Leitsatz (amtlich)

Zur örtlichen Zuständigkeit des LSG in Fällen des SGG § 215 Abs 8 (Anschluß BSG 1957-01-28 3 RJ 38/54 = SozR Nr 36 zu § 215 SGG ) für einen Fall, in welchem es sich um ein für einen Reichsbahndirektionsbezirk gebildetes OVA handelt, dessen Bereich sich auf mehrere Bundesländer erstreckte.

 

Leitsatz (redaktionell)

Es ist nicht ohne weiteres durch eine "Erfahrungstatsache" gerechtfertigt, anzunehmen, daß die ersten Angaben eines Unfallverletzten stets glaubhafter seien als seine späteren, zweckbestimmten Behauptungen.

 

Normenkette

SGG § 215 Abs. 8

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 26. September 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der im Dezember 1927 geborene Kläger war seit Juli 1945 als Lokomotiv-Schlosser im Bahnbetriebswerk B...-Hauptbahnhof beschäftigt. Das Bahnbetriebswerk befand sich nördlich der Bahnsteige und Gleisanlagen, das Bahnhofsgebäude mit der Betriebsküche, in der das Bahnpersonal verpflegt wurde, auf deren Südseite. Am 30. Dezember 1945 ist der Kläger von einem um 13,28 Uhr aus östlicher Richtung auf Gleis 2 einfahrenden Güterzug erfaßt und dabei so schwer verletzt worden, daß ihm später der rechte Fuß amputiert werden mußte. In der am folgenden Tag abgefaßten, vom Kläger während seines Krankenhausaufenthalts im Januar 1946 unterschriftlich bestätigten Unfallanzeige wurde das Zustandekommen des Unfalls folgendermaßen geschildert:

"Sch... hatte am 30.12.1945 von 7,00 bis 19,00 Uhr Dienst als Lokschlosser im Bw B... Hbf. Gegen 13,30 Uhr sammelte er nach seiner eigenen Angabe im Gleis 2 Bf B... Hbf. Zigarettenreste von einem dort abgefertigten Truppenzug. Sch. sah aus Ri Stw I einen Güterzug kommen, glaubte jedoch, daß dieser auf dem Gleis 1 vorbeifahren würde. Als er seinen Irrtum bemerkte, war es für ihn schon zu spät, aus Gleis 2 nach der dem Bstg abgewandten Seite herauszuspringen."

In seinem eigenhändigen Unfallbericht vom 4. September 1946 gab der Kläger hingegen folgende Darstellung:

"Am 30.12.1945 kam ich mittags um etwa 13,30 Uhr vom Essen aus der Betriebsküche. Da ich noch einen Freund erwartete und meine Zeit es noch erlaubte, blieb ich noch auf Bahnsteig 1. Hier wurde ein Truppenzug abgefertigt, wobei ich von den Soldaten Zigaretten und Zigarettenreste bekommen habe. Dieses war auf dem Bahnsteig und nicht, wie es in dem anderen Bericht heißt, daß ich die Zigarettenreste zwischen den Gleisen gesammelt haben soll. Etwa 10 bis 15 Minuten später nach der Abfahrt des Zuges wollte ich, da meine Pause nun zu Ende war, zur Arbeitsstelle zurückgehen. Ich ging die Bahnsteigtreppe runter und sah dort einen Ölzug kommen. Er fuhr von Gleis 6 oder 7 rüber nach Gleis 1. Ich habe aber die Weiche, die dahinter war, nicht beachtet. Dabei drehte ich mich um und wollte gerade übers Gleis gehen. Da hörte ich plötzlich nur noch ein lautes Schnaufen der Lok und ich bekam einen Schlag vor den Kopf."

Die Beklagte forderte hierauf noch einen dienstlichen Bericht an, welcher am 26. September 1946 von Amtmann N..., Hauptbahnhof Bremen, erstattet und von Sanitäter M..., der den Verletzten zuerst betreut hatte, unterschriftlich bestätigt wurde. Darin hieß es, auf der Sanitätswache habe der Kläger, der unter Schmerzen litt, aber bei vollem Bewußtsein war, den Bahnbeamten angegeben, er habe sich ein paar Zigarettenreste aufgesucht und dabei einen durchfahrenden Zug nicht bemerkt; auf Vorhaltungen, wie er einiger Zigarettenreste wegen seine Gesundheit so leichtfertig gefährden könne, habe er nichts zu entgegnen gewußt. Ferner berichtete Amtmann N... der Truppenzug sei schon um 12,59 Uhr abgefahren; die Unfallstelle liege weit entfernt von dem Abkürzungsweg, auf dem der Kläger von der Betriebsküche zum Bahnbetriebswerk hätte gelangen können.

Mit Bescheid vom 5. November 1946, welcher der Mutter des Klägers zugestellt wurde, lehnte die Beklagte die Gewährung der Unfallentschädigung ab mit der Begründung, der Kläger habe nicht den vorgeschriebenen Weg von der Betriebsküche zur Arbeitsstätte benutzt und sei bei verbotswidriger eigenwirtschaftlicher Tätigkeit verunglückt.

Am 10. Mai 1949 legte der Kläger bei dem Oberversicherungsamt (OVA.) für den Reichsbahndirektionsbezirk H... Berufung ein. Das OVA. vernahm die Zeugen M... und G... Der Sanitäter M... bekundete, der Kläger habe auf Fragen, was er gemacht hätte, keine Antwort gegeben; vermutlich - das könne der Zeuge aber nur unterstellen - habe der Kläger Zigarettenkippen aufgesammelt. - Inspektor G... gab an, erst seit 1949 im B... Hauptbahnhof tätig zu sein; er schilderte, wie seinerzeit die Zugänge zum Bahnbetriebswerk geregelt und die Bediensteten hierüber belehrt worden waren. - Das OVA. sah die Berufung des Klägers als fristgerecht an, da der angefochtene Bescheid nicht dem Jugendamt als dem damaligen gesetzlichen Vertreter des Klägers zugestellt worden war; mit Urteil vom 19. April 1951 wies es jedoch die Berufung als unbegründet zurück.

Der hiergegen vom Kläger fristgerecht eingelegte Rekurs wurde als Berufung beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg rechtshängig; dieses gab nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Sache an das Landessozialgericht (LSG.) Celle ab. An der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. nahm der Kläger teil; ausweislich der Niederschrift wurden die Beteiligten gehört und das Sach- und Streitverhältnis mit ihnen erörtert. Das LSG. hat die Berufung mit Urteil vom 26. September 1956 zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen: Gegen den Bescheid der Beklagten sei mangels Zustellung keine Frist gelaufen. Der Versicherungsschutz für den streitigen Unfall hänge davon ab, was der Kläger - nach Beendigung seines zweifellos eigenwirtschaftlichen Aufenthalts auf Bahnsteig 1 - mit dem Hinuntersteigen auf das Gleis 2 unmittelbar bezweckt habe. Ein Arbeitsunfall sei anzunehmen, wenn der Kläger verbotswidrig das Gleis betreten habe, um seine Arbeitsstätte zu erreichen und nur nebenbei vielleicht noch Zigarettenreste vom Gleis zu sammeln; habe er aber das Gleis nur betreten, um Zigarettenreste zu suchen und sei er während dieser Suche angefahren worden, so entfalle der Versicherungsschutz. Das LSG. hält es für wahrscheinlicher, daß der Unfall auf die letztgenannte Weise eingetreten ist. In Ermangelung von Augenzeugen der zum Unfall führenden Vorgänge ist das LSG. bei der Beweiswürdigung von den Darstellungen des Klägers ausgegangen. Hierbei hält es die in der Unfallanzeige enthaltene, vom Kläger unterschriebene Schilderung schon grundsätzlich für glaubhafter als den späteren eigenen Unfallbericht des Klägers vom 4. September 1946, denn es sei eine Erfahrungstatsache, daß in der Regel der ersten Darstellung nach dem Unfall der Vorzug gegeben werden müsse vor späteren, zweckbestimmten Angaben. Außerdem aber könne der Unfallbericht vom 4. September 1946 auch wegen der irrigen Zeitangaben des Klägers sowie deshalb nicht stimmen, weil aus der eigenen Darstellung des Klägers zu folgern sei, daß er sich geraume Zeit auf dem Gleis 2 aufgehalten haben müsse; dies beweise ein Blick auf den Bahnhofslageplan.

Gegen das am 12. Oktober 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. November 1956 Revision eingelegt und zugleich um Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 15. Dezember 1956 gebeten. Dem Gesuch wurde entsprochen. Auf seinen am 8. Dezember 1956 eingegangenen Antrag wurde die Frist für die Revisionsbegründung durch Verfügung vom 10. Dezember 1956 nochmals verlängert bis zum 12. Januar 1957. In der am 12. Januar 1957 eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger als wesentliche Verfahrensmängel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) Verstöße des LSG. gegen §§ 103, 106, 112 und 128 SGG: Das LSG. hätte dem Kläger in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit geben müssen, seine schriftlichen Unfalldarstellungen zu erläutern. Infolge der Unterlassung dieser Maßnahme habe das LSG. den Unfallbericht des Klägers vom 4. September 1956 falsch gedeutet; die vom LSG. aus diesem Bericht in Verbindung mit dem Bahnhofslageplan gezogene Schlußfolgerung, der Kläger müsse sich geraume Zeit in Gleis 2 aufgehalten haben, sei unhaltbar; vielmehr könne bei Zugrundelegung dieser Angaben der Zeitraum zwischen dem Augenblick, als der Kläger beim Hin-untersteigen den Güterzug erblickte, und dem Unfall nur mit einigen Sekunden angenommen werden. Das LSG. habe auch zu Unrecht eine Vernehmung des Amtmanns N... sowie eine Augenscheinseinnahme unterlassen. Ferner habe es die bahnamtlichen Ermittlungsergebnisse unzutreffend gewürdigt und sich mit der Aussage des Zeugen M... in der Verhandlung vor dem OVA. nicht auseinandergesetzt. Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Beklagte dem Grunde nach zur Gewährung der Unfallentschädigung zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie zurückzuweisen.

Sie meint, der Kläger habe die Revisionsbegründungsfrist versäumt, denn § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG lasse eine zweimalige Fristverlängerung nicht zu. Die von der Revision gerügten Verfahrensmängel liegen nach Ansicht der Beklagten nicht vor. Der Kläger habe genügend Gelegenheit gehabt, seinen Unfallbericht schriftsätzlich zu erläutern. Dieser Bericht sei im übrigen widersprüchlich und ohne Beweiswert, mit Recht sei das LSG. daher dem dienstlichen Bericht des Amtmanns N. gefolgt. Dem sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG. widerspricht die Beklagte; sie vertritt die Auffassung, der nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu beurteilende Versicherungsschutz entfalle hier, weil der Kläger nicht den üblichen Weg zur Arbeitsstätte benutzt habe.

Der Kläger hat wegen der etwaigen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. In einen am 13. November 1957 eingegangenen Schriftsatz hat er schließlich geregt, das LSG. Celle sei für die Entscheidung über seine Berufung örtlich unzuständig gewesen; er hat demgemäß beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung zuständigkeitshalber an das Landessozialgericht Bremen zu verweisen.

Für den Fall, daß diese Rüge als verspätet erachtet werde, hat er die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Die Revisionsbegründung ist allerdings nicht innerhalb der zunächst bis zum 15. Dezember 1956 verlängerten Frist, sondern erst am 12. Januar 1957, dem letzten Tage der durch die zweite Verlängerungsverfügung bestimmten Frist, beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen. Insgesamt hat der Vorsitzende des erkennenden Senats mit den beiden Verfügungen die Begründungsfrist um einen weiteren Monat verlängert, wie es der Vorschrift des § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG entspricht. Im Hinblick auf den Wortlaut dieser Vorschrift könnte es zwar fraglich erscheinen, ob die nochmalige Fristverlängerung auf den erneuten Antrag des Klägers bewilligt werden durfte. Der Senat konnte diese Frage jedoch unerörtert lassen (vgl. ähnlich BGHZ. 4 S. 389 [396]); denn auf jeden Fall müßte dem Kläger wegen der etwaigen Fristversäumnis die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil er sich auf die vom Senatsvorsitzenden verfügte nochmalige Verlängerung der Begründungsfrist verlassen durfte; im Sinne des § 67 Abs. 1 SGG wäre er hiernach ohne Verschulden verhindert gewesen, die Frist für die Revisionsbegründung einzuhalten.

Die Revision, die somit den Form- und Fristerfordernissen des § 164 SGG entspricht, ist statthaft, weil der Kläger mit Recht wesentliche Mängel im Verfahren des LSG. gerügt hat. Das LSG. hat seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§§ 103, 106, 112 SGG) nicht hinreichend genügt; auch die Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 SGG) sind im angefochtenen Urteil nach Auffassung des Senats überschritten worden.

Da Augenzeugen der dem Unfall unmittelbar vorangehenden Ereignisse nicht vorhanden waren, mußte das LSG. von den vom Kläger selbst gegebenen Unfallschilderungen ausgehen. Wenn es hierbei das Schreiben des Klägers vom 4. September 1946 grundsätzlich für weniger glaubhaft hielt als die in der Unfallanzeige vom 31. Dezember 1945 niedergelegten Angaben, so erscheint dies nach Ansicht des Senats jedenfalls nicht ohne weiteres schon - wie das LSG. angenommen hat - durch eine "Erfahrungstatsache" gerechtfertigt, daß die ersten Angaben eines Unfallverletzten stets glaubhafter seien als spätere, zweckbestimmte Behauptungen. Der vorliegende Sachverhalt entbehrt der besonderen Merkmale, bei deren Vorliegen in der Rechtsprechung (vgl. EuM. Bd. 16 S. 298 f; OVA. München Breith. 1950 S. 838 [840]) diese Annahme als zulässig erachtet wird. Insbesondere hat das LSG. den Umstand nicht beachtet, daß die Unfallanzeige die ersten Aussagen des Klägers nicht wörtlich, sondern sehr gedrängt in indirekter Form wiedergegeben hat; wenn der Kläger acht Monate nach dem Unfall - also noch geraume Zeit vor der Bescheiderteilung - zur Klarstellung dieser sehr knappen amtlichen Feststellungen einen eigenen Unfallbericht verfaßt hat, so erscheint es nicht begründet, hierin von vornherein "zweckbestimmte" Angaben zu erblicken. Zutreffend hebt die Revision auch hervor, daß die Deutung, die das LSG dem Unfallbericht des Klägers vom 4. September 1946 gegeben hat, nicht überzeugen kann. Wenn das LSG. der Darstellung des Klägers insoweit folgte, er habe beim Hinuntersteigen vom Bahnsteig 1 auf das Gleis 2 den Güterzug, der ihn später anfuhr, erblickt, jedoch angenommen, dieser Zug werde auf Gleis 1 einfahren, so erscheint damit unvereinbar die Schlußfolgerung des LSG., der Kläger habe also noch "geraume Zeit" auf Gleis 2 bei der Suche nach Zigarettenresten verweilt, denn der Zug müsse noch weit entfernt gewesen sein. Die Bekundung des Klägers, er habe vermutet, daß der von Gleis 6 oder 7 kommende Zug auf das Gleis 1 einfahren würde, drängte vielmehr zu der Folgerung, daß die Spitze dieses Zuges im fraglichen Augenblick sich schon auf dem Übergang zwischen Gleis 3 und 2 befand; unter diesen Umständen wäre aber nach dem Bahnhofslageplan die Entfernung zwischen dem einfahrenden Zug und dem Standort des Klägers im Augenblick des Hinuntersteigens so gering gewesen, daß es bis zum Unfallereignis nur noch wenige Sekunden dauern konnte. Da der Kläger nach seinen Angaben mit der Einfahrt des Zuges auf Gleis 2 nicht gerechnet haben will, kann ihm die Beklagte nicht entgegenhalten, er wäre in diesem Augenblick angesichts eines so nahe herangekommenen Zuges bestimmt nicht mehr in das Gleis hinuntergestiegen.

Zu Unrecht hat das LSG. den unstimmigen zeitlichen Angaben des Klägers eine den Beweiswert seiner Unfallschilderung mindernde Bedeutung beigemessen. Hierbei hätte das LSG. berücksichtigen müssen, daß die Ab- und Durchfahrtszeiten der Züge zwar vom Kontrollapparat der Bahn genau registriert wurden, daß hingegen dem Kläger, dessen Beobachtungsfähigkeit nach seiner schweren Verletzung noch dazu sehr beschränkt gewesen sein dürfte, derartige Gedächtnisstützen fehlten.

Entfiel somit die Möglichkeit, allein aus den schriftlichen Unfallschilderungen einwandfreie Tatsachenfeststellungen über das zum Unfall führende Verhalten des Klägers zu gewinnen, so war das LSG. verpflichtet, den Sachverhalt unter Ausnutzung aller sonst noch verfügbaren Beweismittel weiter aufzuklären. Hierzu gehörte zunächst, wie die Revision mit Recht vorträgt, eine persönliche Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung; einer solchen Anhörung steht nicht entgegen, daß im Verfahren nach dem SGG eine Beweiserhebung durch Parteivernehmung ausgeschlossen ist (vgl. Sozialrecht SGG § 103 Bl. Da 7 Nr. 21). In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. hat - wie der Niederschrift zu entnehmen ist - eine solche eingehende persönliche Befragung des Klägers zwecks näherer Erläuterung seines schriftlichen Unfallberichts nicht stattgefunden. - Das LSG. hätte sich auch gedrängt fühlen müssen, den Amtmann N... als Zeugen zu vernehmen. Dessen schriftlicher Bericht vom 26. September 1946 wie auch die Unfallanzeige sind vor allem deshalb unzulängliche Beweismittel, weil darin die dem Kläger in der Sanitätswache vorgehaltenen Fragen sowie seine Antworten in so gedrängter Kürze zusammengefaßt worden sind, daß sich ein genaues Bild von dem Verlauf dieser Unterredung nicht gewinnen läßt; insbesondere erscheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Bahnbeamten - aus der Situation heraus subjektiv durchaus begreiflich - dem Kläger Suggestivfragen gestellt haben könnten, deren Sinn dieser nicht richtig aufgefaßt hat. Stark erschüttert wird der Beweiswert dieser dienstlichen Berichte auch - wie die Revision mit Recht geltend gemacht hat - durch die erheblich eingeschränkte Aussage des Zeugen M... in der Verhandlung vor dem OVA.; dieser hat sich an ein ausdrückliches Geständnis des Klägers, er habe im Gleis 2 Zigarettenreste aufgesammelt, nicht erinnern können, sondern dies nur aus dem Schweigen des Klägers gefolgert. Das LSG. hätte prüfen müssen, ob im Gegensatz hierzu der Amtmann N... sich noch an bestimmte Äußerungen des Klägers erinnern konnte und wie diese etwa gelautet haben.

Schließlich hätte das LSG. bei dem vorliegenden Sachverhalt auch zwingenden Anlaß gehabt, sich durch Einnahme des Augenscheins ein möglichst genaues Bild von der Lage der Unfallstelle und von den örtlichen Verhältnissen im Hauptbahnhof B... zu verschaffen. Die erst am 13. November 1957 erhobene Rüge der mangelnden örtlichen Zuständigkeit des Vorderrichters konnte hingegen keinen Erfolg haben. Es konnte dabei unentschieden bleiben, ob bei einer statthaften Revision noch weitere Revisionsgründe nachgeschoben werden dürfen, ob dem Kläger hinsichtlich dieser Rüge die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müßte oder ob etwa die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Berufungsgerichts im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen ist. Der Senat sah jedenfalls keine ausreichende Veranlassung, von der zu § 215 Abs. 8 SGG ergangenen Entscheidung des 3. Senats des BSG. (Sozialrecht SGG § 215 Bl. Da 10 Nr. 36) abzuweichen; danach richtet sich in derartigen Übergangsfällen die Zuständigkeit des LSG. nach dem Sitz des OVA., das vorher entschieden hatte. Der Umstand, daß es sich im vorliegenden Fall um ein besonderes OVA. gehandelt hat, dessen Zuständigkeitsbereich sich auf mehrere Länder - Niedersachsen und Bremen - erstreckte, erschien dabei dem Senat nicht von ausschlaggebender Bedeutung.

Auf die hiernach zulässige Revision hatte der Senat die Frage zu prüfen, ob die Vorinstanzen mit Recht den zeitlichen Zwischenraum von 2 ½ Jahren von der Erteilung bis zur Anfechtung des ablehnenden Bescheides als unerheblich angesehen haben. Im Hinblick auf die unterbliebene Zustellung des Bescheides an den damaligen gesetzlichen Vertreter des Klägers (§§ 128, 135, 1590 RVO) war diese Frage zu bejahen.

Die Revision ist auch begründet, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG. bei Vermeidung der angeführten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Der sachlich-rechtliche Standpunkt des LSG., der Weg des Klägers auf dem Bahngelände nach Beendigung der Mittagspause sei als sogenannter Betriebsweg (§ 542 RVO) aufzufassen, wird nach Ansicht des Senats dem bisher ermittelten Sachverhalt gerecht. Da mithin § 543 RVO nicht anzuwenden ist, erübrigt sich eine Prüfung der von der Beklagten aufgeworfenen Frage, ob etwa der Versicherungsschutz dadurch entfallen konnte, daß der Kläger nicht auf dem "üblichen" Weg zur Arbeitsstätte im Sinne dieser Vorschrift verunglückt ist (vgl. hierzu BSG. 8 S. 53).

Mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen ist eine Entscheidung in der Sache selbst nicht möglich. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war die Sache daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Vorderrichter zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG)

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324817

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