neurologen Dr. S und den Chirurgen Dr. H als ärztliche Sachverständige gehört und mit Urteil vom 15. Mai 1963 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen: Die auf Grund der gesetzlichen Ermächtigung im § 31 Abs. 5 Satz 2 BVG erlassene DVO vom 17. April 1961 ordne die Gewährung von Schwerstbeschädigtenzulage nach einem Punktsystem an; dabei könne, wenn der erwerbsunfähige Beschädigte nicht Empfänger einer Pflegezulage der Stufe III oder höher sei (§ 5 Abs. 2 der DVO), eine Schwerstbeschädigtenzulage nur dann bewilligt werden, wenn die anerkannten Schädigungsfolgen mit wenigstens 130 Punkten zu bewerten seien. Im übrigen sei bei der Punktbewertung von der Höhe der MdE der einzelnen anerkannten Schädigungsfolgen auszugehen (§ 2 Abs. 1 der DVO). § 2 Abs. 2 der DVO, nach dem mehrere Schädigungsfolgen an einem Bein oder an einem Arm oder an einem Organsystem als Schädigungsfolge anzusehen seien, mache erkennbar, daß die Bewertung von der Auslegung der Begriffe "einzelne Schädigungsfolge" und "Organsystem" abhänge. Dies sei bei Hirnbeschädigten von besonderer Bedeutung, denn wollte man das Gehirn des Menschen als einheitliches Organsystem im Sinne des § 2 Abs. 2 der DVO auffassen, dann komme gerade der Hirnbeschädigte, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Hirnschädigung niemals um mehr als 100 v. H. beeinträchtigt sein könne, allenfalls zu einer Punktzahl von 100 und damit nie oder nur über § 5 Abs. 2 der DVO in den Genuß einer Schwerstbeschädigtenzulage; gerade aber eine Hirnschädigung führe u. U. zu außergewöhnlichen Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit und des Allgemeinbefindens. In Erkenntnis dieses Umstandes habe deshalb auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) angeordnet (Rundschreiben vom 19. Januar 1962), daß das menschliche Gehirn nach seinen verschiedenartigen Funktionen in zwei Bereiche und damit in zwei Organsysteme im Sinne des § 2 Abs. 2 der DVO einzuteilen sei, nämlich in den Hirnfunktionsbereich, der die geistige Leistungsfähigkeit - mit möglichen Wesensveränderungen -, und in den weiteren Bereich, dessen Schädigung hauptsächlich die körperliche Leistungsfähigkeit, die Funktion der Gliedmaßen, betreffe. Diese Einteilung entspreche, wie sich aus der Stellungnahme des Dr. S und auch aus der Bezeichnung der Schädigungsfolgen im Rentenbescheid ergebe, auch der medizinischen Betrachtungsweise. Beim Kläger seien, so hat das LSG weiter ausgeführt, beide Hirnfunktionsbereiche durch wehrdienstbedingte Schädigungen betroffen, der zuerst genannte mit der Hirnleistungsschwäche und der Wesensveränderung (frontobasaler Bereich), und dann die Schädigung der zentralen Hirnregion, die zur halbseitigen Körperschwäche links mit Gefühlsstörungen geführt habe. Für die Schädigung des zuerst genannten Hirnfunktionsbereichs habe die Versorgungsbehörde zutreffend eine MdE um 80 v. H. und demgemäß auch 80 Punkte zugrunde gelegt (§ 2 Abs. 4 der DVO). Die Schädigung des zweiten Funktionsbereichs, der Zentralregion, führe bei gesonderter Beurteilung - auf Grund der gutachtlichen Stellungnahme des Dr. K, der schriftlichen Stellungnahme des Dr. Z und der Bestätigung durch Dr. S - zu einer MdE um 50 v. H. und zu 50 Punkten. Der Beklagte gliedere zu Unrecht die Schwäche der linken Körperseite des Klägers in Schädigungen des linken Armes und des linken Beines mit der Wirkung auf, daß sich dadurch die Punktzahl bei Anwendung des § 2 Abs. 4 der DVO erheblich verringere. Diese Aufteilung durch den Beklagten sei schon deshalb nicht statthaft, weil die Schwäche der linken Körperseite einen einheitlichen Funktionsbereich, nämlich das Zentralnervensystem der ganzen linken Seite, betreffe; darüber hinaus werde sie auch der Bedeutung der Schädigung nicht gerecht, weil sich die Schwäche der linken Körperseite nicht in der Schwächung von Arm und Bein erschöpfe, sie vielmehr die Funktion der gesamten Muskulatur der linken Körperseite, insbesondere auch des Rumpfes, betreffe. Schließlich entspreche es den medizinischen Anschauungen, den wehrdienstbedingten Schwund des linken Sehnerven des Klägers - als weiteres Organsystem - noch gesondert zu bewerten (MdE 30 v. H. = 15 Punkte). Nach allem ergebe sich eine Gesamtzahl von 80 + 50 + 15 = 145 Bewertungspunkten, so daß dem Kläger eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I zustehe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses ihm am 4. Juni 1963 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 28. Juni 1963, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 2. Juli 1963, Revision eingelegt. Mit der - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 4. September 1963 - am 15. August 1963 eingegangenen Revisionsbegründung vom 9. August 1963 rügt er die Verletzung des § 2 Abs. 2 der DVO zu § 31 Abs. 5 BVG und trägt vor: Entgegen der Auffassung des LSG seien die angefochtenen Entscheidungen nicht rechtswidrig. Im übrigen habe das LSG das Rundschreiben des BMA vom 19. Januar 1962 unrichtig ausgelegt und darüber hinaus das vorangehende Rundschreiben vom 18. Mai 1961 unbeachtet gelassen, das auch für Hirnverletzte gelte und durch das Rundschreiben vom 19. Januar 1962 nicht gegenstandslos geworden sei. Er (der Beklagte) habe im Bescheid vom 24. Juli 1961 die Hirnschädigung des Klägers ordnungsgemäß in zwei Organsysteme getrennt, nämlich in die Auswirkungen der Hirnkontusion auf die geistige Leistungsfähigkeit und Wesensbildung und in diejenigen auf den linken Arm und das linke Bein mit den daran bestehenden Schwächeerscheinungen. Wenn hierbei Arm und Bein (mit je 30 v. H. MdE und je 15 Punkten) gesondert geregelt worden sei, so entspreche dies dem Prinzip, wie es im Rundschreiben vom 18. Mai 1961 niedergelegt sei, daß nämlich "der Schaden an den einzelnen Gliedmaßen jeweils getrennt zu betrachten sei". Die Schwächung der Muskulatur der linken Körperseite, insbesondere des Rumpfes, der zum "Stamm in seiner besonderen Funktion der Haltung und des Schutzes der inneren Organe" als einem besonderen Organsystem im Sinne des Rundschreibens gehöre, habe außer Betracht bleiben müssen, weil hierfür eine meßbare MdE nicht einzusetzen gewesen sei. Ob sich auch die Berechnungsweise des Berufungsgerichts im gesetzlichen Rahmen halte und deshalb gegebenenfalls rechtfertigen lasse, könne dahingestellt bleiben; entscheidend sei hier allein, daß jedenfalls die Berechnungsweise der Versorgungsbehörde dem Gesetz nicht entgegenstehe und deshalb nicht rechtswidrig sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1963 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 1962 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1963 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend, weil es sich bei dem zweiten Hirnfunktionsbereich - auch nach ärztlicher Auffassung - um eine durchgehende Halbseitenschwäche links handele, die zentral bedingt sei und sich deshalb nicht in Arm und Bein trennen lasse; die Schwäche umfasse die ganze Körperseite und entspringe dem Zentralnervensystem.

Auf die Schriftsätze der Beteiligten wird verwiesen.

Die vom LSG zugelassene und somit statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist vom Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) und deshalb zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Nach § 31 Abs. 5 Satz 1 BVG erhalten Schwerstbeschädigte, die durch die anerkannten Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen sind, eine in die Stufen I, II und III abgestufte monatliche Schwerstbeschädigtenzulage; § 31 Abs. 5 Satz 2 BVG enthält die gesetzliche Ermächtigung für die Bundesregierung, mit Zustimmung des Bundesrats durch Rechtsverordnung den Personenkreis, der durch seine Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen ist, sowie seine Einordnung in die Stufen I bis III zu bestimmen. In Ausführung dieser gesetzlichen Ermächtigung ist die Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1961 (BGBl I 453) ergangen, nach der die Gewährung einer Schwerstbeschädigtenzulage ... - und ihrer Stufen I, II und III - für erwerbsunfähige Beschädigte in einem Punktsystem geregelt ist, sofern nicht der - erwerbsunfähige - Schwerstbeschädigte Anspruch auf eine Pflegezulage (§ 35 BVG) mindestens nach Stufe III hat (§§ 1 Abs. 1, 5 Abs. 2 DVO); dabei müssen die anerkannten Schädigungsfolgen mindestens 130 Punkte ergeben (§ 1 Abs. 1 DVO).

Nach § 2 Abs. 1 DVO ist bei der Bewertung von der Höhe der MdE auszugehen, die die einzelnen anerkannten Schädigungsfolgen bedingen. Mehrere Schädigungsfolgen an einem Arm oder an einem Bein oder an einem Organsystem sind jedoch als eine Schädigungsfolge anzusehen (§ 2 Abs. 2 DVO); liegen mehrere Schädigungsfolgen vor, so muß nach § 2 Abs. 3 DVO die Höhe der MdE für jede einzelne Schädigungsfolge ermittelt werden, wobei Schädigungsfolgen, die eine MdE um weniger als 25 v. H. bedingen, außer Betracht zu bleiben haben. § 2 Abs. 4 DVO schließlich regelt im einzelnen die Feststellung der Punkte: Jedes Vomhundert an MdE ist mit einem Punkt, bei Schädigungsfolgen, die eine MdE um weniger als 45 v. H., aber mindestens um 25 v. H. bedingen, mit einem halben Punkt zu bewerten. Die einzelnen Ergebnisse sind sodann zusammenzuzählen.

Der BMA hat zur DVO zu § 31 Abs. 5 BVG die Versorgungsbehörden in seinem Rundschreiben vom 18. Mai 1961 - V b 3 5680.1 - 1349/61 (BVBl 1961, 70 Nr. 42) - darauf hingewiesen, daß die Beurteilung der Schädigungsfolgen bei der Durchführung dieser Verordnung sich von der üblichen Beurteilung nur insoweit unterscheide, als der Gesamtschaden an den einzelnen Gliedmaßen und an den einzelnen Organsystemen jeweils getrennt zu betrachten sei; dabei hat er - als seine Auffassung - ausgeführt, daß als "Organsystem" im Sinne des § 2 Abs. 2 DVO ua der "Stamm in seiner Funktion der Haltung und des Schutzes der inneren Organe" und "das Gehirn in seiner Funktion der Wesensbildung und der geistigen Leistung" zu gelten hätten; das Vorliegen von Krampfanfällen bei Hirnbeschädigten sei zB als Schaden des "Organsystems Gehirn" zu betrachten. Es ist nicht erkennbar, ob diese im vorgenannten Rundschreiben des BMA geäußerte Auffassung über das "Gehirn als ein (einheitliches) Organsystem" Anlaß für das Berufungsgericht gewesen ist, Hirnschäden als Schädigungsfolgen einer besonderen, im Ergebnis von der Auffassung des BMA abweichenden Betrachtung zu unterziehen. Auf jeden Fall aber trifft zu, wenn das LSG ausgeführt hat, daß Hirnbeschädigte selbst dann, wenn sie - ohne weitere Schädigungsfolgen - erwerbsunfähig seien, niemals oder allenfalls nur über § 5 Abs. 2 DVO (als Empfänger einer Pflegezulage mindestens der Stufe III) in den Genuß einer Schwerstbeschädigtenzulage kommen könnten, wollte man, wie der BMA in seinem Rundschreiben vom 18. Mai 1961, im Sinne des § 2 Abs. 2 DVO das Gehirn des Menschen als ein "einheitliches Organsystem" ansehen; denn die Erwerbsunfähigkeit wegen einer Hirnschädigung (100 v. H.) könnte nach § 2 Abs. 4 DVO immer nur mit höchstens 100 Punkten bewertet werden, obwohl gerade der Gesundheitsschaden des Hirnbeschädigten unter Umständen nicht nur dessen Erwerbsfähigkeit, sondern auch sein Allgemeinbefinden und seine gesamte Lebensweise erheblich beeinträchtigt. Solche oder ähnliche Erwägungen sind dann offenbar auch Anlaß für den BMA zu einem weiteren Rundschreiben zu dieser Frage gewesen; in diesem - BMA vom 19. Januar 1962 (V b 3 - 5681.1 - 105/62 = BVBl 1962, 26 Nr. 19) - ist ausgeführt:

Die Durchführung der Verordnung zu § 31 Abs. 5 BVG hat gezeigt, daß nicht beabsichtigte Härten auftreten, wenn bei Beschädigten eine Störung der Wesensbildung und der geistigen Leistung und dazu Krampfanfälle vorhanden sind. Nach meinem Rundschreiben vom 18. Mai 1961 sollten diese Schäden als Ausfälle nur des einen Organsystems Gehirn angesehen werden.

Es ist notwendig, bei der Errechnung der Punkte das Gehirn zu unterteilen in Bereich 1, worunter Störungen in der Funktion der Wesensbildung und der geistigen Leistung, und Bereich 2, worunter eine ausgesprochene zentral-nervale Funktionsstörung (zB Krampfanfälle, cerebrale Gleichgewichtsstörungen) erfaßt werden.

Wenn der BMA damit von der bisherigen Betrachtung des menschlichen Gehirns als ein einheitliches Organsystem abgegangen ist und dieses nunmehr in zwei selbständige Funktionsbereiche und damit praktisch in zwei selbständige Organsysteme im Sinne des § 2 Abs. 2 DVO aufgeteilt hat, so ist diese Regelung, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, im Hinblick auf die verschiedenartigen Funktionen des Gehirns sinnvoll und auch allein geeignet, den verschiedenartigen Funktionsausfällen bei einer Schädigung des Gehirns Rechnung zu tragen sowie zu einer dem Sinn und Zweck des § 31 Abs. 5 BVG entsprechenden befriedigenden Lösung der Problematik der Hirnverletzten zu kommen. Die Unterteilung in den Funktionsbereich, der die geistige Leistungsfähigkeit mit etwaigen Störungen der Wesensbildung oder sogar mit eingetretenen Wesensveränderungen betrifft (Organsystem Nr. 1 des Gehirns), und den weiteren, durch den zentral-nervale Störungen mit etwaigen Beeinträchtigungen der körperlichen Leistungsfähigkeit (Krampfanfälle, cerebrale Gleichgewichtsstörungen, Gefühlsstörungen, Lähmungserscheinungen usw.) erfaßt werden (Organsystem Nr. 2 des Gehirns), entspricht zweifelsfrei auch der medizinisch-wissenschaftlichen Anschauung zur Frage der Funktionsausfälle bei Hirnverletzungen. Das ergibt sich schon aus dem neurologischen Fachgutachten des Dr. G (Dr. G) vom 28. Juni 1946, in dem nicht schlechthin von einer Hirnverletzung des Klägers die Rede ist, sondern in dem neben den durch die Hirnverletzung eingetretenen psychischen Veränderungen ("Hirnleistungsschwäche und Wesensveränderung") auch die physischen - zentral-nervalen - Ausfallerscheinungen ("geringe Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links") ausdrücklich als Schädigungsfolgen eigener Art angeführt und bezeichnet worden sind. Diese Betrachtungsweise ist offenbar auch die des Neurologen Dr. Z in seinem Gutachten vom 30. November 1961, auch wenn er unter Hinweis auf das (erste) Rundschreiben des BMA vom 18. Mai 1961 "das Gehirn in seiner Funktion der Wesensbildung und der geistigen Leistung" als ein einheitliches, in seinen Funktionen nicht teilbares Organ angesehen wissen will. Denn praktisch hat auch er eine Teilung in zwei Funktionsbereiche vorgenommen, wenn er die psychischen Veränderungen beim Kläger (Wesensänderung und Hirnleistungsschwäche) "in den Vordergrund" stellt und daneben noch von einer bestehenden "Hemiparese" spricht; das ergibt sich sogar zweifelsfrei noch aus seiner - zuungunsten des Klägers und wohl im Hinblick auf das Rundschreiben des BMA vom 18. Mai 1961 vorgenommenen - "Aufschlüsselung", bei der er die Schäden am Gehirn und solche am linken Arm und linken Bein getrennt bewertet hat; es kann nämlich nicht zweifelhaft sein, daß es sich bei den vom Gutachter genannten Schäden am linken Arm und linken Bein nur um die von ihm vorher erwähnte Hemiparese handeln kann. Der Gutachter Dr. K (Gutachten vom 25. April 1962) hat es lediglich für "unphysiologisch" gehalten, "Schädigungen eines Organs, nämlich des Gehirns, in Einzelschädigungen zu zergliedern"; trotzdem hat er ausgeführt, daß es durch den Unfall des Klägers im Januar 1944 zu einer Hirnschädigung gekommen sei, die einmal eine Hirnleistungsschwäche und ferner eine Halbseitenschwäche zur Folge gehabt habe, "zu einer Hirnschädigung also, die zu psychopathologischen und zu neurologischen Ausfallerscheinungen geführt habe"; dabei sei die Hirnleistungsschwäche (die psychologischen Ausfälle) mit 80 Punkten, die Schwäche des linken Armes und des linken Beines ("als Symptom einer Halbseitenschwäche") mit mindestens 50 Punkten zu bewerten. Der Neurologe Dr. S (Gutachten vom 15. Mai 1963) schließlich hat dargelegt, daß es durch die Schädelbasisfraktur des Klägers neben der Quetschung des linken Sehnerven - mit der Folge der Erblindung des linken Auges - "zu einer wohl umschriebenen frontobasalen Hirnschädigung gekommen sei, als deren Folgen man heute eine Hirnleistungsschwäche und Wesensveränderung feststellen könne", und daß die Basisfraktur weiter "vermutlich durch contre coup Wirkung zu einer umschriebenen Schädigung in der rechten Zentralregion" geführt habe, als deren Folge man heute eine durchgehende Halbseitenschwäche links (Rumpf und Gliedmaßen links) finde; eine Trennung der Schädigungsfolgen in solche an Armen und Beinen sei, da sie zentral bedingt seien, nicht möglich. Der Gutachter hat in Übereinstimmung mit Dr. K den Hirnschaden, der die Wesensänderung und die Hirnleistungsschwäche des Klägers beinhaltet, mit 80 v. H., die zentrale Funktionsstörung mit 50 v. H. und die Erblindung des linken Auges mit 30 v. H. bewertet. Aus alledem ist ersichtlich, daß die im (zweiten) Rundschreiben des BMA vom 19. Januar 1962 mitgeteilte Auffassung über die Notwendigkeit der Unterteilung des Organsystems Gehirn in zwei verschiedene Funktionsbereiche und damit praktisch in zwei Organsysteme der medizinischen Wirklichkeit entspricht und insbesondere auch der Tatsache Rechnung trägt, daß eine schwere Hirnverletzung wie die des Klägers sich in voneinander völlig verschiedenen Funktionsbereichen auswirkt, also Gesundheitsstörungen zur Folge hat, die die Erwerbsfähigkeit des Beschädigten, sein Allgemeinbefinden und seine gesamte Lebensweise auf die verschiedensten Arten beeinträchtigen.

Dies war im übrigen wohl auch die Auffassung des Beklagten selbst, als er bei Erteilung des SVD-Bescheides vom 27. November 1947 und des Umanerkennungsbescheides nach dem BVG vom 25. Mai 1951 nicht einfach nur eine "Hirnverletzung" des Klägers als Schädigungsfolge anerkannte, sondern der ärztlichen Auffassung des Gutachters Dr. G (Dr. G) folgend schon damals von zwei Funktionsbereichen des Gehirns ausging und neben der "Hirnleistungsschwäche mit Wesensveränderung" (als Folge einer frontobasalen Hirnschädigung) auch die "geringen Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links" (als Folgen der zentralnervalen Funktionsstörung der cerebralen Region des Gehirns) als Schädigungsfolge ansah. Es geht hierbei nicht an - wie es der Beklagte will -, diese besondere Schädigungsfolge "geringe Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links", die der Gutachter Dr. G (Dr. G) als "Restparese mit Sensibilitätsstörungen links" bezeichnet hat, der Gutachter Dr. Z als "Hemiparese", der Gutachter Dr. K als "neurologische Ausfälle (Symptom einer Halbseitenschwäche)" und schließlich der Gutachter Dr. S als "durchgehende Halbseitenschwäche links (Rumpf und Gliedmaßen links)", noch weiter zu unterteilen, und zwar in Auswirkungen der Hirnschädigung auf den linken Arm und Auswirkungen auf das linke Bein. Denn zunächst einmal übersieht der Beklagte hierbei, daß diese zuerst von dem Gutachter Dr. Z vorgenommene Unterteilung noch dessen Bestreben entsprungen ist, der ursprünglichen Auffassung des BMA in seinem Rundschreiben vom 18. Mai 1961 über das menschliche Gehirn als "ein einheitliches Organsystem" Rechnung zu tragen. Er übersieht weiter, daß es sich beim Kläger als Folge der zentral-nervalen Funktionsstörung der cerebralen Region des Gehirns gar nicht nur um Auswirkungen auf den linken Arm und auf das linke Bein, sondern nach Auffassung aller gehörten Gutachter um eine durchgehende Halbseitenschwäche (Restparese, Hemiparese, neurologische Ausfälle als Symptom einer Halbseitenschwäche) handelt, die neben den Funktionen der Gliedmaßen auch diejenigen der Muskulatur und des gesamten Rumpfes in der linken Hälfte beeinträchtigt (Dr. S). Darüber hinaus schließlich widerspricht es den Gesetzen der Logik, Gesundheitsstörungen (am Arm und Bein), die von nur einer Schädigung ausgehen, so behandeln zu wollen, als sei jede der beiden Gliedmaßen (Arm und Bein) durch voneinander unabhängige schädigende Vorgänge in ihrer Funktion gestört und beeinträchtigt worden.

Nach alledem ist die Entscheidung des Berufungsgerichts, daß ebenso wie die Hirnleistungsschwäche des Klägers mit Wesensveränderung (als Folge einer frontobasalen Hirnschädigung) auch die Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links (als Folge einer Schädigung der Zentralregion des Gehirns) als eine einheitliche, nicht noch weiter unterteilbare Schädigungsfolge angesehen werden müssen, rechtlich nicht zu beanstanden. Ebenso zutreffend ist das LSG dabei zu der Auffassung gelangt, daß die Schädigungsfolgen für die vom Kläger begehrte Schwerstbeschädigtenzulage nach Punkten nur so bewertet werden können, daß - ohne weitere Unterteilung - sowohl "die Hirnleistungsschwäche mit Wesensveränderung" als auch die "geringen Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links" als einzelne Schädigungsfolgen im Sinne des § 2 Abs. 3 DVO zu § 31 Abs. 5 BVG mit den nach § 2 Abs. 4 DVO vorgesehenen Punktzahlen bewertet werden müssen. Was dabei die Punktbewertung dieser einzelnen Schädigungsfolgen selbst betrifft, hat das LSG in Übereinstimmung mit den Gutachtern Dr. K und Dr. S und auch in Übereinstimmung mit dem Beklagten die beim Kläger bestehende "Hirnleistungsschwäche mit Wesensänderung" bei einer MdE um 80 v. H. nach § 2 Abs. 4 DVO zutreffend mit 80 Punkten bewertet; die einheitliche Bewertung der "geringen Lähmungserscheinungen mit Gefühlsstörungen links", für die beide Gutachter übereinstimmend eine MdE um - einheitlich - 50 v. H. angenommen haben (der Beklagte kommt bei der von ihm vorgenommenen Unterteilung zu einer MdE um zweimal 30 v. H.), beträgt 50 Punkte. Zu diesen insgesamt 130 Punkten sind die auch vom Beklagten für die Erblindung des linken Auges (MdE 30 v. H.) errechneten 15 Punkte hinzuzurechnen, so daß sich für den Kläger eine die Mindestpunktzahl des § 1 Abs. 1 DVO (130 Punkte) um 15 Punkte übersteigende Gesamtpunktzahl, nämlich 145 Punkte, ergibt (bei Berücksichtigung der Neufassung der DVO zu § 31 Abs. 5 BVG vom 17. Juli 1964 ergeben sich nach § 2 Abs. 4 Satz 3 DVO sogar 150 Punkte). Danach steht dem Kläger, wie vom Vordergericht ohne Rechtsverstoß entschieden, vom 1. Juni 1960 an eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I (§ 31 Abs. 5 BVG) zu. Die Revision des Beklagten konnte deshalb keinen Erfolg haben, sie mußte nach § 170 Abs. 1 Satz 1 als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 76

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge