Leitsatz (redaktionell)
Die 2 selbständigen Funktionsbereiche des Gehirns sind als 2 innere Organsysteme iS des BVG§31Abs5DV § 3 Buchst d anzusehen.
Normenkette
BVG § 31 Abs. 5 DV § 3 Buchst. d Fassung: 1964-07-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Februar 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger, geboren am 19. Dezember 1896, erhielt seit 1. Februar 1952 wegen "Zustand nach Schädelverletzung mit Hirnverletzung, Anfallsbereitschaft, Innenohrschwerhörigkeit" als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. und die einfache Pflegezulage. Im November 1961 beantragte er, ihm eine Schwerstbeschädigtenzulage nach § 31 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes (NOG) vom 27. Juni 1960 zu gewähren. Das Versorgungsamt Hamburg lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 16. März 1962 ab, weil die Schädigungsfolgen des Klägers nicht wenigstens 130 Punkte nach der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1961 erreichten. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 1.6.1962).
Mit der Klage machte der Kläger geltend, er sei durch die anerkannten Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen im Sinne der Vorschrift des § 31 Abs. 5 BVG über die Gewährung einer Schwerstbeschädigtenzulage.
Während des Klageverfahrens nahm die Beklagte neue medizinische Erhebungen vor. Sie ermittelte, daß bei dem Kläger als Folge der Hirnverletzung auch eine "Hirnleistungsschwäche an der Grenze des leichten bis mittelschweren Grades" vorliege, die mit einer MdE von 50 v.H. zu bewerten sei. Die Beklagte erklärte sich darauf bereit, dem Kläger eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I ab 1. November 1961 zu zahlen. Sie legte folgende Punktbewertung zugrunde:
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Kopf: |
(Knochendefekt im rechten Stirn- und Scheitelbein) MdE |
30 v.H. |
15 Pkt. |
Gehirn 1: |
Hirnleistungsschwäche |
50 v.H. |
50 " |
Gehirn 2: |
Hirnorganische Anfälle |
60 v.H. |
60 " |
Gehör: |
Innenohrschwerhörigkeit beiderseits |
30 v.H. |
15 " |
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140 Pkt. |
Der Kläger nahm dieses Angebot als Teilanerkenntnis an, begehrte aber die Gewährung der (höheren) Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe II.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg sprach dem Kläger mit Urteil vom 27. Oktober 1965 die Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe II zu. Es führte aus, der Kläger könne die Höherbewertung der Punktzahl nach § 3 Buchst. d DVO zu § 31 Abs. 5 BVG vom 17. Juli 1964 (entsprechend § 3 d aF) um 20 Punkte beanspruchen; die Hirnverletzung habe nicht nur eine erhebliche Hirnleistungsschwäche, sondern auch hirnorganische Anfälle zur Folge; damit seien zwei verschiedene Funktionsbereiche (Organsysteme) betroffen, nämlich der psychische und der physische Bereich; die hirnorganischen Anfälle wirkten sich auf die körperliche Leistungsfähigkeit so schwer aus, daß bei Hinzutreten der Hirnleistungsschwäche kaum noch Kompensationsmöglichkeiten durch verstärkten Einsatz des Willens und "psychischer Reserven" zur Verfügung ständen. Das SG ließ die Berufung zu.
Mit der Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Hamburg machte die Beklagte geltend, eine Erhöhung der Punktzahl nach § 3 Buchst. d der DVO zu § 31 Abs. 5 BVG sei nur berechtigt, "wenn Schädigungsfolgen an zwei oder mehreren inneren Organsystemen zutreffen". Dies sei hier nicht der Fall; das Gehirn sei ein einheitliches Organsystem, wenn auch mit verschiedenen Funktionsbereichen; das Gehirn sei außerdem kein "inneres Organsystem" im Sinne des § 3 Buchst. d der DVO.
Das LSG lud die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auf ihren Antrag nach § 76 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum Verfahren bei. Es wies die Berufung mit Urteil vom 22. Februar 1967 zurück. Das LSG führte aus, die Auffassung der Beklagten, unter inneren Organsystemen i.S. des § 3 Buchst. d der DVO seien ausschließlich diejenigen des Brust- und Bauchraumes zu verstehen, sei zu eng; vielmehr gehörten zu den inneren Organsystemen alles das, was am menschlichen Körper nicht "unmittelbar den äußeren Einwirkungen ausgesetzt und innerhalb einer schützenden Körperhöhle gelegen sei", also auch die Organsysteme des Gehirns. Durch die Hirnleistungsschwäche und die hirnorganischen Anfälle des Klägers seien die zwei verschiedenartigen Funktionsbereiche des Gehirns betroffen; dies sei, wie auch der ärztliche Sachverständige, der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W ausgeführt habe, als ein Zusammentreffen von Schädigungsfolgen an zwei "inneren Organsystemen" zu werten.
Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein; sie beantragt,
die Urteile des SG Hamburg vom 27. Oktober 1965 und des LSG Hamburg vom 22. Februar 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 3 d DVO zu § 31 Abs. 1 BVG verletzt. Die Auffassung des LSG widerspreche dem Wortlaut und dem Sinn dieser Vorschrift; auch das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 28. Oktober 1965 - 8/11 RV 572/63 - erkennen lassen, daß die zwei Funktionsbereiche des Gehirns nicht als "innere Organsysteme" im Sinne des § 3 d DVO anzusehen seien.
Die Beteiligten sind auf das Urteil des BSG vom 23. April 1968 - 9 RV 74/67 -, das sich mit der hier streitigen Frage befaßt, hingewiesen worden.
Die Beigeladene trat der in diesem Urteil dargelegten Auffassung, die mit der des LSG übereinstimmt, entgegen. Sie schloß sich dem Antrag der Beklagten an. Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.
Die Beklagte hat im Laufe des Rechtsstreites die anerkannten Schädigungsfolgen des Klägers nach § 2 der DVO der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1961 (idF der Änderungs- und Ergänzungsverordnung vom 17.7.1965) mit 140 Punkten bewertet und dem Kläger eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I (§ 31 Abs. 5 BVG, § 5 DVO) bewilligt. Streitig ist somit nur noch, ob dem Kläger eine Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe II zusteht, weil, wie er geltend macht, seine Schädigungsfolgen (nicht nur mit 140 Punkten sondern) mit mindestens 160 Punkten zu bewerten sind (§ 31 Abs. 5 BVG, § 5 DVO). Die Auffassung des Klägers trifft zu, wenn die Voraussetzungen für die Erhöhung der nach § 2 ermittelten Punktzahl um 20 Punkte nach § 3 Buchst. d DVO erfüllt sind, d.h., "wenn Schädigungsfolgen an zwei oder mehreren inneren Organsystemen zusammentreffen". Die gerichtlichen Vorinstanzen haben zu Recht bejaht, daß die Voraussetzungen des § 3 d DVO vorliegen. Sie sind zutreffend davon ausgegangen, daß schädigungsbedingte Hirnverletzungsfolgen, die zu Störungen und Ausfallerscheinungen in den beiden verschiedenartigen Funktionsbereichen des Gehirns, der geistigen Leistung und Wesensbildung einerseits und der zentralnervalen Funktion andererseits geführt haben, wie das bei der Hirnleistungsschwäche und den hirnorganischen Anfällen des Klägers nach der für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG der Fall ist, als Schädigungsfolgen an zwei selbständigen Organsystemen zu werten sind (vgl. auch Urteile des BSG vom 28.10.1965, SozR Nr. 1 zu DVO § 31 Abs. 5 BVG Allg und vom 23.4.1968, SozR Nr. 4 zu § 2 der DVO zu § 31 Abs. 5 vom 17.4.1961; ferner Rundschreiben des BMA vom 19.1.1962 - BVBl. 1962, 26, sowie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen 1965, 27). Hiervon ist auch die Beklagte ausgegangen; auch sie hat bei der Punktbewertung nach § 2 der DVO die Hirnleistungsschwäche und die hirnorganischen Anfälle des Klägers als Schädigungsfolgen an zwei Organsystemen angesehen; sie hat die beiden Schädigungsfolgen mit getrennten Vomhundertsätzen bewertet und diese in die entsprechenden Punktzahlen umgesetzt. Zu prüfen bleibt sonach nur noch, ob das Gehirn, d.h. hier die zwei selbständigen Funktionsbereiche des Gehirns als zwei innere Organsysteme im Sinne des § 3 Buchst. d DVO anzusehen sind. Auch dies ist in Übereinstimmung mit den gerichtlichen Vorinstanzen zu bejahen. Das BSG hat sich mit dieser Frage bereits befaßt. Es hat in dem Urteil vom 23. April 1968 - 9 RV 74/67 - entschieden: "Bei Ermittlung der Punktzahl für die Schwerstbeschädigtenzulage nach § 31 Abs. 5 BVG gelten die beiden Funktionsbereiche des Gehirns (Bereich 1: Wesensbildung und geistige Leistung; Bereich 2: zentralnervale Gehirnfunktion" als zwei "innere Organsysteme" im Sinne des § 3 c bzw. d der DVOen zu § 31 Abs. 5 vom 17. April 1961 und 17. Juli 1964. Demgemäß ist die nach § 2 DVO errechnete Punktzahl um 20 Punkte zu erhöhen, wenn bei einem Beschädigten Schädigungsfolgen an diesen beiden Funktionsbereichen des Gehirns zusammentreffen. In diesem Urteil (des 9. Senats des BSG) ist ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob es dem medizinischen Sprachgebrauch entspreche, die beiden Funktionsbereiche des Gehirns den inneren Organsystemen zuzuordnen; diese Funktionsbereiche seien jedenfalls nach dem Sinn und Zweck und dem Inhalt der in der DVO getroffenen Regelung über die Schwerstbeschädigtenzulage als (zwei) innere Organsysteme zu werten. Der erkennende Senat schließt sich diesem Urteil und seiner Begründung an.
Diese Auffassung widerspricht nicht, wie die Beklagte mit der Revision geltend macht, der "erklärten Rechtsauffassung" des erkennenden Senats in seinem Urteil vom 28. Oktober 1965 (aaO). Der erkennende Senat hat in dem erwähnten Urteil ausgeführt, "bei Prüfung des Anspruchs auf Schwerstbeschädigtenzulage wegen mehrerer Folgen einer Hirnverletzung, sei von der Betrachtung des Gehirns als ein einheitliches Organ abzugehen; die zwei Funktionsbereiche des Gehirns seien vielmehr praktisch als zwei selbständige Organsysteme zu werten; diese Regelung sei im Hinblick auf die verschiedenartigen Funktionen des Gehirns sinnvoll und auch allein geeignet, den verschiedenartigen Funktionsausfällen bei der Schädigung des Gehirns Rechnung zu tragen, sowie zu einer dem Sinn und Zweck des § 31 Abs. 5 BVG entsprechenden befriedigenden Lösung der Problematik der Hirnverletzten zu kommen".
Der erkennende Senat hat zwar hieraus in dem ihm damals vorliegenden Falle nur hergeleitet, daß die (beiden) Hirnverletzungsfolgen nicht als (nur) eine Schädigungsfolge nach § 2 Abs. 2 DVO, sondern als zwei Schädigungsfolgen nach § 2 Abs. 3 mit den in § 2 Abs. 3 mit den in § 2 Abs. 4 vorgesehenen Punktzahlen zu bewerten seien. Daraus ist jedoch nicht zu entnehmen, daß der erkennende Senat in dem erwähnten Urteil die Auffassung vertreten hat, die beiden selbständigen Funktionsbereiche des Gehirns seien als zwei Organsysteme nur im Sinne des § 2 DVO, nicht aber im Sinne des § 3 Buchst. d anzusehen und sie seien auch keine "inneren Organsysteme" im Sinne dieser Vorschrift. Die Frage der Erhöhung der auf Grund des § 2 DVO ermittelten Punktzahl nach § 3 d DVO hat der Senat in dem erwähnten Urteil nicht erörtert; hierzu hat er auch keine Veranlassung gehabt.
Auch die Ausführungen der Beigeladenen geben dem Senat keine Veranlassung, von der Auffassung des 9. Senats abzuweichen.
Die Erfassung der Schädigungsfolgen an dem Ort der funktionellen Auswirkung (Differenzierung entsprechend den jeweiligen lokalen Funktionsausfällen bei Hirnschädigung), die die Beigeladene für richtig hält (vgl. auch BMA Rdschr. vom 18.5.1961 - BVBl S. 70 Nr. 42 -), führt jedenfalls dann zu keiner sachgerechten Bewertung der Hirnverletzungsfolgen, wenn zwar schwere Störungen in beiden Funktionsbereichen des Gehirns vorliegen, aber nicht solche, die sich an den Extremitäten oder anderen Organsystemen auswirken oder einordnen lassen (vgl. auch Goetz, KOV 1966, 41, 42).
Wenn die Wertung der beiden Funktionsbereiche des Gehirns als zwei Organsysteme als notwendig, sinnvoll und als allein geeignet angesehen wird, um den verschiedenartigen Funktionsausfällen bei Schädigung des Gehirns Rechnung zu tragen (so auch BMA Rdschr. vom 19.1.1962 - BVBl 1962, 26 Nr. 19; ferner Urteil des BSG vom 28.10.1965, aaO), so kann die Erhöhung der Punktzahl nach § 3 d der DVO beim Zusammentreffen schwerer Störungen in beiden Bereichen nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß "die Hirnschädigungsfolgen auf psychiatrischem Gebiet einerseits und neurologischem Gebiet andererseits (in Wirklichkeit doch) nicht Ausdruck verschiedener selbständiger Organsysteme seien". Es entspricht aber nicht dem Sinn und Zweck des § 31 Abs. 5 BVG und dem Gedanken der differenzierten Bewertung der Schädigungsfolgen, der auch in § 3 d DVO zum Ausdruck kommt, Hirnschädigungen (abgesehen vom Fall des § 3 Buchst. e) von der Anwendung der Erhöhungsschrift "bei erschwerenden Zusammentreffen von Schädigungsfolgen" auszuschließen.
Die Auffassung der Beigeladenen, die Auswirkungen einer Hirnbeschädigung, die zu Störungen in den beiden Funktionsbereichen des Gehirns geführt hat, würden "überbewertet" werden wenn sie ebenso zu bewerten wären, wie zwei Schädigungsfolgen an verschiedenen inneren Organsystemen, wie "Verdauung", Harnapparat, "Herz- und Kreislauf", vermag der Senat nicht zu teilen. Er ist vielmehr - ebenso wie der 9. Senat (aaO) - der Ansicht, daß "das erschwerende Zusammentreffen" von Störungen in beiden Funktionsbereichen des Gehirns jedenfalls in gleichem Maße zu einem "außergewöhnlichen Betroffensein" im Sinne des § 31 Abs. 5 führen kann, wie das Zusammentreffen von Störungen an zwei anderen (inneren) Organsystemen.
Das LSG hat danach die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt.
Die Revision der Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen