Orientierungssatz
Eine Änderung des Leidenszustandes durch Leidensverschlimmerung ist schon dann wesentlich und führt damit zur Neufeststellung der Rente, wenn dieser, vor der Neufeststellung abgelaufene Zustand nur 3 Monate angedauert hat (vergleiche BSG 1965-07-27 10 RV 9/64 = BSGE 23, 192 und BSG 1967-08-17 8 RV 113/67 = BSGE 27, 126).
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1964-02-21
Tenor
Die Sprungrevision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 7. Dezember 1967 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der 1914 geborene Kläger bezieht wegen "Bewegungseinschränkung im linken Ellenbogen nach Verwundung, Steckschußverletzung des rechten Oberschenkels ohne Funktionsstörung" Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H.. Ein Rentenerhöhungsantrag vom Januar 1964 wegen Krampfaderbeschwerden rechts hatte keinen Erfolg; die festgestellten Krampfadern seien nicht Folge der Verwundung des rechten Oberschenkels. Den weiteren Rentenerhöhungsantrag des Klägers vom August 1965 lehnte die Verwaltung nach einer Begutachtung des Klägers in den Städtischen Krankenanstalten Itzehoe ab, bei welcher eine zur Ermittlung von Schädigungsfolgen vorgenommene Venographie zu einer Zellgewebsentzündung und Phlebitis im rechten Unterschenkel geführt hatte (Bescheid vom 2. Juni 1966 und Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1967). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Itzehoe mit Urteil vom 7. Dezember 1967 den Beklagten verurteilt, vom 1. April 1966 bis 30. Juni 1966 Versorgungsrente nach einer MdE von 100 v. H. zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Krampfaderleiden sei nicht auf den Wehrdienst zurückzuführen. Die ausgedehnte Insuffizienz der Tiefenvenen sei nach ärztlichem Urteil durch anlagebedingte Bindegewebsschwäche verursacht. Da der Kläger auf Anordnung der Versorgungsverwaltung im Krankenhaus begutachtet worden sei, habe die Versorgungsverwaltung auch für die mittelbaren Schädigungsfolgen einzustehen. Die Untersuchung im Krankenhaus habe eine erhebliche Zellgewebsentzündung und Phlebitis im rechten Unterschenkel hervorgerufen, so daß der Kläger vom 1. April bis 30. Juni 1966 erwerbsunfähig gewesen sei. Nach § 60 Abs. 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei daher für diese Zeit Versorgungsrente nach einer MdE von 100 v. H. zuzusprechen.
Gegen dieses sozialgerichtliche Urteil wendet sich der Beklagte mit der Sprungrevision, die er nach § 150 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für zulässig hält, weil eine Verschlimmerung des schädigungsunabhängigen Krampfaderleidens streitig sei. Die ärztliche Untersuchung sei wegen eines Krampfaderleidens angeordnet worden, das nicht als Schädigungsfolge festgestellt sei. Außerdem sei die wehrdienstunabhängige Gesundheitsverschlimmerung nur vorübergehend gewesen, so daß eine wesentliche Änderung i. S. des § 62 Abs. 1 BVG nicht vorliege und daher eine Neufeststellung nicht gerechtfertigt sei. Die Auffassung des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), wonach eine wesentliche Änderung schon vor Ablauf von 6 Monaten sich ergeben könne, möchte überprüft werden. Der Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit des Beschädigten müsse sich über längere Zeiträume bemerkbar machen, um beurteilen zu können, ob die Befähigung zur Ausübung von Arbeit erheblich gelitten habe. Die Grundrente müsse eine von Schwankungen möglichst unabhängige und Stetigkeit gewährleistende Grundlage haben (Verwaltungsvorschriften - VV - Nr. 1 zu § 30 und Nr. 3 zu § 62 BVG). Um diesen Zweck zu erreichen, müsse die Verschlimmerung eines Leidens 6 Monate andauern. In der Auslegung des § 1 BVG durch das SG sieht die Revision eine Gesetzesverletzung. Außerdem wäre auch ein Zeitraum von 6 Monaten als Voraussetzung für eine Neufeststellung nicht praktikabel, weil die Verwaltung zu fortgesetzten Nachuntersuchungen gezwungen wäre. Im übrigen bezieht sich der Beklagte auf einen im Bundesversorgungsblatt nicht veröffentlichten Erlaß des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 12. Februar 1968, worin dieser auf die VV Nr. 1 zu § 30 BVG und Nr. 3 zu § 62 BVG verwiesen hat.
Der Beklagte (Revisionskläger) beantragt,
das Urteil des SG Itzehoe vom 7. Dezember 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Sprungrevision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Sprungrevision erscheine zwar statthaft, jedoch in der Hauptsache nicht hinreichend substantiiert. Nach BSG 17, 60 sei der Anspruch des Klägers gerechtfertigt; die Venographie, welche zur streitigen Gesundheitsstörung geführt habe, habe dazu gedient, das Ausmaß und die Auswirkungen anerkannter Schädigungsfolgen, der "Steckschußverletzung des rechten Oberschenkels" zu ermitteln und die Auswirkungen des Versorgungsleidens gegenüber anderen Krankheitsfaktoren abzugrenzen. Das anerkannte Versorgungsleiden sei daher wesentliche Bedingung für die 3 Monate dauernde Erwerbsunfähigkeit. Daß die Voraussetzung für die Rente keinen Zeitablauf von 6 Monaten verlange, ergebe sich aus der Streitsache 8 RV 113/67.
Die Sprungrevision des Beklagten ist statthaft (§ 161 SGG), weil der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Krampfaderleiden und dem Wehrdienst streitig ist (§ 150 Nr. 3 SGG; BSG 1, 70) und der Kläger seine Einwilligung zur Sprungrevision schriftlich erklärt hat (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG; BSG 3, 13). Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, kann aber keinen Erfolg haben.
Streitig ist, ob die Versorgungsverwaltung die Folgen der auf ihre Anordnung vorgenommenen Untersuchung in den Städtischen Krankenanstalten Itzehoe als mittelbare Schädigungsfolgen zu entschädigen hat. Beide Beteiligten berufen sich auf Wilke, BVG, 2. Aufl. § 1, Erläuterung 10 b. Diese auch in der 1968 erschienenen 3. Auflage enthaltene Kommentarstelle besagt, daß bei versorgungsärztlich angeordneten Untersuchungen eingetretene Gesundheitsstörungen mittelbare Schädigungsfolgen seien, daß aber der Kausalzusammenhang fehle, wenn die Untersuchung wegen eines vom Antragsteller behaupteten Versorgungsleiden durchgeführt worden sei, die Untersuchung aber keine wehrdienstbedingten Schädigungsfolgen ergeben habe. Wie das SG unangegriffen festgestellt hat, haben die anerkannten Schädigungsfolgen, nämlich die Steckschußverletzung des rechten Oberschenkels, eine ärztliche Untersuchung zu dem Zweck notwendig gemacht, um zu ermitteln, ob im rechten Bein weitere Schädigungsfolgen in Form von Krampfaderbildungen und örtlichen Kreislaufstörungen entstanden waren. Die auf Anordnung der Versorgungsverwaltung durchgeführte Venographie hat zu der streitigen, 3 Monate andauernden, Zellgewebsentzündung (Phlebitis) im rechten Unterschenkel geführt; die Phlebitis ist daher als eine mittelbare Leidensverschlimmerung anzusehen. Da das Leiden nur vorübergehend aufgetreten ist, ist streitig, ob die Dauer von 3 Monaten genügt, um den Versorgungsanspruch neu festzustellen.
Nach § 62 Abs. 1 BVG ist der Versorgungsanspruch (§ 9 BVG) entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen die für seine Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Welches Ausmaß die "wesentliche Änderung" haben muß, sagt das Gesetz nicht. Es handelt sich bei dieser Gesetzesfassung um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Konkretisierung Aufgabe des Gerichts, auch des Revisionsgerichts ist, weil die Grenzen des Begriffshofes deutlich gemacht werden müssen (vgl. BVerwGE 5, 63; 16, 116, 129; BSG 1, 185; 10, 51; 10, 78; 14, 104; 20, 166; BVerfGE 6, 32, 42; 8, 274; 11, 168, 190; 13, 161). Aufgrund dieser Vorschrift haben die Entscheidungen in BSG 23, 192 und 27, 126 zu einer Neufeststellung für die Vergangenheit (nicht "bis auf weiteres") verurteilt. Im BSG 23, 192 wurde die Neufeststellung des Anspruchs auf Pflegezulage befristet zugesprochen, weil vor Erteilung des Widerspruchsbescheides der Kläger 4 Monate hilflos war. Im BSG 27, 126 wurde der Anspruch auf die höhere Rente deshalb zugesprochen, weil die Leidensverschlimmerung 3 Monate angehalten hatte. Im vorliegenden Fall war der Kläger vom 1. April 1966 bis 30. Juni 1966 erwerbsunfähig. Allen drei Fällen ist mithin eigentümlich, daß der Rentenberechtigte eine höhere Rente für eine in der Vergangenheit liegende befristete Zeit beantragt hat. Weder in den beiden früheren noch in dieser Sache ist darüber entschieden - auch sind nicht die Fälle erörtert worden -, wenn im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung der höhere Grad der MdE bzw. die Hilflosigkeit noch nicht wieder behoben gewesen wäre, sondern noch angedauert hätte.
Nr. 3 der VV zu § 62 BVG besagt in derartigen Fällen, daß eine wesentliche Änderung der MdE nur vorliegt, wenn der veränderte Gesundheitszustand voraussichtlich mehr als 6 Monate anhalten werde. Ähnlich sprechen sich die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Neuausgabe 1965) auf Seite 21 und Seite 32 und das vom Beklagten mitgeteilte Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 12. Februar 1968 - V/2 - 5231 - 3735/67 aus. Danach soll eine wesentliche Änderung der MdE eine nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörung voraussetzen, wobei als vorübergehend ein Zeitraum angesehen wird, der sich auf wenigstens 26 Wochen erstreckt. Der Senat brauchte sich nicht mit der Maßgeblichkeit dieser Weisungen, an die er ohnehin nicht gebunden ist, auseinanderzusetzen, weil die angefochtenen Verwaltungsakte nur eine in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Zeit betreffen, für welche der Kläger die Rentenerhöhung anstrebt. Vielmehr war an der bisherigen Rechtsprechung über eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs bei einer vorübergehenden, in der Vergangenheit liegenden wesentlichen Änderung der maßgebenden Verhältnisse festzuhalten.
Wie noch ergänzt werden soll, ist es nicht unverhältnismäßig, den Versorgungsanspruch wegen einer wesentlichen Verschlimmerung von weniger als 6 Monaten neu festzustellen, wenn einem dahingehenden Bescheid nicht so erhebliche Folgen wie die Gewährung der höheren Rente bis auf weiteres, d. h., bis zum Ablauf von mindestens 1 bis 2 Jahren (§ 62 Abs. 2 BVG) gegenüberstehen; denn die durch die Neufeststellung begehrte Leistung zieht keine weitergehenden Folgen nach sich als dem Begehren des Klägers, das zeitlich in der Vergangenheit begrenzt ist, entspricht. Bezieht sich der Sozialrechtsstreit nicht auf eine Dauerrente, sondern auf eine höhere Rente für eine befristete Zeit, so entfallen die im Runderlaß des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 12. Februar 1968 befürchteten Weiterungen. Bei zeitlich abgeschlossenen Fällen einer Leidensverschlimmerung bestehen sonach keine Bedenken, für kürzere Zeiträume als 6 Monate eine Neufeststellung zuzulassen. Das SG hat mithin den unbestimmten Rechtsbegriff der wesentlichen Änderung der Verhältnisse, hier des Leidenszustandes, im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG zutreffend ausgelegt und angewandt. Die Sprungrevision der Beklagten ist daher nicht begründet und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen