Leitsatz (amtlich)

Ein Anspruch auf Elternrente nach RVO § 596 iVm UVNG Art 4 § 2 Abs 1 entsteht nicht, wenn der Tod des Versicherten vor dem Inkrafttreten des UVNG (1963-07-01) eingetreten ist.

 

Normenkette

RVO § 596 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. April 1966 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Kläger sind die Eltern des am 11. Dezember 1958 im Alter von 18 Jahren durch einen Arbeitsunfall ums Leben gekommenen Straßenbauarbeiters O Sch. Sie beanspruchen Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte auf Grund des § 593 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 geltenden Fassung - aF - durch Bescheid vom 7. Oktober 1959 den Anspruch mit im wesentlichen folgender Begründung ab: Die Kläger seien zur Zeit des Unfalls ihres Sohnes nicht bedürftig gewesen. Der Vater des Verstorbenen habe in ständiger Beschäftigung monatlich zwischen 350,- und 420,- DM verdient; im Dezember 1958 habe er täglich 12,60 DM Krankengeld bezogen.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim über die Einkommensverhältnisse der Kläger Beweis erhoben. Durch Urteil vom 28. Mai 1965 hat es die Klage insoweit abgewiesen, als der Rentenanspruch auf § 593 RVO aF gestützt worden war. Es hat der Klage jedoch stattgegeben, soweit der Anspruch für die Zeit vom 1. Juli 1963 an aus § 596 RVO hergeleitet wird. Das SG ist der Ansicht, nach altem Recht sei der Anspruch auf die Elternrente schon deshalb nicht begründet, weil die Kläger zur Zeit des Arbeitsunfalls ihres Sohnes über ein für die Sicherung ihres Lebensunterhalts ausreichendes Einkommen verfügt hätten und deshalb nicht bedürftig gewesen seien. Auf Grund des neuen, seit dem 1. Juli 1963 in Kraft befindlichen Rechts hält das SG den Anspruch der Kläger jedoch für gegeben, weil sie nach dem Tode ihres Sohnes, nämlich seit Mai 1959, bedürftig geworden seien und von ihrem Sohn aus dessen Arbeitsverdienst ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würden; hierbei sei es unerheblich, daß der Sohn bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG gestorben sei.

Mit der Berufung hat die Beklagte der Auffassung des SG widersprochen, daß § 596 RVO mit rückwirkender Kraft anwendbar sei, wenn der unfallbedingte Tod des Versicherten vor dem 1. Juli 1963 eingetreten ist. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 27. April 1966 die ganze Klage abgewiesen. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, ob die Kläger von ihrem Sohn aus dessen Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten würden, wenn er nicht den Folgen des Arbeitsunfalls erlegen wäre. § 596 RVO sei auf den vorliegenden Fall schon deshalb nicht anwendbar, weil der Tod des versicherten Sohnes der Kläger bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sei. Nach Art. 4 § 2 UVNG gelte § 596 RVO zwar auch für Arbeitsunfälle, die vor dem 1. Juli 1963 lägen. Damit seien von der rückwirkenden Kraft des neuen Rechts jedoch nicht alle alten Versicherungsfälle erfaßt. Wenn für die Begründung des Anspruchs nach neuem Recht außer dem Arbeitsunfall ein weiteres Tatbestandsmerkmal, wie im vorliegenden Falle der Tod des Versicherten, erfüllt sein müsse, dürfe dieses Ereignis nicht schon vor dem Inkrafttreten des UNVG eingetreten sein (vgl. BSG 23, 139).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist den Klägern am 14. Mai 1966 zugestellt worden. Sie haben gegen das Urteil am 27. Mai 1966 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Mit dem Rechtsmittel wird ausschließlich die Nichtanwendung des § 596 RVO auf den vorliegenden Fall gerügt. Die Kläger sind der Meinung, die Rechtsauffassung des LSG entspreche nicht der Billigkeit; die Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten vor und nach dem Inkrafttreten des UVNG führe zu Härten, die vom Gesetzgeber nicht gewollt seien.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. April 1966 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 28. Mai 1965 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte aber keinen Erfolg.

Im Streit befindet sich nur noch der von den Klägern für die Zeit vom 1. Juli 1963 an auf Grund des § 596 RVO geltend gemachte Anspruch. Nach dieser Vorschrift, die durch das UVNG mit Wirkung vom 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) anstelle des bis dahin geltenden § 593 RVO aF in das 3. Buch der RVO aufgenommen worden ist, entsteht der Anspruch auf Elternrente auch, wenn die Berechtigten erst nach dem Tode des Versicherten von diesem aus seinem Arbeitsverdienst ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würden. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Falle gegeben sind, durfte das LSG ungeprüft lassen; denn es hat mit zutreffender Begründung entschieden, daß Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG i.V.m. § 596 RVO hier schon deshalb nicht anwendbar ist, weil der Tod des Versicherten vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten war.

Nach Art. 4 § 1 UVNG gilt das neue Recht nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten, also seit dem 1. Juli 1963, ereignen. Damit ist einem allgemein geltenden Rechtsgrundsatz entsprochen, nämlich daß Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht erfaßt werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt. Es steht im sachgemäßen Ermessen des Gesetzgebers, das neue Recht auf bereits vorliegende Sachverhalte auszudehnen; dies ist in der Übergangsregelung des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG geschehen. Diese Vorschrift bestimmt in Ergänzung des Art. 4 § 1 UVNG, daß die in ihr aufgeführten Vorschriften auch für Arbeitsunfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Als Übergangsvorschrift soll Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG im Rahmen der von ihm erfaßten Vorschriften die bisher nach altem Recht durchgeführte rechtliche Beurteilung der Folgen früherer Arbeitsunfälle in das durch das UVNG geschaffene Recht überleiten. Für den Übergang in das neue Recht ist erforderlich, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt. Dies trifft ohne weiteres für eine bereits vor dem 1. Juli 1963 festgestellte und über diesen Zeitpunkt hinaus gewährte Rente zu, z.B. wenn über deren Höhe oder Fortdauer gestritten wird.

Diese Grundgedanken hat der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juni 1965 (BSG 23, 139 ff) anläßlich der Auslegung des § 555 RVO entwickelt. Sie gelten auch im vorliegenden Streitfalle. Bei dem Anwendungsfall des § 555 RVO ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß kein Fortwirken in den Geltungsbereich des neuen Rechts vorliegt, weil sich der "Unfall", der nach § 555 RVO als Folge des Arbeitsunfalls gilt, als zeitlich begrenzte körperliche Einwirkung bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat. In gleicher Weise kommt im vorliegenden Fall, in dem auch vor dem Inkrafttreten des UVNG ein Anspruch nicht entstanden war, ein Hineinwirken des Arbeitsunfalls in den Geltungsbereich des neuen Rechts nicht in Betracht. Denn der für die Elternrente nach § 596 RVO anspruchsbegründende Sachverhalt ist, auch wenn der Unterhaltsanspruch der nach § 596 RVO Berechtigten erst nach dem Inkrafttreten des UVNG entstanden ist, durch den im Jahre 1958 als Folge des Arbeitsunfalls eingetretenen Tod des Versicherten als bestimmendes Tatbestandsmerkmal bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG gegeben gewesen (vgl. auch die zur Anwendung des § 589 Abs. 2 RVO ergangene Entscheidung des 5. Senats vom 5. November 1965 - BSG 24, 88 ff -). Die Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG vermag in Fällen der vorliegenden Art den Versicherungsschutz also nur zu begründen, wenn der Tod des Versicherten nach dem Inkrafttreten des § 596 RVO eingetreten ist. Mit dieser Rechtsauffassung stehen auch die im Schrifttum zur rückwirkenden Anwendung des § 596 RVO geäußerten Meinungen im Einklang (vgl. Krasney, Die Berufsgenossenschaft, 1965, 409 Ziff. 5; Müller, Der Sozialversicherungsbeamte, 1964, 152, 153; Kozian, Die Berufsgenossenschaft, 1964, 242, 244, 245; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., S. 556 Anm. 13 zu § 596 RVO und S. 528 Anm. 9 zu § 589 RVO; Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften, VB 170/63 S. 7; Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 6 zu § 596 RVO und Anm. 1 zu § 589 RVO; Noel-Breitbach, Komm. zur landw. Unfallversicherung, S. 284 Anm. 1 zu Art. 4 § 2 UVNG; Haase/Koch, Die Unfallversicherung, Handkomm, zum UVNG, S. 293 Anm. 1 zu Art. 4 § 2; wohl auch Richter, Die Sozialversicherung, 1966, 118, 119).

Die von der Revision gegen diese Auslegung des § 596 RVO i.V.m. mit Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG geltend gemachten Bedenken sind nicht geeignet, zu einem anderen Ergebnis zu führen. Sie finden weder in den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung noch in der bisher geübten Gesetzgebungspraxis eine Stütze und vermögen auch nicht einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu begründen.

Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2304912

BSGE, 249

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