Orientierungssatz
Eine Rückforderung überzahlter Versorgungsbezüge stellt dann eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn es sich um Anspruche für einen Zeitraum handelt, der mehr als 4 Jahre seit Beginn des Jahres zurückliegt, in dem der Rückforderungsbescheid ergangen ist.
Normenkette
KOVVfG § 47 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 1964 abgeändert. Die Klage gegen die Bescheide des Beklagten vom 2. Mai 1962 und 8. Juni 1962 wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Beklagte fordert von der Klägerin, die Versorgungsrente bezieht, 2.380,- DM zurück. Er hat nicht die tatsächlich gezahlte Rente der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - BFA - (seit 1. Mai 1957 174,50 DM; seit 1. Januar 1959 185,20 DM; seit 1. Januar 1960 196,20 DM) zur Kürzung der Versorgungsausgleichsrente herangezogen, sondern auf Grund der Angaben der Klägerin im Jahre 1959 nur den geringeren Betrag von 61,40 DM. Dadurch hat die Klägerin in der Zeit vom 1. Mai 1957 bis 30. November 1961 an Ausgleichsrente den zurückgeforderten Betrag zuviel erhalten. Das Sozialgericht (SG) hat die Rückforderung für die Zeit vom 1. April 1959 bis 31. März 1961 für zulässig, für die übrige Zeit (1. Mai 1957 bis 31. März 1959 und vom 1. April 1961 bis 30. November 1961) für unzulässig erklärt.
Auf die Berufung des Beklagten und der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Verwaltungsbescheide des Beklagten insoweit aufgehoben, als er Leistungen für die Zeit vor dem 1. Mai 1958 in Höhe von 552,- DM zurückgefordert hat; im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Rückforderungen könnten nur einen Zeitraum von vier Jahren umfassen, darunter seien vier volle Kalenderjahre zu verstehen. Darüber hinaus sei die Ausübung des Rückforderungsrechts unzulässig (BSG 19,88). Auf diese Frist seien die Vorschriften über die Verjährungsfristen nicht entsprechend anzuwenden, so daß die Frist nicht erst mit dem Schluß des Jahres beginne. Schließlich habe der Beklagte die Neufeststellung lange Zeit auf sich beruhen lassen, ohne daß Umstände zu erkennen wären, weshalb die Sache so lange hätte unbearbeitet bleiben müssen. Deshalb sei es nicht vertretbar, bei der Rückforderung den Beklagten mehr als vier Jahre zurückgreifen zu lassen.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte, das LSG habe § 47 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) verletzt und sei von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 21, 27 abgewichen. Den sachlich-rechtlichen Fehler sieht die Revision darin, daß das LSG die Rückforderung nur für genau vier Jahre zugelassen hat, statt vom Schluß des vorausgegangenen Jahres an zu rechnen. Außerdem sei das LSG zu Unrecht von dem Neufeststellungsbescheid vom 2. Mai 1962 ausgegangen, statt von dem Anfechtungsbescheid vom 13. November 1961. Das Berufungsgericht hätte demgemäß auch die Rückforderung der für die Zeit vom 1. Mai 1957 bis 30. April 1958 überzahlten Beträge für berechtigt ansehen müssen. Das LSG berufe sich auch zu Unrecht auf Treu und Glauben um Hinblick auf die überlange Bearbeitungszeit seit Kenntnis des wirklichen Einkommens der Klägerin. Nach Auffassung der Revision dürfe eine entschuldbare Verzögerung von einem Jahr die Rückforderung nicht beeinträchtigen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 8. Dezember 1964 dahin abzuändern, daß das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfange aufgehoben und die Klage abgewiesen wird.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet.
Nach § 47 Abs. 2 VerwVG in der zur Zeit der Bescheiderteilungen von 1961 wie 1962 geltenden Fassung vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) ist der Leistungsempfänger nur verpflichtet, infolge Einkommensänderung überzahlte Versorgungsleistungen zurückzuerstatten, soweit er beim Empfang wußte oder wissen mußte, daß die Leistung nicht in der gewährten Höhe zustehe, oder soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers oder wegen einer Nachzahlung vertretbar ist.
Das LSG hat die Rückforderung der überzahlten Ausgleichsrente nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin für vertretbar und demgemäß für die Zeit vom 1. Mai 1958 an für rechtmäßig angesehen. Soweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit mehr. Streitig ist allein, ob der Beklagte auch noch den überzahlten Betrag vom 1. Mai 1957 bis 30. April 1953 in Höhe von 552,- DM zurückfordern darf. Das LSG hat insoweit die Rückforderung als eine unzulässige Rechtsausübung angesehen. Es hat ausgeführt, daß es wegen der Verzögerung der Rückforderung durch den Beklagten nicht gerechtfertigt sei, über einen längeren Zeitraum als auf volle vier Jahre zurückzugreifen und hat sich hierbei auf das Urteil des BSG in BSG 19, 88 berufen. In dieser Entscheidung hat das BSG ausgesprochen, daß Rentenansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in vier Jahren in entsprechender Anwendung des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verjähren. Es ist zwar richtig, daß diese Entscheidung bei der Berechnung dieser vier Jahre nicht ausdrücklich auf § 201 BGB hingewiesen hat, wonach die Verjährung mit dem Schluß des Jahres beginnt, in welchem das maßgebende Ereignis liegt, also das laufende Jahr nicht in die Verjährungsfrist von vier Jahren miteinbezogen wird. Dies war aber nicht nötig; denn streitig war lediglich die Frage, ob bei der Rückforderung von Rentenansprüchen § 197 BGB entsprechend anzuwenden sei. Die nähere Berechnung der Verjährungsfrist stand nicht in Streit; das LSG brauchte daher insoweit auch keine Ausführungen zu machen. Wenn das Berufungsgericht für die Frage, für welchen rückwirkenden Zeitraum die Rückforderung noch geltend gemacht werden kann, vom BSG 21, 27 abgewichen ist und eine Ausdehnung über volle vier Kalenderjahre hinaus abgelehnt hat, weil abweichend von der Regelung für die Verjährung die Vorschrift des § 201 BGB nicht entsprechend angewandt werden dürfe, so ist dies rechtlich nicht zu vertreten. Wie das BSG in BSG 21, 27 ausgeführt hat, entspricht es der Billigkeit, daß dem Beklagten keine kürzere Frist zur Geltendmachung der Rückforderung eingeräumt wird, als dem Versorgungsberechtigten zur Geltendmachung seiner Rentenansprüche nach BSG 19, 88 zur Seite steht, nämlich eine Verjährungsfrist von vier Jahren vom Schluß des laufenden Jahres an gerechnet. Das Berufungsgericht hat auch für die Bemessung der rechtsvernichtenden Frist auf volle vier Jahre als Grund lediglich angegeben, daß "Umstände, die es erforderlich machen oder es angebracht erscheinen lassen, die Versorgungsangelegenheit der Klägerin einstweilen unbearbeitet zu lassen, nicht zu erkennen seien". Diese Begründung reicht nicht aus, um von der Entscheidung in BSG 21, 27 abzuweichen. Auch im öffentlichen Recht sind unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB (Treu und Glauben) alle Umstände zu berücksichtigen, bevor aus dem Verhalten eines Beteiligten für ihn ungünstige Schlußfolgerungen zur Vernichtung (Teilvernichtung) eines Anspruchs gezogen werden dürfen. Wie sich aus der Prozeßgeschichte, insbesondere aus den beigezogenen Verwaltungsakten, ergibt, ist die Klägerin mit Rentenänderungsbescheid vom 13. Oktober 1955 schriftlich darauf hingewiesen worden, daß Ausgleichsrenten von den Einkommensverhältnissen abhängig seien und deshalb die Klägerin verpflichtet sei, jede eingetragene Änderung dem Versorgungsamt unverzüglich anzuzeigen. Sie ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß schon vom Eintritt der Einkommensänderung an die Bezüge in der bisherigen Höhe nicht mehr zustehen und überhobene Bezüge zurückgefordert werden müssen. Mit den Neufeststellungsbescheiden vom 1. Dezember 1955, 30. Juni 1956 und 26. Juni 1957 ist die Klägerin erneut auf ihre Anzeigepflicht hingewiesen worden. Mit Schreiben vom 24. Februar 1959 hat sie ihre Rente mit 61,40 DM angegeben. Nicht von sich aus, sondern erst mit dem im Jahr einmal versandten Fragebogen der Verwaltung hat die Klägerin am 23. September 1960 ihr laufendes Renteneinkommen aus der Angestelltenversicherung mit 196,- DM bezeichnet, aber nichts von einer Nachzahlung erwähnt und - entgegen der Bitte des Versorgungsamtes - auch nicht die letzte Mitteilung der BfA beigefügt. Dazu kommt, daß im Fragebogen der Beginn des neuen Einkommens von 196,- DM mit einem undeutlichen Datum versehen worden ist, das als 1. April 1959, 1. Juni 1959 oder 1. Oktober 1959 gelesen werden kann. Bei dieser Sachlage mußte dem Beklagten noch Gelegenheit gegeben werden, sich bei der BfA über die Höhe des jeweiligen Einkommens der Klägerin seit Erhöhung der Rente von 61,40 DM zu erkundigen. Hätte die Klägerin von sich aus, ohne den Fragebogen abzuwarten, die Einkommensänderung dem Versorgungsamt mitgeteilt, so wäre ihre Mitteilung nicht mit dem Eingang der Fragebogen aller Ausgleichsrentenempfänger des Versorgungsamts zusammengetroffen, so daß die Verzögerung in der Bearbeitung absehbar hätte verkürzt werden können. Das Verschweigen der Nachzahlung kann nicht etwa damit gerechtfertigt werden, daß die Klägerin bis zum Empfang der Nachzahlung keine Rente aus der Angestelltenversicherung erhalten hat, weil nicht der Zeitpunkt der Auszahlung maßgebend ist, sondern der Zeitraum, für den die Rente gezahlt wird. Durch die rückwirkende Gewährung der Angestelltenrente hat die Klägerin diese Rente für die vorhergehende Zeit, für die die Rente bestimmt war, tatsächlich bezogen (BSG 1, 53 ff). Danach hat sie bei der Sachaufklärung hinsichtlich der Einkommenshöhe nicht in so hohem Maße mitgewirkt, daß aus der Verzögerung des Neufeststellungsbescheides auch nur teilweise die Unzulässigkeit der Rechtsausübung hergeleitet werden könnte. In der grundlegenden Entscheidung in BSG 21, 27 hat das Versorgungsamt einen Zeitraum von 4 1/2 Jahren verstreichen lassen, ehe es die Ausgleichsrente neu festgestellt und die überzahlten Beträge zurückgefordert hat. Gleichwohl hat das Revisionsgericht eine unzulässige Rechtsausübung in der Rückforderung nur für den Zeitraum angenommen, der mehr als vier Jahre seit Beginn des Jahres der Neufeststellung zurückliegt. Die Ausdehnung zulässiger Rechtsausübung auf einen Zeitraum, der vier Jahre seit Beginn des Jahres zurückliegt, in dem der Rückforderungsbescheid ergangen ist, hat das BSG mit der Gleichbehandlung beider Beteiligten begründet; denn bei Rentenansprüchen darf der Versorgungsberechtigte ebensolange untätig sein, ehe der Beklagte berechtigt ist, die Einrede der Verjährung zu erheben. Die in der Wirkung einheitliche Beurteilung des Zeitablaufs für den Rentenanspruch wie für die Rückforderung erschien in der angeführten Entscheidung des 10. Senats des BSG deshalb billig, weil Rentenforderung wie Rückforderung von Rente Ausflüsse desselben Rechtsverhältnisses im Zusammenhang mit demselben Rentenanspruch sind. Genießt also der Versorgungsberechtigte wegen seiner Rentenansprüche auf Grund des § 201 BGB noch den Schutz vor der Verjährung für das laufende Jahr, so kann der entsprechende Schutz der Versorgungsverwaltung bei der Anwendung des Instituts der unzulässigen Rechtsausübung nicht verwehrt werden, um die Gleichstellung der Beteiligten in der Beurteilung eines einheitlichen Rechtsverhältnisses in der Kriegsopferversorgung zu gewährleisten. Das bedeutet grundsätzlich, daß der Beklagte die Rückforderung nicht in unzulässiger Weise geltend gemacht hat, soweit sie sich auf einen Zeitraum erstreckt, der weniger als vier Jahre seit Beginn des Jahres zurückliegt, in dem der Rückforderungsbescheid ergangen ist. Es kommt also darauf an, ob das Ereignis, nach dem sich der Vierjahreszeitraum richtet, der Neufeststellungsbescheid vom 2. Mai 1962 oder der Anfechtungsbescheid vom 13. November 1961 ist.
Der Neufeststellungsbescheid vom 2. Mai 1962 hat die Rückforderung mit 2.380,- DM festgestellt. Aber auch schon mit dem Anfechtungsbescheid vom 13. November 1961 war ein Neufeststellungsbescheid gleichen Datums verbunden, mit welchem die Verwaltung von der Klägerin bereits den - später ermäßigten - Betrag von 2.530,- DM zurückgefordert hat. Zwar hat der Beklagte auf den Widerspruch der Klägerin den ersten Neufeststellungsbescheid vom 13. November 1961 aufgehoben und durch den Neufeststellungsbescheid vom 2. Mai 1962 ersetzt. Dadurch wird aber die Tatsache der Geltendmachung der Rückforderung bereits mit dem Neufeststellungsbescheid vom 13. November 1961 nicht beseitigt; denn nach § 95 SGG ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Maßgebend für den Zeitpunkt der Geltendmachung der Rückforderung ist daher der an die Klägerin gerichtete Bescheid vom 13. November 1961, Dieser Bescheid ist ausweislich der Verwaltungsakten am 13. Dezember 1961 bei der Post eingeliefert worden; er gilt damit nach § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) als am 16. Dezember 1961 zugestellt. Die Ordnungsmäßigkeit der Zustellung ist ferner aus dem Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 20. Dezember 1961 ersichtlich, in welchem die Klägerin entgegen der Fiktion des § 4 VwZG den 14. Dezember 1961 als Zustellungstag bezeichnet. Da mithin der Neufeststellungsbescheid vom 13. November 1961 noch im Jahre 1961 zugestellt worden ist, ist ein Rückforderungsanspruch des Beklagten erst für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 unzulässig. Die Rückforderung für die spätere Zeit, nämlich vom 1. Mai 1957 an, stellt somit keine unzulässige Rechtsausübung dar.
Das LSG hat bei dieser Rechtslage dem Anspruch des Beklagten auf Rückzahlung der der Klägerin zu viel gewährten Rentenbeträge nach § 47 Abs. 2 Buchst. b VerwVG zu Unrecht teilweise den Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengesetzt. Bei der Beurteilung der unzulässigen Rechtsausübung handelt es sich um ein Teilinstitut des im öffentlichen Recht geltenden unbestimmten Rechtsbegriffs des § 242 BGB (Treu und Glauben), also um eine Rechtsfrage. Der Senat konnte daher in der Sache selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil war demgemäß abzuändern und die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 2. Mai 1962 in der Fassung vom 8. Juni 1962 in vollem Umfange abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen