Leitsatz (amtlich)
Der Unfall, den ein Wehrpflichtiger außerhalb des Dienstes in der Bundeswehrkantine erleidet, kann Ansprüche nach dem SVG begründen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; SVG § 81 Abs. 1 Fassung: 1957-07-26
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Dezember 1967 aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 23. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der 1941 geborene Kläger war vom 3. Januar 1962 bis zum 30. Juni 1963 als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr. Am 15. Februar 1963 hielt er sich in seiner dienstfreien Zeit in der Kantine seines Truppenteils auf; er stand dort an der Theke. Hinter ihm gerieten drei andere Soldaten in Streit. Hierbei stieß ihn einer der Streitenden an, so daß er das Gleichgewicht verlor und mit dem rechten Auge auf das Stuhlbein eines mit der Sitzfläche auf dem Tisch abgestellten Stuhles fiel. Er erlitt dabei eine schwere offene Augenverletzung und ist jetzt auf dem rechten Auge blind.
Der Versorgungsantrag des Klägers vom Juli 1963 hatte keinen Erfolg, weil der Unfall sich nicht während der Ausübung des Wehrdienstes ereignet habe; auch sei die Augenverletzung nicht durch die wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden (ablehnender Bescheid des Versorgungsamts T vom 8. Januar 1964 und Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts vom 24. November 1964).
Das Sozialgericht (SG) Trier hat der Klage mit Urteil vom 23. Mai 1966 stattgegeben. Die Verletzung des Klägers sei durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse, nämlich das Zusammensein junger Menschen, unter denen es insbesondere altersbedingt häufig zu Streitigkeiten und Schlägereien komme, und die besonderen Verhältnisse in der Kantine, verursacht.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (DSG) Rheinland-Pfalz das Urteil des SG Trier aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Der Kläger habe den Unfall nicht "während der Ausübung des Wehrdienstes" erlitten, da er nicht im Dienst gewesen sei. Der Unfall sei auch nicht durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden. Es sei nämlich nicht dem Wehrdienst eigentümlich, daß Soldaten sich während ihrer Freizeit in der Kantine aufhielten; dies sei nur möglich. Es stehe dem Soldaten völlig frei, wo er seine Freizeit verbringen wolle, der Kantinenbesuch sei also nicht zwangsläufig mit dem Militärdienst verbunden. Dem Kantinenpächter sei die Wahrnehmung des Hausrechts gegenüber den Soldaten übertragen, so daß auch insoweit wehrdiensteigentümliche Verhältnisse nicht vorlägen. Wegen Fehlens eines militärischen Zwangs zur Benutzung von Soldatenkantinen könne es dahingestellt bleiben, ob ein Gedränge an der Theke und das verhältnismäßig frühzeitige Aufstellen von Stühlen auf die Tische (21.00 Uhr) den Eigentümlichkeiten des militärischen Dienstes zuzurechnen sei, falls diese Umstände von den Verhältnissen des zivilen Lebens abweichen und diesen in der Regel fremd sein sollten.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das Berufungsgericht habe die §§ 80, 81 Abs. 1 des Gesetzes über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetzes) - SVG - verletzt, indem es den Begriff der "dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse" verkannt habe. § 81 Abs. 1 SVG verlange nicht, daß die Soldaten immer und zwangsläufig ihre dienstfreie Zeit in der Kantine verbringen. Es reiche aus, daß dienstfreie Soldaten die Kasernenkantine in der Regel häufig aufsuchten, um Gegenstände des täglichen Bedarfs einzukaufen oder sich durch Speisen und Getränke zu erfrischen. Wegen der Kasernierung und des Dienstbetriebs bestehe nur selten Gelegenheit, außerhalb der Kaserne gelegene Geschäfte aufzusuchen. Zudem hindere der frühe Zapfenstreich die Soldaten gleichzeitig regelmäßig daran, zur Einnahme kleinerer Erfrischungen nach Dienstschluß noch weite Wege in die meist abgelegenen Wirtschaften und Gaststätten außerhalb des Kasernenbereichs zu machen. Auch die sonstigen Besonderheiten des Kantinenbetriebes innerhalb des Kasernenbereiches würden durch militärische Notwendigkeiten bestimmt, so z. B. die von Zivilbetrieben abweichenden Öffnungszeiten, ihre ständige Kontrolle durch militärische Wachorgane und die Ausübung des Hausrechts durch den Kasernenkommandanten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Dezember 1967 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Trier vom 23. Mai 1966 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er tritt dem angefochtenen Urteil bei und weist darauf hin, daß das ganze Unfallgeschehen in seiner Entstehung, seinem Ablauf und den tragischen Auswirkungen nicht den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes zuzurechnen sei; auch in den privaten, kommunalen oder staatlichen Industriebetrieben, die über betriebliche Kantineneinrichtungen verfügen, könnten sich unter den gleichen Bedingungen und Umständen solche Vorgänge mit den eingetretenen Folgen ereignen. Die "Besonderheiten" der Truppenkantinen in Gestalt von Hausrechtsregelungen, bestimmte Öffnungszeiten und Kontrollen, spielten dabei eine untergeordnete Rolle; denn solche Besonderheiten seien auch bei den üblichen Betriebskantinen die Regel und im Hinblick auf einen ordnungsgemäßen Ablauf der betriebseigenen Geschäfte erforderlich.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und von dem Kläger form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).
Die Revision ist auch begründet.
Dem LSG ist zuzugeben, daß die Verletzung des Klägers nicht unmittelbar durch den militärischen Dienst oder durch einen Unfall "während" des Wehrdienstes verursacht worden ist. Der Kläger war im Zeitpunkt des Unfalles vom Dienst befreit. Die Freizeit kann auch nicht als Dienst im Sinne des § 81 Abs. 1 SVG angesehen werden, etwa weil der Kläger sich im Kasernenbereich aufhielt und dadurch tatsächlich jederzeit zum Einsatz verfügbar war. Zwar hat das LSG Rheinland-Pfalz in einem Einzelfall entschieden, daß der Unfall, den ein Soldat während eines Stadturlaubs erlitten hat, während der Ausübung des militärischen Dienstes im Sinne des § 1 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eingetreten sei, weil während eines Stadturlaubs die Verbindung zum Dienst erheblich enger sei als bei einem längeren Urlaub, auch ein dienstliches Interesse an dem Stadtausflug bestehe, der zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Spannkraft eines Soldaten beitrage (Urteil vom 11. Oktober 1954, BVBl 1955, 16 mit ablehnender Anmerkung von Wilke). Diese lose Verbindung zum Dienst kann jedoch nicht ausreichen, um den Begriff "Dienst" im Sinne der §§ 1 Abs. 1 BVG und 81 Abs. 1 SVG als erfüllt anzusehen. Wenn auch eine private Beschäftigung den Interessen des Wehrdienstes dienen mag, so liegt doch gerade eine Befreiung des Klägers vom militärischen Dienst vor. Das Gesetz verlangt einen Unfall während der "Ausübung" des militärischen Dienstes, d. h. während der Vornahme von Dienstverrichtungen oder des Bereithaltens zur Entgegennahme von Weisungen (Dienstbereitschaft). Nur wenn im Einzelfall zwischen der Art der Freizeitbeschäftigung und dem Wehrdienst eine besondere Verknüpfung besteht, z. B. wenn ein besonderer Befehl vorliegt (BSG 7, 75, 76), kann Urlaub oder Freizeit als Dienst angesehen werden. Hier lagen derartige Besonderheiten nicht vor.
Der Gesundheitsschaden des Klägers ist jedoch durch die dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden. Dem Wehrdienst eigentümlich sind Verhältnisse, die den Eigenarten dieses Dienstes entsprechen und im allgemeinen eng mit ihm verbunden sind (Wilke, BVG 3. Aufl. 1968, 22 und 492; van Nuis-Vorberg, 2. Aufl. 1963, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, II. Teil S. 83; Strässer in Rohr-Beuster-Strässer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Handkommentar, 1969, § 1 Anm. 11; Roeckner-Bluschke, BVG, Komm. 1968, § 1 Anm. 5 b; Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Versorgungsrechts, § 1 S. 5). Insoweit soll die Versorgung für Schädigungsfolgen ermöglicht werden, die nicht durch ein bestimmtes Ereignis, sondern durch Einwirkungen eingetreten sind, die zeitlich und örtlich nicht immer bestimmbar, aber sonst nicht oder nicht in dem Maße wie beim militärischen Dienst wirksam und erfahrungsgemäß den besonderen Verhältnissen dieses Dienstes zuzurechnen sind (van Nuis-Vorberg, aaO, II. Teil, S. 83; BSG 10, 251, 255). Dem militärischen Dienst eigentümlich sind also Verhältnisse, die für die Eigenart dieses Dienstes typisch und zwangsläufig mit ihm verbunden sind (Wilke, Dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse, KOV 1960, 140; BSG aaO, S. 255; Urteil vom 28. November 1962 - 9 RV 1270/58 - BVBl 1963, 105; BSG 18, 199, 201). Insoweit fordert die Rechtsprechung eine enge Beziehung zum Wehrdienst.
Zu den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes zählt, daß der Soldat durch seinen Dienst an seinem Standort oder Einsatzort gebunden ist und für die Dauer seines Wehrdienstverhältnisses aus seinem bürgerlichen Leben herausgenommen und von dem Orte ferngehalten wird, an dem sich der räumliche Schwerpunkt seiner bürgerlichen Lebensinteressen befindet (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 9. April 1964 in Buchholz, BVerwG 238.41 § 27 SVG Nr. 1; BSG 7, 75, 77). Das bedeutet zugleich, daß der Dienstpflichtige durch den Wehrdienst in seiner Freizeitgestaltung und Bewegungsfreiheit eingeengt wird. Sein Lebensrhythmus wird durch den Wehrdienst grundlegend geändert. Er muß den Kreis seiner Familie, seiner Freunde und Bekannten für einen langen Zeitraum verlassen und ist nunmehr nicht nur während der Dienstzeit - das entspräche etwa der Situation im Arbeitsleben -, sondern auch während seiner Freizeit tatsächlich gezwungen, mit einer größeren Zahl fremder, individuell verschiedener Menschen zusammenzuleben. Vermehren sich die Konfliktsituationen wohl immer mit der Größe und Verschiedenartigkeit einer Gruppe, so muß das - wie hier - in erhöhtem Maße gelten, weil die betroffenen Personen sich fast ausschließlich noch im Entwicklungsalter befinden, also noch erheblich unausgeglichener sind als Erwachsene, die fehlen, um vermitteln zu können. 18- bis 25-Jährige tragen ihre eigenen Konflikte unter größerer Beteiligung der Umwelt und ihrer Mitmenschen aus als ältere Menschen, die ihre Aggressionen besser steuern und beherrschen können. Auch die Disziplinierung der Soldaten und ein harter, für den einzelnen Soldaten oft anstrengender Dienst führt zu Aggressionsstauungen, die wegen der Notwendigkeit eines Ventils die Gefahr von Auseinandersetzungen mit sich bringen.
Diese Besonderheiten, wie Störung des Lebensrhythmus, Entfernung vom räumlichen und personellen Bereich der Lebensinteressen und damit Mangel des gewohnten Umgangs, Schwierigkeiten der Soldaten untereinander, die Härte und Andersartigkeit des Dienstes sind zwangsläufig mit dem Soldatendasein verbunden. Kein Soldat kann sich ihnen entziehen. Es handelt sich insoweit also um dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse.
Im vorliegenden Fall schafft die Tatsache, daß überwiegend junge Leute in größerer Zahl zum ständigen Zusammenleben gezwungen sind, eine Gefahrenerhöhung, die für den Wehrdienst eigentümlich und typisch ist. Die Verletzung des Klägers durch Mitsoldaten beruht auf dieser Gefahrenlage, die auch während der Freizeit fortbestand, solange sich der Kläger im Kasernenbereich, nämlich in der Kantine aufhielt. Ob dies auch anzunehmen wäre, wenn er in dem nächsten Dorfgasthaus verletzt worden wäre, kann hier offen bleiben.
Allerdings hat der Besuch der Kantine zu einer zusätzlichen Gefahrenerhöhung geführt, da die Streitbereitschaft vieler Menschen unter Alkoholeinfluß steigt. Die Besonderheiten des Wehrdienstes - die Entfernung aus dem räumlichen Bereich ihrer bürgerlichen Interessen, das Fehlen von Freunden und Verwandten, aber auch eines ansprechenden "Zuhause" - veranlassen die Soldaten, in ihrer freien Zeit häufiger als im Zivilleben Gasthäuser aufzusuchen, um eine durch den Dienst gespannte Stimmungslage abzureagieren. Um den Soldaten hierzu die notwendige und auch bequem zu erreichende Gelegenheit zu geben, - die Kasernen sind heute längere Strecken von der nächsten Ortschaft entfernt -, sind, wie im übrigen auch früher, in jeder Kasernenanlage Kantinen eingerichtet. Der Soldat muß sich aber nicht nur abreagieren, er muß sich in der Freizeit jederzeit auch kurzfristig entspannen und auch notwendige kleinere Einkäufe tätigen können. Eine Kantine gehört somit notwendig zu einer Kaserne.
Damit beruhte der Aufenthalt des Klägers in der Kantine auf Verhältnissen, die dem Wehrdienst eigentümlich sind. Es ist zur Annahme wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse nicht erforderlich, daß sich der Kläger nur auf Grund eines Befehls in einer Kantine aufgehalten hat oder sich dort aus nicht zu umgehenden Gründen hat aufhalten müssen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Aufenthalt in einer Wehrmachtkantine auch nicht mit dem in einer Werkkantine der freien Wirtschaft oder der Behörden zu vergleichen. Diese Kantinen dienen zwar auch zur Entspannung, aber in der Regel nur während der Arbeitszeit, während die Wehrmachtkantine in erster Linie für die Zeit nach Dienstschluß, also für die Freizeit gedacht ist. Während der Arbeitszeit sind auch nicht die oben dargelegten Streitmöglichkeiten wegen Alkoholeinflusses gegeben. Die Besucher der Werkkantinen haben sich auch nicht mit all den oben dargelegten Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, die mit dem Wehrdienst zwangsläufig verbunden sind. Sie setzen sich schließlich aus allen Altersschichten zusammen, so daß die Möglichkeit eines Ausgleichs gegeben ist.
Vorliegend ist der Kläger das Opfer fremder Auseinandersetzungen geworden, ohne an seiner Verletzung einen ihm vorwerfbaren Anteil gehabt zu haben. Da die Gefahrenquelle allein auf dem bloßen Zusammenleben mit einer Anzahl verschieden veranlagter Menschen beruht, ist die Verletzung die Folge wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse (Wilke, aaO, § 81 SVG, Anm. IV 2; Zum Begriff der Ausübung militärischen Dienstes in der Kriegsopferversorgung siehe KOV 1958, 145, 147).
Die Revision des Klägers ist mithin begründet und das Urteil des SG im Ergebnis zutreffend; der Senat mußte daher das angefochtene Urteil aufheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen