Leitsatz (amtlich)

1. Die nach AVG § 18 Abs 1 (Fassung: 1928-03-29) gebotene Nachentrichtung von Beiträgen (Nachversicherung) durfte und darf aufgrund des § 8 der Verordnung über die Nachentrichtung von Beiträgen für versicherungsfreie Personen vom 1930-10-04 nur unterbleiben, wenn die nach § 11 der VO iVm AVG § 11 Abs 3 aF zuständige Stelle entschieden hat, daß die Nachentrichtung von Beiträgen aufgeschoben werden kann. Hat diese Stelle nichts unternommen, so fehlt es an einer "Entscheidung".

2. Der Versicherungsträger trägt die Beweislast dafür, daß eine Aufschubentscheidung ergangen ist. Ist weder eine generelle noch eine konkrete Aufschubentscheidung feststellbar, dann muß der Versicherungsträger die Nachversicherung durchführen.

 

Normenkette

AVG § 18 Abs. 1 Fassung: 1928-03-29; BeitrNachentrV § 8 Fassung: 1930-10-04, § 11 Fassung: 1930-10-04; AVG § 11 Abs. 3 Fassung: 1924-08-30, § 125 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1403 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Januar 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1901 geborene Klägerin bezieht seit Juli 1966 von der Beklagten Altersruhegeld (Bescheid vom 26. September 1966). Bei seiner Berechnung wurde die Zeit von April 1927 bis September 1928, in der keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet wurden, nicht berücksichtigt. Die Klägerin war in dieser Zeit als Angestellte bei der beigeladenen Stadt T beschäftigt und nach § 11 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) damaliger Fassung versicherungsfrei. Am 30. September 1928 schied sie aus der Beschäftigung ohne Versorgung aus. Sie heiratete einen ebenfalls nach § 11 Abs. 1 AVG aF versicherungsfreien Angestellten (späteren Beamten). Diese Ehe besteht noch. Eine Beitragsnachentrichtung (Nachversicherung) erfolgte nicht.

Im Oktober 1966 bot der Badische Kommunale Versorgungsverband während des Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 26. September 1966 - für die Stadt T - die Durchführung der Nachversicherung der Klägerin an. Die Beklagte lehnte das durch Bescheid vom 8. Februar 1967 (Widerspruchsbescheid vom 7. April 1967) mit der Begründung ab, die Nachversicherung der Klägerin sei auf Grund von § 8 der Verordnung über die Nachentrichtung von Beiträgen für versicherungsfreie Personen vom 4. Oktober 1930 (RGBl I 459) mit bis heute dauernder Wirkung aufgeschoben worden.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen die Bescheide der Beklagten abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte durch Teilurteil verpflichtet, die Nachversicherungsbeiträge für die streitige Zeit anzurechnen und die Nachversicherung durchzuführen. Nach dem im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Beschäftigung geltenden Recht, d. h. nach § 18 Abs. 1 AVG aF sei eine Pflicht zur Nachversicherung der Klägerin entstanden. Ein Aufschub nach § 8 der rückwirkend zum 1. April 1928 in Kraft getretenen Verordnung vom 4. Oktober 1930 sei nicht eingetreten. Dazu habe es einer Entscheidung der nach § 11 Abs. 3 AVG aF zuständigen Stelle, d. h. der obersten Landesbehörde bedurft; sie habe für Personengruppen oder im Einzelfall ergehen können. Nach der Auskunft des Innenministeriums von Baden-Württemberg sei eine generelle Aufschubentscheidung nicht getroffen worden. Daß der Klägerin eine Einzelentscheidung zugegangen sei, habe sie glaubwürdig verneint. Auch die Beklagte habe eine die Klägerin betreffende Aufschubentscheidung nicht nennen können. Nach den Regeln über die objektive Beweislast sei somit davon auszugehen, daß eine Aufschubentscheidung nicht ergangen sei; sie könne auch nicht mehr nachgeholt werden.

Das LSG hat die Revision zugelassen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob die Nachversicherung nur auf Grund besonderer Entscheidung oder ohne solche aufgeschoben werden kann.

Die Beklagte beantragt mit der Revision,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 4. Oktober 1969 zurückzuweisen.

Sie rügt die Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 8 der Verordnung vom 4. Oktober 1930. Für die Anwendung des Grundsatzes der Feststellungslast sei hier kein Raum. Das LSG habe weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere nachgeordnete Dienststellen zum damaligen Verfahren in vergleichbaren Fällen befragen müssen. Dann hätte sich voraussichtlich ergeben, daß die Aufschubentscheidungen keineswegs ausschließlich unter Mitwirkung der Landesoberbehörde ergangen seien. Die Delegierung der Entscheidungsbefugnis auf mittlere oder untere Landesbehörden und die stillschweigende Ausübung des Rechts durch diese seien nicht rechtswidrig gewesen. Es sei zweifelhaft, ob es in den Fällen des § 8 der Verordnung überhaupt einer formellen Aufschubentscheidung im Einzelfall bedurft habe; ausschlaggebend seien die Aufschubtatbestände gewesen. Die heutigen Erkenntnisse ließen sich nicht ohne weiteres auf die Vergangenheit übertragen. Damals seien die Rechte aus den Sozialversicherungsgesetzen ohne Verwaltungsakte vorwiegend durch allgemeine Verwaltungshandlungen geregelt worden.

Die Klägerin ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten; sie hat sich jedoch ebenso wie die übrigen Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG und auch die Beklagte bejahen zutreffend eine noch zu erfüllende Pflicht zur Nachentrichtung von Beiträgen (Nachversicherung) auf Grund des § 18 Abs. 1 AVG idF vom 29. März 1928 (RGBl I 117), sofern die Beitragsentrichtung nicht nach § 8 der Verordnung vom 4. Oktober 1930 aufgeschoben worden ist. Dabei ist, wie der 1. Senat des BSG im Urteil vom 16. Juli 1974 - 1 RA 213/73 - dargelegt hat, an der Gültigkeit dieser Verordnung nicht zu zweifeln.

Die Verordnung hat in § 8 Abs. 1 bestimmt: "Die Nachentrichtung von Beiträgen wird aufgeschoben, wenn eine aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausscheidende Frau sich verheiratet und wenn ihr Ehemann ... gemäß § 11 ... AVG versicherungsfrei ist". Nach den Feststellungen des LSG ist dieser Tatbestand erfüllt. Die Verordnung hat jedoch in § 11 außerdem angeordnet: "Ob die Nachentrichtung auf Grund dieser Verordnung ... aufgeschoben werden kann, entscheiden die nach ... § 11 Abs. 3 des AVG zuständigen Stellen". Hieraus hat das LSG zu Recht geschlossen, daß ohne eine derartige Entscheidung die Nachentrichtung von Beiträgen nicht unterbleiben durfte und darf.

Diese Auffassung des LSG entspricht der Auslegung des insoweit vergleichbaren § 125 AVG heutiger Fassung durch den 1. Senat des BSG (BSG 32, 76, 79 ff; 35, 195 ff). § 125 Abs. 1 bestimmt heute wie seinerzeit § 8 Abs. 1, wann die Nachentrichtung von Beiträgen "aufgeschoben wird"; er legt also die Voraussetzungen fest, die einen sogenannten Aufschubgrund bilden. Auch heute ist in § 125 Abs. 3 ferner die Entscheidung einer zuständigen Stelle vorgesehen; nach dem Wortlaut dieser Vorschrift entscheidet sie, "ob die Entrichtung der Beiträge aufgeschoben wird". Diese Entscheidung hat der 1. Senat des BSG nicht als die Feststellung des Aufschubgrundes, d. h. als Feststellung der Tatbestandsmerkmale des § 125 Abs. 1 AVG gedeutet; er hat sie vielmehr als eine im Ermessen der zuständigen Stelle liegende Entschließung gewertet, ob bei (trotz) vorliegendem Aufschubgrund Beiträge gezahlt werden sollen oder nicht. Dies muß dann aber erst recht gelten, wenn - wie nach dem Wortlaut von § 11 der Verordnung vom 4. Oktober 1930 - zu entscheiden ist, ob die Nachentrichtung "aufgeschoben werden kann ". Daß jedenfalls bei einem solchen Verordnungswortlaut die Entscheidung der nach § 11 Abs. 3 AVG zuständigen Stelle "konstitutive Bedeutung" hat, hat auch der 1. Senat für Entscheidungen nach § 12 Abs. 2 und 3 der Verordnung vom 4. Oktober 1930 im Urteil vom 16. Juli 1974 hervorgehoben. Das kann in der Tat nicht zweifelhaft sein. Überläßt eine Rechtsvorschrift bei vorliegendem Aufschubgrund einer Verwaltungsstelle die Entscheidung darüber, ob Beiträge gezahlt werden sollen oder nicht, dann kann die Beitragsnachentrichtung (Nachversicherung) nur dann unterbleiben, wenn die zuständige Stelle entschieden hat, daß keine Beiträge entrichtet worden sollen.

Im Ergebnis das gleiche gilt aber auch, wenn die zuständige Stelle lediglich - statt des Versicherungsträgers - das Vorliegen des Aufschubgrundes, d. h. dessen Tatbestandsmerkmale festzustellen hätte und kein Ermessen hinsichtlich der Beitragsentrichtung walten lassen könnte (so wohl Wankelmuth, Die Reichsversicherung 1930, S. 288, 292). Auch dann wäre der Versicherungsträger zur Durchführung der Nachversicherung (Einziehung von Beiträgen) verpflichtet, wenn die zuständige Stelle keinen Aufschubgrund festgestellt, d. h. keine Entscheidung getroffen hat.

Der Senat kann deshalb der Beklagten nicht darin folgen, daß es keiner Entscheidung nach § 11 der Verordnung vom 4. Oktober 1930 bedurfte. Das Vorliegen des Aufschubgrundes nach § 8 Abs. 1 der Verordnung vom 4. Oktober 1930 genügte für sich allein nicht, um die Beitragsnachentrichtung aufzuschieben, zumal § 11 der Verordnung dann überflüssig gewesen wäre. Der Senat kann auch nicht erkennen, daß sich in der Zeit nach der Verkündung der Verordnung vom 4. Oktober 1930 ein gegenteiliges Gewohnheitsrecht für Fälle der hier vorliegenden Art gebildet hätte. Eine zeitweise anders verfahrende Praxis wäre deshalb, wie das LSG unter Berufung auf den Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 31. März 1934 (AN 1934 IV S. 130) richtig bemerkt, bereits damals rechtswidrig gewesen. In dem Erlaß ist ausdrücklich gesagt, daß der Arbeitgeber, dem das Recht zur Entscheidung nicht zusteht, die Nachversicherung nicht ohne weiteres, d. h. nicht ohne eine Entscheidung der nach § 11 Abs. 3 AVG zuständigen Stelle aufschieben oder nur deshalb ganz unterlassen kann, weil er die Voraussetzung hierfür als erfüllt ansieht. Jedenfalls benötigte der Versicherungsträger sonach eine "Aufschubentscheidung" der zuständigen Stelle, um von der Durchführung der Nachversicherung absehen zu können.

Somit stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Falle eine "Aufschubentscheidung" nach § 11 der Verordnung ergangen war oder nicht. Nach allgemeiner Auffassung (vgl. auch den genannten Erlaß) konnten die Entscheidungen generell für Gruppen oder für den Einzelfall ergehen. Immer bedurfte es aber entgegen der Meinung der Revision dazu eines Tätigwerdens der zuständigen Stelle. Insoweit kann zwischen den heutigen Auffassungen und denen der dreißiger Jahre kein Unterschied bestehen. Das Unterlassen einer Entscheidung wie auch das Unterlassen von Maßnahmen überhaupt erfüllt noch nicht den Begriff der "Entscheidung". Diesem Begriff wohnt immer ein Willenselement inne; eine "Entscheidung" kann sich nicht in einem bloßen Nichtstun erschöpfen. Dem angefochtenen Urteil kann nicht entnommen werden, daß das LSG von einem anderen Begriff der "Entscheidung" ausgegangen wäre. Auch das LSG hat zunächst nur nach dem Vorhandensein einer Entscheidung gefragt; es hat nicht darauf abgestellt, ob die Entscheidung auch in irgendeiner Weise bekanntgemacht worden ist.

Das LSG hat weder eine auf die Klägerin anwendbare generelle noch eine sie betreffende konkrete Entscheidung feststellen können. Diese Nichtfeststellbarkeit ist vom Revisionsgericht im Sinne des § 163 SGG als tatsächliche Feststellung zu werten. Der Senat ist daher hieran gebunden, sofern die Beklagte dagegen keine zulässige und begründete Revisionsrüge vorgebracht hat. Die Beklagte rügt insoweit eine Verletzung des § 103 SGG. Aus der Revisionsbegründung kann jedoch eine solche Verletzung nicht entnommen werden.

Das LSG hat beim Innenministerium Baden-Württemberg eine Auskunft eingeholt und in seinem Anschreiben vom 14. Juli 1972 (Bl. 35 der LSG-Akten) betont: "Es ist denkbar, daß der Aufschub der Nachversicherung ... auf dem Erlaßwege generell für bestimmte Gruppen von Bediensteten geregelt worden ist. Ich bitte deshalb um Mitteilung, ob ... eine derartige auf die Klägerin anzuwendende Verfügung allgemeiner Art ergangen ist". Die Antwort des Innenministeriums vom 13. November 1972 (Bl. 44 der LSG-Akten) besagt, die Erhebungen des Innenministeriums hätten ergeben, "daß eine Regelung über den Aufschub der Nachversicherung ... auf dem Erlaßwege für bestimmte Gruppen von Bediensteten in Baden ... nicht getroffen worden ist". Damit war für das LSG die Aufklärungspflicht hinsichtlich des Vorhandenseins einer generellen Aufschubentscheidung erschöpft. Das LSG mußte nicht auch noch nachgeordnete Dienststellen des Landes Baden-Württemberg darüber befragen, wie seinerzeit in vergleichbaren Fällen verfahren worden ist, zumal eine Übertragung der Befugnis zu generellen Aufschubentscheidungen auf diese Stellen nicht statthaft gewesen wäre.

Auch soweit eine Aufschubentscheidung im Einzelfall festzustellen war, erhebt die Beklagte keine begründete Verfahrensrüge; sie macht nur geltend, auf die formelle Entscheidung im Einzelfall komme es nicht an; vielmehr seien früher - entgegen der heutigen Regelung - die Tatbestände ausschlaggebend gewesen. Auch wenn hierin noch ein Angriff gegen die Beweiswürdigung des LSG gesehen werden könnte, ist eine Verletzung des § 128 SGG nicht dargetan.

Da somit eine Aufschubentscheidung als nicht feststellbar anzusehen ist, hat das LSG nach den Regeln der objektiven Beweislast entscheiden müssen. Dabei spielt es entgegen der Revisionsbegründung keine Rolle, ob die Beklagte ihrer Mitwirkungspflicht bei der Sachaufklärung erfolglos nachgekommen ist. Das LSG hat auch nicht angenommen, daß die Beklagte das Ergehen einer derartigen Entscheidung "darzulegen habe". Es hat allein geprüft, wen die Feststellungslast, d. h. die objektive Beweislast trifft und es hat die hierfür geltenden Regeln zutreffend angewandt. Nach den maßgebenden Rechtsvorschriften (einerseits § 18 AVG aF und andererseits §§ 8 und 11 der Verordnung vom 4. Oktober 1930) ist das Vorhandensein einer Aufschubentscheidung ein die Beitragsnachentrichtung hindernder Umstand. Die objektive Beweislast für das Vorhandensein einer solchen Aufschubentscheidung trägt deshalb die Beklagte. Dem steht auch das Urteil des 1. Senats vom 16. Juli 1974 nicht entgegen. Sofern der 1. Senat in diesem Urteil die Rechtsfolgen einer nicht feststellbaren Aufschubentscheidung anders beurteilt haben sollte, könnte der 11. Senat dem nicht beipflichten; der 11. Senat braucht jedoch wegen dieser möglichen Divergenz nicht den Großen Senat nach § 42 SGG anzurufen, weil etwaige Ausführungen des 1. Senats in diesem Sinne nicht zu den tragenden Gründen seines Urteils gehören.

Sonstige Gründe, die der Revision zum Erfolg verhelfen könnten, sind nicht erkennbar. Auf eine Verjährung des Rechts der Klägerin, von der Beklagten die Durchführung der Nachversicherung zu verlangen (nicht zu verwechseln mit dem Recht des Beitragspflichtigen zur Erhebung der Verjährungseinrede gegenüber der Beitragsnachforderung), hat sich die Beklagte nicht berufen. Die Voraussetzungen, die für eine Verwirkung dieses Rechts erforderlich sind, liegen nicht vor, jedenfalls deutet nichts darauf hin. Der Umstand, daß die Pflicht zur Beitragsnachentrichtung jahrzehntelang unerfüllt blieb, reicht für eine Verwirkung des auf die Erfüllung gerichteten Anspruches der Klägerin nicht aus.

Die Revision der Beklagten muß somit zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649429

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