Orientierungssatz
Rentenfeststellung in Polen - Berücksichtigung deutscher Versicherungszeiten - Verfassungsmäßigkeit:
1. Bei der Feststellung der Rente berücksichtigt der polnische Versicherungsträger als hier nach verpflichteter Träger des Wohnsitzstaates nach Art 4 Abs 2 des RV/UVAbk Polen die vom Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten so, als ob sie in Polen zurückgelegt worden wären. Dies bedeutet, daß während der Dauer des Wohnsitzes des Versicherten in Polen ein Rentenanspruch auch aus den deutschen Versicherungszeiten ausschließlich gegen den polnischen Träger bestehen kann; ein deutscher Träger ist in bezug auf diese Zeiten nicht passiv sachlegitimiert.
2. Die Regelung des Art 4 des RV/UVAbk Polen ist nicht verfassungswidrig. Hier hat die Bundesrepublik Deutschland die vom Kläger aufgrund seiner deutschen Versicherungszeiten erworbene Rentenanwartschaft nicht enteignet, sondern nur in ein anderes System der sozialen Sicherung übergeführt (so auch BSG 15.1.1981 4 RJ 131/79 = SozR 6685 Art 24 Nr 1 S 5).
Normenkette
RV/UVAbk POL Art. 4 Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 24.02.1984; Aktenzeichen L 6 J 54/83) |
SG Speyer (Entscheidung vom 19.01.1983; Aktenzeichen S 11 J 198/82) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des in Polen lebenden Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente aus deutschen Versicherungszeiten.
Der im Jahre 1913 geborene Kläger hat von 1927 bis 1947 für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland sowie für deutschen Wehr- und Kriegsdienst deutsche und daneben auch französische Versicherungszeiten zurückgelegt. Im Mai 1978 beantragte er bei der Beklagten die Wiederherstellung seines Versicherungsverlaufes. Hierauf stellte die Beklagte eine deutsche Versicherungszeit von insgesamt 169 Monaten fest (Versicherungsverlauf vom 23. April 1981).
Im Mai 1981 beantragte der Kläger die Gewährung von Altersruhegeld, hilfsweise von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Diesen Antrage lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. September 1981 ab mit der Begründung, wegen des polnischen Wohnsitzes des Klägers könne aus den in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegten Versicherungszeiten keine Rente gewährt werden. Widerspruch, Klage und Berufung gegen diesen Bescheid blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1982, Urteil des Sozialgerichts -SG- Speyer vom 19. Januar 1983, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 1984). Zur Begründung führt das LSG aus, nach Art 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 seien die deutschen Zeiten des Klägers wegen seines polnischen Wohnsitzes vom polnischen Versicherungsträger so zu behandeln, als seien sie in Polen zurückgelegt worden. Hiernach bestehe kein Anspruch auf eine deutsche Rente. Die Abkommensregelung habe auch Vorrang gegenüber den Vorschriften der §§ 1315 ff Reichsversicherungsordnung (RVO) über die Zahlung von Renten ins Ausland. Hierin könne kein Verfassungsverstoß gesehen werden.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen die Rechtsauffassung des LSG und trägt vor, da Beitragszeiten vor dem 22. Juli 1944 nach polnischem Recht nicht zu berücksichtigen seien, enthalte das deutsch-polnische Sozialversicherungsabkommen insoweit eine Lücke. Dies könne nicht zur Folge haben, daß aus diesen Beitragszeiten keine Rente zu gewähren wäre. Vielmehr sei die Beklagte leistungspflichtig. Die Nichtanrechnung der in der Bundesrepublik zurückgelegten Beitragszeiten stelle einen enteignungsgleichen Eingriff dar.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Altersruhegeld, hilfsweise Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe aus den deutschen Versicherungszeiten ab 1. Juni 1981 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Zutreffend geht das LSG davon aus, daß sich der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente aus den deutschen Versicherungszeiten nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abkommen) vom 9. Oktober 1975 richtet, dem der deutsche Bundestag durch Gesetz vom 12. März 1976 (BGBl 1976 II S. 393) zugestimmt hat. Nach Art 4 Abs 1 des Abkommens werden Renten vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt. Da der Kläger seinen Wohnsitz in der Volksrepublik Polen hat, ist ihm Rente vom polnischen Versicherungsträger nach polnischem Recht zu gewähren. Bei der Feststellung der Rente berücksichtigt der polnische Versicherungsträger als hiernach verpflichteter Träger des Wohnsitzstaates nach Art 4 Abs 2 aaO auch die vom Kläger in der Bundesrepublik zurückgelegten Versicherungszeiten so, als ob sie in Polen zurückgelegt worden wären. Dies bedeutet, daß während der Dauer des Wohnsitzes des Klägers in Polen ein Rentenanspruch auch aus den deutschen Versicherungszeiten ausschließlich gegen den polnischen Träger bestehen kann; ein deutscher Träger ist in bezug auf diese Zeiten nicht passiv sachlegitimiert.
Hierbei ist unerheblich, ob und inwieweit die deutschen Zeiten für den Fall, daß sie in Polen zurückgelegt worden wären, tatsächlich zur Begründung oder Erhaltung eines polnischen Rentenanspruches beitragen. Eine solche Differenzierung ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn des Abkommens. Ziel des Abkommens ist es (vgl Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 119/74 in BSGE 43, 164, 165 f = SozR 6050 Art 45 Nr 2), die rentenversicherungsrechtlichen Fragen zwischen beiden Vertragsstaaten abschließend zu regeln. Hierzu gehört auch die Verteilung und Zuordnung der aus der Zurücklegung von Versicherungszeiten entstandenen Leistungsansprüche. Dabei geht das Abkommen im Vergleich zu anderem zwischen- bzw überstaatlichen Recht allerdings einen eigenen Weg. Weder sieht es vor, daß jeder Vertragsstaat aus den bei ihm zurückgelegten Versicherungszeiten Leistungen entsprechend seinem Anteil erbringt, wie dies zB innerhalb der EWG der Fall ist (vgl Art 46 EWGVO 1408/71), noch enthält das Abkommen eine Versicherungslastregelung in dem Sinne, daß die in einem Staat zurückgelegten Versicherungszeiten endgültig - selbst für den Fall der Rückverlegung des Wohnsitzes - aus der Leistungspflicht dieses Staates ausgegliedert und dem anderen Vertragsstaat zugeordnet werden.
Die Sondervorschrift des Art 16 des Abkommens kommt hier nicht in Betracht, weil vor seinem Inkrafttreten (1. Mai 1976) ein Rentenanspruch des Klägers nach deutschem Recht nicht bestand und demzufolge keine Rente zu zahlen war. Einen Antrag hat der Kläger auch erstmals im Mai 1978, also nach Inkrafttreten des Abkommens, gestellt.
Die hier maßgebende Regelung des Abkommens ist auch nicht verfassungswidrig. Die Bundesrepublik Deutschland hat die vom Kläger aufgrund seiner deutschen Versicherungszeiten erworbene Rentenanwartschaft nicht enteignet, sondern nur in ein anderes System der sozialen Sicherung übergeführt (so BSG in SozR 6685 Art 24 Nr 1 S 5). Im übrigen gilt auch hier der Grundsatz, daß gesetzliche Regelungen, mit denen außergewöhnliche Probleme bewältigt werden mußten, die ihren Ursprung in den historischen Vorgängen aus der Zeit vor Entstehung der Bundesrepublik haben, nur beschränkt am Grundgesetz gemessen werden dürfen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1980 - 1 BvR 195/77 in BVerfGE 53, 164 = SozR 2200 § 1318 Nr 5). Auch das deutsch-polnische Abkommen hat seinen Grund in den geschichtlichen Ereignissen und den durch sie im Bereich der Rentenversicherung geschaffenen tiefgreifenden Veränderung schon vor der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland (vgl BSGE 42, 249 und 43, 164). Dabei hat es, wie dargestellt, von einer endgültigen Versicherungslastregelung abgesehen und lediglich Zuständigkeiten für die Dauer des jeweiligen Wohnsitzes des Berechtigten begründet. Dem Kläger geht so eine Anwartschaft auf eine deutsche Rente aus den deutschen Zeiten nicht endgültig verloren.
Im übrigen ist auf folgendes hinzuweisen: Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hatte sich vor Ratifizierung des Vertragswerkes mit der Volksrepublik Polen ausführlich auch mit den Auswirkungen des Abkommens für die Betroffenen befaßt (vgl BT-Drucks 7/4731 vom 11. Februar 1976 S. 5 bis 6). Dabei ist für die in Polen verbleibenden und lebenden Deutschen abgewogen worden, inwieweit es für vertretbar gehalten werden könne, diesen Versichertenkreis auf das im Niveau niedrigere polnische Sozialversicherungsrecht zu verweisen, außerdem, inwieweit es vorteilhafter für diesen Personenkreis sein könnte, ihn voll in das polnische Renten- und Unfallversicherungssystem einzugliedern und ihn damit aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung in seinen Rechten gegenüber der polnischen Versicherung abzusichern. Im Ergebnis ist das Vertragswerk von der Auffassung getragen, daß die Regelung im Abkommen in keinem Fall tatsächliche Verschlechterungen gegenüber der bis dahin geltenden Regelung aus den Jahren 1953 bis 1966 bewirke, vielmehr in zahlreichen Fällen erhebliche Verbesserungen für die betroffenen Personen bringe und daß angesichts der Unterschiedlichkeit der Sozialversicherungssysteme weniger die Frage, ob im Einzelfall durch deutsche Versicherungszeiten eine Rentensteigerung bewirkt würde, als vielmehr die Frage, ob die Eingliederung der Betroffenen unter Gleichstellung polnischer und deutscher Zeiten in das polnische System erfolge, entscheidend sein müsse. Aus dieser Sicht kann der negativen Bewertung der im deutsch-polnischen Abkommen getroffenen Regelung, wie sie der Kläger vorbringt, im weiten Umfang nicht beigepflichtet werden (vgl hierzu auch Baumgarten in Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Berlin 1978, 260, 266f).
Ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente aus den deutschen Zeiten ergibt sich schließlich, wie das LSG zutreffend ausführt, auch nicht aus den §§ 1315 ff RVO, weil das Abkommen einen Anspruch auf Leistung aus den deutschen Zeiten für die Dauer des Wohnsitzes in Polen schlechthin ausschließt (vgl BSGE 42, 249 und 43, 164).
Nach allem war die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen