Leitsatz (redaktionell)
1. Nicht nur bei ordnungsmäßiger Entlassung, sondern auch bei Flucht aus der Kriegsgefangenschaft ist der Heimweg gemäß BVG § 4 Abs 1 S 1 versorgungsrechtlich geschützt.
2. Eine Internierung iS des BVG § 1 Abs 2 Buchst c liegt dann nicht vor, wenn der im Jahre 1948 aus französischer Kriegsgefangenschaft nach Spanien geflohene Kläger dort nicht wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit, sondern wegen illegaler Einreise festgehalten worden ist.
Normenkette
BVG § 4 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1950-12-20, § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Oktober 1958 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger floh 1945 aus der französischen Kriegsgefangenschaft nach Spanien und wurde dort festgehalten. Er fand Beschäftigung bei einem Bauunternehmer und stürzte am 12. September 1950 vom Baugerüst. Dabei brach er beide Beine und konnte erst Mitte Februar 1951 nach Deutschland zurückkehren.
Im März 1951 beantragte er Versorgung. Das Versorgungsamt R lehnte den Antrag mit Bescheid vom 8. November 1952 ab, weil der Kläger in Spanien ein freies Arbeitsverhältnis eingegangen und zur Zeit des Unfalls weder Kriegsgefangener noch Internierter gewesen sei.
Auf die vom Kläger vorgelegte Berufung alten Rechts, die am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG) Konstanz überging, verurteilte das SG den Beklagten, "dem Kläger den am 13. September 1950 in V (Spanien) erlittenen Unfall als Schädigungsfolge im Sinne des BVG anzuerkennen". Das SG war der Meinung, der Kläger sei interniert gewesen, - und zwar auch nach Verlassen des Lagers - und nach § 4 Abs. 2 BVG habe das Interniertenverhältnis erst mit der beendeten Heimreise aufgehört. Auf Grund dieses Urteils gewährte der Beklagte dem Kläger durch Bescheid Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H.
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 17. Oktober 1958 zurück. Nach einer vom LSG eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in M ist der Kläger am 16. Mai 1948 verhaftet und am 24. August 1948 in das Lager N eingeliefert worden, weil er die französische Grenze heimlich überschritten hat. Die Internierten hatten die Möglichkeit, ein freies Arbeitsverhältnis einzugehen, und sind dann in "überwachte Freiheit" entlassen worden mit der Auflage, sich wöchentlich einmal bei der Polizeibehörde zu melden.
Am 13. April 1950 sei der Kläger in das Gefängnis von V gebracht worden, weil er versucht habe, aus dem Internierungslager zu fliehen. Der vom LSG vernommene Zeuge H bekundete, daß die Lagerinsassen nicht nur in der Umgebung des Lagers gearbeitet hätten, sondern auch in entfernten Teilen Spaniens, sich dort jedoch bei der Polizei hätten melden müssen. Die Internierten, die in der Nähe gearbeitet hätten, seien täglich mit Lastkraftwagen zur Arbeit gebracht und im Lager verpflegt worden. Ein Teil des Arbeitslohnes sei deshalb unmittelbar an die Lagerleitung gezahlt worden. Am Abend hätten die Internierten zeitweilig bis 22.00 Uhr Ausgang gehabt.
In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger, daß er auch dann noch im Lager untergebracht und verpflegt worden sei, als er die Arbeit bei dem Maurergeschäft M aufgenommen habe.
Das LSG nahm davon Abstand, den Tenor des Urteils des SG zu ändern, obwohl auch nach seiner Auffassung die Klage auf die Zahlung einer Rente gerichtet war, weil der Beklagte einen Ausführungsbescheid erlassen hatte und in dem Berufungsverfahren keine Änderungsanträge gestellt worden waren. Bei der Zurückweisung der Berufung ging das LSG davon aus, daß die Kriegsgefangenschaft mit der geglückten Flucht beendet gewesen sei, die Internierung in Spanien aber wie eine Internierung nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG zu behandeln sei. Wenngleich der Kläger nicht "wegen" seiner deutschen Staatsangehörigkeit interniert gewesen sei, sondern deshalb, weil er keine Ausweispapiere besessen habe, so sei sie doch die Folge der Flucht aus der Kriegsgefangenschaft gewesen.
Die Internierung sei nicht dadurch beendet worden, daß der Kläger eine Arbeit als Maurergehilfe aufgenommen habe, da er nach seiner Aussage und der Aussage des Zeugen H auch nach Arbeitsaufnahme im Lager N geblieben, von dort verpflegt und mit anderen Lagerinsassen täglich geschlossen zur Arbeit gefahren worden sei. Der Kläger habe nicht die Absicht gehabt, auf seine Heimschaffung zu verzichten oder sie hinauszuschieben. Die Revision wurde zugelassen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 30. Januar 1959 zugestellte Urteil am 24. Februar 1959 Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 17. Oktober 1958 und das Urteil des SG Konstanz vom 10. September 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Gleichzeitig hat er die Revision begründet. Er meint, das LSG hätte den Tenor des Urteils des SG von Amts wegen ändern müssen, weil der Klagantrag ersichtlich nicht auf ein Feststellungsurteil, sondern auf ein Leistungsurteil gerichtet war.
Im übrigen sei der Klaganspruch nicht begründet, weil der Kläger nicht wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten worden sei. In das Gefängnis von V sei er nur deswegen gebracht worden, weil er versucht habe, aus dem Lager N zu fliehen, wie die Deutsche Botschaft berichtet habe. Auf jeden Fall sei die Internierung aber durch die Arbeitsaufnahme beendet worden.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend, teilt jedoch die verfahrensrechtlichen Bedenken des Beklagten und hat deshalb den Hilfsantrag gestellt.
Die frist- und formgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und zulässig (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist auch begründet.
Zu Unrecht hat das LSG den Aufenthalt des Klägers in Spanien wie eine Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG behandelt. Auszugehen ist insoweit von dem völkerrechtlichen Begriff der Internierung (vgl. BSG 14, 50, 51). Zu dessen wesentlichen Merkmalen gehört es, daß der Internierte auf eng begrenztem Raum festgehalten wird (vgl. Art. 83 Abs. 3, 84 des IV. Genfer Abkommens vom 12. August 1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten - BGBl 1954 II 917 -), einem allgemeinen Freiheitsentzug unterliegt (vgl. Art. 132 und 133) und nicht am Wirtschaftsleben des Gewahrsamsstaates teilnimmt (Art. 81). Dazu kommt, daß die Internierung, um versorgungsrechtlich erheblich zu sein (§ 1 Abs. 2 Buchst. c BVG), wegen deutscher Volkszugehörigkeit im Auslande oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten (vgl. BSG in SozR BVG § 1 Bl. Ca 19 Nr. 42) erfolgt sein muß. Im vorliegenden Falle hat eine Internierung in diesem Sinne schon deshalb nicht vorgelegen, weil der Kläger nicht auf eng begrenztem Raum festgehalten worden ist und am Wirtschaftsleben des Gewahrsamslandes teilgenommen hat. Nach den von der Revision nicht angegriffenen und für das BSG daher bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 103 SGG) hat sich der Kläger zwar die meiste Zeit in einem Lager (N) aufgehalten und ist während dieses Aufenthaltes gewissen, durch das Lagerleben bedingten Beschränkungen unterworfen gewesen; er hat aber dessen ungeachtet seinen Aufenthalt, seine Lebensweise, seine Bewegungen und seine Beziehung zur Außenwelt im wesentlichen selbst bestimmen können. Dies ergibt sich insbesondere daraus, daß er im allgemeinen - auch abends - freien Ausgang hatte, seine Arbeit selbst wählen konnte und durch die von ihm gewählten Arbeiten am Wirtschaftsleben des Gewahrsamslandes teilgenommen hat. Der Umstand, daß der Ausgang abends bis 22.00 Uhr befristet und ein Teil des vom Kläger bezogenen Arbeitsentgelts unmittelbar an das Lager abzuführen war, rechtfertigt entgegen der Auffassung des LSG nicht die Annahme eines allgemeinen Freiheitsentzugs, wie ihn der Begriff der Internierung voraussetzt. Derartige Beschränkungen pflegen auch mit einem selbstgewählten Lageraufenthalt verbunden zu sein und sind keineswegs typische Merkmale eines allgemeinen Freiheitsentzugs, zumal der Kläger im vorliegenden Falle im übrigen über seine Zeit und sein Arbeitsentgelt grundsätzlich frei verfügen konnte. Dazu kommt, daß der Kläger selbst nach Auffassung des LSG in Spanien auch nicht wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit, sondern wegen illegaler Einreise und des Mangels an Ausweispapieren festgehalten worden ist. Es besteht kein Anlaß, den Begriff der Internierung in persönlicher Hinsicht weiter auszudehnen, als dies in § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG bereits geschehen ist. Da eine Internierung im Sinne dieser Vorschrift nicht vorgelegen hat, erübrigen sich Erörterungen zu der vom LSG erwogenen Frage, ob die Internierung durch die von dem Kläger aufgenommenen Arbeiten beendet worden ist oder nicht.
Das LSG hat es aber unterlassen, die Frage zu prüfen, ob sich der aus der französischen Kriegsgefangenschaft geflüchtete Kläger noch auf dem Heimweg befunden hat, als sich der Unfall ereignete, für dessen Folgen er Versorgung begehrt. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BVG gilt als militärischer Dienst (§§ 2, 3 BVG) auch der Heimweg nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft. Versorgungsrechtlich geschützt ist der Heimweg nicht nur bei ordnungsmäßiger Entlassung, sondern auch bei Flucht aus der Kriegsgefangenschaft (BSG 10, 62). Ausschlaggebend für Verlauf und Ende des Heimwegs sind die tatsächlichen Verhältnisse des einzelnen Falles (BSG 7, 243). Insoweit gelten, da § 4 BVG dem § 543 RVO entspricht (Begründung zum Entwurf des Gesetzes über die Opfer des Krieges - BVG -, Bundestagsdrucksache Nr. 1333, 1. Wahlperiode 1949 zu § 4), sinngemäß die gleichen Grundsätze wie bei dem nach § 543 RVO versicherungsrechtlich geschützten "Weg ... von der Arbeits- und Ausbildungsstätte" (BSG 7, 243, 245). Der versorgungsrechtliche Schutz setzt danach voraus, daß der Heimweg von seinem Beginn bis zu seinem Ende in ununterbrochenem Zusammenhang mit der Beendigung der Kriegsgefangenschaft steht und keine Änderungen eintreten, die von diesem Ziel abweichend privaten Zwecken des persönlichen Lebensbereiches dienen. Eine Versorgung nach dem BVG entfiele hauptsächlich dann, wenn der Kläger im Sinne der in der Unfallversicherung entwickelten Grundsätze zur Zeit des Unfalls den Heimweg unterbrochen gehabt hätte, insbesondere, wenn er sich auf einem nicht durch den Zweck der Heimkehr veranlaßten Umweg befunden hätte oder wenn zu dieser Zeit schon eine den Umständen nach nicht gerechtfertigte Verzögerung des Heimwegs eingetreten gewesen wäre. Eine Unterbrechung tritt dagegen nicht durch Handlungen ein, die mit dem durch die Flucht begonnenen Heimweg in ursächlichem Zusammenhang stehen (vgl. dazu für das Recht der Unfallversicherung BSG 7, 243, 246; 16, 77, 78; 245, 247; ferner BSG in SozR RVO § 543 Bl. Aa 17 Nr. 23, Aa 19 Nr. 26 und Aa 31 Nr. 37), insbesondere nicht durch solche, die zur Fortsetzung des Heimwegs notwendig erscheinen (vgl. BVerwG in NJW 1955, 605, 606). Unschädlich sind insbesondere solche Verzögerungen, die sich daraus ergeben, daß es an den für die Fortsetzung des Heimwegs erforderlichen Mitteln (Geld, Ausweise, Transportmittel u. a.) fehlt oder daß der Heimkehrer einer Erholung und Behandlung bedarf, ohne die er den weiteren Heimweg nicht bewältigen könnte. Jedoch dürfen Umfang und Dauer solcher Verzögerungen die nach den Verhältnissen des Einzelfalles notwendigen Grenzen nicht überschreiten.
Das LSG hat mithin § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG unrichtig angewandt. Das auf der Verletzung dieser Vorschrift beruhende Urteil war daher aufzuheben. Für die Entscheidung der Frage, ob sich der Kläger zu der Zeit, als sich der Unfall in Spanien ereignete, noch auf dem Heimweg aus der Kriegsgefangenschaft befunden hat, reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG aber nicht aus. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird zu klären haben, ob der Kläger nach seiner Ankunft in Spanien ständig bemüht gewesen ist, die Rückkehr nach Deutschland zu vollenden, oder ob während des Aufenthalts in Spanien Möglichkeiten zur Rückkehr bestanden haben, die der Kläger bewußt nicht genutzt hat.
Sollte das LSG den Versorgungsanspruch des Klägers für begründet halten, weil sich der Unfall, auf den der Kläger seinen Versorgungsanspruch stützt, auf dem Heimweg nach der Flucht aus der Kriegsgefangenschaft ereignet hat, so wird es zu prüfen haben, ob mit dem Urteilsausspruch des SG hinreichend genau eine "Gesundheitsstörung" anerkannt ist und ob der Urteilsausspruch einer Ergänzung bedarf, weil die Klage auch auf Gewährung einer Rente gerichtet war und der Bescheid vom 19. Juli 1955 zwar davon spricht, er ergehe in Durchführung des Urteils des SG, jedoch Regelungen im Einzelnen trifft, die im Urteil nicht geregelt sind.
Die Kostenentscheidung war dem abschließenden Urteil vorzubehalten.
Fundstellen