Leitsatz (amtlich)
1. Wird nach dem Inkrafttreten des UVNG für eine danach liegende Zeit die Rente eines Verletzten festgestellt, der seit dem 1963-07-01 gemäß UVNG Art 4 § 2 Abs 2 als Versicherter nach RVO § 540 gilt, so sind die zur Zeit des Unfalls geltenden Berechnungsvorschriften der RVO (§ 563 aF) anzuwenden.
2. Hat der Verletzte während des letzten Jahres vor dem Unfall, der sich vor dem Inkrafttreten des UVNG in der Untersuchungshaft ereignete, Arbeitsentgelt bezogen, so gilt dieses bei der Feststellung der Rente für Zeiten nach dem Inkrafttreten des UVNG gemäß RVO § 563 Abs 2 aF als Jahresarbeitsverdienst.
Normenkette
UVNG Art. 4 § 2 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; RVO § 563 Abs. 3 Fassung: 1952-08-13, Abs. 2 Fassung: 1949-08-10, § 540 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 31. Juli 1969 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1907 geborene Kläger erlitt während der Untersuchungshaft, die er am 27. August 1942 antrat, am 2. November 1942 in R bei der Arbeit einen Unfall, der zu Verletzungen beider Hände führte. Seine im April 1966 geltend gemachten Entschädigungsansprüche erkannte die Beklagte durch Bescheid vom 7. März 1967 aufgrund des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (FANG) an und gewährte dem Kläger ab 1. April 1966 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H.; sie legte der Rente einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von DM 4.500,- zugrunde und führte dazu im Bescheid aus, dies sei der zuletzt ab 1. Januar 1961 für den Antragswohnsitz - B - festgesetzte Ortslohn, der nach den Rentenanpassungsgesetzen ab 1. Januar 1967 auf DM 6.174,83 anzupassen gewesen sei.
Mit der Klage hat der Kläger die Feststellung der Unfallfolgen und die Höhe der MdE beanstandet sowie insbesondere verlangt, der Rentenberechnung einen höheren JAV zugrunde zu legen. Das Sozialgericht (SG) Bremen hat nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens die Beklagte durch Urteil vom 23. September 1968 - insoweit dem Antrag des Klägers folgend - zur Anerkennung weiterer Unfallfolgen und zur Zahlung der Rente nach einer MdE um 50 v. H. verurteilt; dagegen hat es die Klage, soweit sie den JAV betraf, abgewiesen.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger beantragt, die Rente nach seinem im Jahr vor dem Unfall tatsächlich erzielten Arbeitsverdienst zu berechnen, der ein Vielfaches des zugrunde gelegten Ortslohnes betragen habe.
Durch Urteil vom 31. Juli 1969 hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt:
Nach Art. 4 § 2 Abs. 2 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) gelte der Verletzte als Versicherter nach § 540 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des UVNG, soweit vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes - 1. Juli 1963 - ein Anspruch nach dem Gesetz betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene vom 30. Juni 1900 (GUFG) entstanden sei. Vor dem 1. Juli 1963 sei § 563 RVO aF für Unfälle von Gefangenen maßgebend und nach Abs. 3 dieser Vorschrift - wie im angefochtenen Bescheid zutreffend geschehen - die Rente nach dem Ortslohn zu berechnen gewesen. Die Anwendung des § 571 RVO idF des UVNG, wie der Kläger dies verlange, komme nicht in Betracht, weil diese Vorschrift nur für seit dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfälle gelte (Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG).
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Die Aufzählung der nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG rückwirkend anzuwendenden Vorschriften sei nicht erschöpfend. Daraus, daß § 571 RVO nicht mit aufgeführt sei, könne nicht auf den Willen des Gesetzgebers geschlossen werden, die früher von einem Unfall in Haft betroffenen Personen schlechter zu stellen als diejenigen, die erst nach dem Inkrafttreten des UVNG zu Schaden gekommen seien. Das GUFG sei mit dem 1. Juli 1963 aufgehoben und die Inhaftierten den freien Arbeitnehmern gleichgestellt worden (Art. 4 § 16 Abs. 2 Nr. 1, Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG i. V. m. § 540 RVO). Dieses Ziel sei nur durch die Anwendung der neuen Vorschriften über die Berechnung des JAV (§§ 571 ff RVO nF) auch für die Unfälle von Gefangenen, welche sich vor dem 1. Juli 1963 ereigneten, zu erreichen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Rente nicht unter Zugrundelegung des Ortslohnes, sondern des JAV vor dem Unfalltag zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Der Entscheidung des LSG liegt die Rechtsansicht zugrunde, die Rente eines Verletzten, der vor dem Inkrafttreten des UVNG - 1. Juli 1963, Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG - als Straf- oder Untersuchungsgefangener bei der Arbeit einen Unfall erlitten hat, sei bei der Feststellung für Zeiten nach dem 30. Juni 1963 gemäß Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG i. V. m. § 563 Abs. 3 RVO aF in jedem Fall nach dem Ortslohn zu berechnen. Dem ist jedoch nicht beizupflichten.
Zutreffend ist die Beklagte davon ausgegangen, daß der Anspruch des Klägers auf die vom 1. April 1966 an zuerkannte Rente wegen der Folgen des Unfalls, der sich am 2. November 1942 in R - außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin - ereignete, aus dem Fremdrentengesetz (FRG) herzuleiten ist (§ 5 FRG). Dem Erfordernis, daß der Verletzte im Zeitpunkt des Unfalls "bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war" (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 FRG), steht nicht entgegen, daß der Unfall bei der Arbeit während der Untersuchungshaft des Klägers eintrat und die Entschädigung sich infolgedessen nicht nach dem Dritten Buch der RVO, sondern nach dem GUFG richtete und für die Feststellung der Leistungen der Generalstaatsanwalt zuständig war. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 15. Dezember 1966 (BSG 26, 40 ff) mit näherer Begründung, auf die Bezug genommen wird, dargelegt hat, begründete das GUFG einen dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung unmittelbar zuzurechnenden öffentlich-rechtlichen Versicherungsschutz für die Folgen von Unfällen, die sich bei einer Arbeitstätigkeit von Strafgefangenen ereigneten. Der nach dem GUFG als Ausführungsbehörde für das Entschädigungsverfahren zuständige Generalstaatsanwalt war somit zugleich als Ausführungsbehörde für Unfallversicherung ein "deutscher Träger der gesetzlichen Unfallversicherung" i. S. von § 5 Abs. 1 Nr. 1 FRG. Mit Recht hat die Beklagte auch die übrigen Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung des Klägers nach dem FRG (§ 5) für gegeben erachtet und ihre Zuständigkeit für die Feststellung und Gewährung der Leistung angenommen (§ 9 Abs. 2 FRG; vgl. BSG 26, 40).
Die zwischen den Beteiligten streitige Frage, nach welchem JAV die dem Kläger ab 1. April 1966 zuerkannte Unfallrente zu berechnen ist, muß nach den für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden Vorschriften, also nach dem Dritten Buch der RVO, entschieden werden (§§ 5, 7 FRG). Das GUFG, nach welchem sich die Entschädigung in Fällen der vorliegenden Art bisher richtete, ist mit Wirkung vom 1. Juli 1963 außer Kraft getreten (Art. 4 § 16 Abs. 2 Nr. 1 UVNG). Gleichzeitig sind die Personen, die während einer auf Grund eines Gesetzes oder auf Grund strafrichterlicher Anordnung wie ein nach § 539 Abs. 1 RVO n. F. Versicherter tätig werden, unmittelbar in den Unfallversicherungsschutz nach den Vorschriften des Dritten Buches der RVO einbezogen worden (§ 540 RVO i. d. F. des UVNG). Diese Regelung erfaßt gemäß Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG auch die vor dem Inkrafttreten des UVNG entstandenen Ansprüche nach dem GUFG insofern, als der Verletzte oder Getötete künftig als Versicherter nach § 540 RVO n. F. gilt. Wird nach dem Inkrafttreten des UVNG für eine danach liegende Zeit die Rente eines Verletzten festgestellt, der seit dem 1. Juli 1963 als Versicherter nach § 540 RVO n. F. gilt, sind folglich nicht mehr die Berechnungsvorschriften des GUFG, sondern diejenigen des Dritten Buches der RVO anzuwenden. Da die besonderen Vorschriften der RVO i. d. F. des UVNG über die Berechnung des der Rente eines Gefangenen zugrundezulegenden JAV (§ 576 Abs. 6 i. V. m. Abs. 4 RVO n. F.) - wie auch die Grundvorschrift des § 571 RVO n. F. - nicht für Unfälle vor dem Inkrafttreten des UVNG gelten (Art. 4 §§ 1, 2 Abs. 2 UVNG), ist der JAV nach § 563 RVO i. d. F. vor dem Inkrafttreten des UVNG festzusetzen (Urteil des erkennenden Senats vom 25.8.1970 - 2 RU 98/67 -; Brackmann, Handbuch der SozVers, 1. - 7. Aufl., Band II S. 472 h; Vollmar in SozVers 1964, 52 ff).
Von dieser Rechtslage ist auch das LSG ausgegangen. Es hat jedoch nur § 563 Abs. 3 RVO a. F. für anwendbar erachtet und die nach dieser Bestimmung vorgenommene Berechnung der Rente nach dem Dreihundertfachen des Ortslohnes gebilligt. Dabei hat es die im Urteilstatbestand wiedergegebene Behauptung des Klägers, während des Jahres vor dem Unfall, der sich schon gut zwei Monate nach dem Antritt der Haft ereignete, "ein Vielfaches des Ortslohnes" als Arbeitsverdienst erzielt zu haben, bei der rechtlichen Würdigung unberücksichtigt gelassen. Dies hat die Revision - wenn auch mit der unzutreffenden Ansicht, die Rente sei nach den Vorschriften der RVO i. d. F. des UVNG zu berechnen - im Ergebnis zu Recht gerügt. Denn nach § 563 Abs. 2 RVO a. F. gilt als JAV der Arbeitsentgelt, den der Verletzte während des letzten Jahres vor dem Unfall bezogen hat, oder, falls dies für den Verletzten günstiger ist, das Dreihundertfache des durchschnittlichen Verdienstes für den vollen Arbeitstag im Unternehmen. Die Berücksichtigung des vor der Inhaftierung tatsächlich erzielten Arbeitsentgelts bei der Ermittlung des JAV in Fällen der vorliegenden Art steht in Einklang mit dem Sinn und Zweck der durch Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG beabsichtigten möglichst vollständigen Angleichung des Unfallschutzes der Gefangenen an den der freien Arbeiter (vgl. Begründung zu § 540 RVO, Bundestagsdrucksache IV/120 S. 52).
Die von der Beklagten vorgenommene Berechnung der Rente nach dem Ortslohn (§ 563 Abs. 3 RVO a. F.) wäre somit nur dann rechtmäßig, wenn die vom LSG noch anzustellenden Ermittlungen ein höheres Arbeitsentgelt des Klägers während des Jahres vor dem Unfall nicht ergeben sollten.
Auf die begründete Revision des Klägers war hiernach das angefochtene Urteil aufzuheben. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht in der Sache selbst entscheiden kann, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt.
Fundstellen