Entscheidungsstichwort (Thema)

Befreiung von der Arzneikostengebühr. Befreiung vom Kostenanteil bei der Abnahme von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nach § 14 S 2 KVLG

 

Leitsatz (amtlich)

Die Krankenkasse darf, wenn sie über eine Befreiung von Kostenanteilen nach § 14 KVLG entscheidet, bei den verfügbaren finanziellen Mitteln die Witwengrundrente nach § 40 BVG uneingeschränkt berücksichtigen (Anschluß an BSG 1980-10-21 3 RK 21/80).

 

Orientierungssatz

Die in § 14 S 2 KVLG (= § 182a S 2 RVO) enthaltenen Begriffe des besonderen Härtefalles und des laufenden Benötigens von Mitteln bestimmen nicht die Voraussetzungen, sondern lediglich Inhalt und Grenzen des der Krankenkasse zustehenden Ermessens.

 

Normenkette

KVLG § 14 S 2 Fassung: 1977-06-27; RVO § 182a S 2 Fassung: 1977-06-27; BVG § 40

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 07.11.1979; Aktenzeichen L 4 Kr 42/78)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 06.04.1978; Aktenzeichen S 9 Kr 40/77)

 

Tatbestand

Die als Bezieherin von Altersgeld bei der Beklagten gegen Krankheit versicherte Klägerin beantragte am 11. August 1977, sie von der Zahlung des Arzneikostenanteils gemäß § 14 Satz 2 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) zu befreien. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil das monatliche Einkommen der Klägerin einschließlich einer Witwengrundrente nach § 40 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in Höhe von 387,-- DM mit insgesamt 953,38 DM die in ihren Richtlinien festgelegte Einkommensgrenze von 620,-- DM überschreite und weil deshalb ein Härtefall iS von § 14 Satz 2 KVLG nicht vorliege (Bescheid vom 11. August 1977; Widerspruchsbescheid vom 1. September 1977).

Die Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hingegen verurteilte die Beklagte zur Befreiung der Klägerin ab 11. August 1977. In der Begründung des Berufungsurteils ist ausgeführt, die Klägerin erfülle die Voraussetzungen, die sich die Beklagte durch ihre Richtlinien für eine positive Ermessensausübung selbst gesetzt habe. Danach müsse die Befreiung ausgesprochen werden, wenn das monatliche Bruttoeinkommen die Grenze von einem Drittel der Bezugsgröße nach § 18 des Sozialgesetzbuches 4 (SGB 4) nicht überschreite. An einer solchen Überschreitung fehle es hier. Zum gegenteiligen Ergebnis sei die Beklagte nur gelangt, weil sie zu Unrecht auch die Witwengrundrente als Einkommen berücksichtigt habe. Dabei habe die Beklagte verkannt, daß die Grundrente die Gewährung einer anderen, von der wirtschaftlichen Bedürftigkeit abhängenden Sozialleistung nicht hindern dürfe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 14 Satz 2 KVLG. Das LSG habe rechtsfehlerhaft die Grundrente nicht als Einkommen angesehen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung

der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Vorentscheidungen aufzuheben und die Beklagte

zur Erteilung eines neuen Bescheides zu verurteilen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als die Beklagte nicht zur Befreiung der Klägerin, sondern zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verurteilen war.

Das LSG hat die Berufung zu Recht als zulässig angesehen. Der Zulässigkeit stand insbesondere nicht § 144 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entgegen; die erstrebte Befreiung von der Zahlung des Arzneikostenanteils ist hier, wie der Senat in seinem heutigen Urteil in der Sache 11 RK 7/80 im einzelnen ausgeführt hat, weder eine einmalige Leistung (§ 144 Abs 1 Nr 1 SGG), noch eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum von bis zu 13 Wochen oder 3 Monaten (§ 144 Abs 1 Nr 2 SGG).

In der Sache hat das LSG jedoch zu Unrecht die Beklagte zur Befreiung der Klägerin verurteilt. Es ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß der angefochtene Bescheid eine Ermessensentscheidung darstellt. Dabei hat es ersichtlich seiner Beurteilung die Sach- und Rechtslage zur Zeit des Widerspruchsbescheides zugrundegelegt. Das ist nicht zu beanstanden; Änderungen der zunächst gegebenen Lage, die möglicherweise erheblich sein könnten (vgl BSGE 38, 168, 173), sind nicht festgestellt.

Der Umfang der gerichtlichen Nachprüfung wird durch die Art der nach § 14 Satz 2 KVLG zu treffenden Ermessensentscheidung bestimmt. Nach dieser Vorschrift, die § 182a Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entspricht, "kann" die Krankenkasse "in besonderen Härtefällen, vor allem, wenn laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigt werden", den Versicherten von der in Satz 1 angeordneten Zahlung von 1,-- DM für jedes verordnete Mittel befreien. Danach gehört § 14 Satz 2 KVLG zu den sogenannten Koppelungsvorschriften, bei denen nach dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.Oktober 1971 (BVerwGE 39, 355) jeweils zu prüfen ist, ob es sich um die Koppelung eines unbestimmten Rechtsbegriffs mit einer Ermächtigung zu einer Ermessensausübung oder um eine sich an Begriffen nur orientierende reine Ermessensregelung handelt. Der Senat nimmt in Übereinstimmung mit dem 3. Senat (SozR 2200 § 182a Nr 1; Urteil vom 21. Oktober 1980 - 3 RK 21/80 -) das letztere an. Die in § 14 Satz 2 KVLG enthaltenen Begriffe des besonderen Härtefalles und des laufenden Benötigens von Mitteln bestimmen sonach nicht die Voraussetzungen, sondern lediglich Inhalt und Grenzen des der Krankenkasse zustehenden Ermessens. Diese Auslegung gründet sich, wie der Senat in seinem heutigen Urteil in der Sache 11 RK 7/80 näher dargelegt hat, auf die Entstehungsgeschichte sowie auf Sinn und Zweck der Vorschrift; es ist insbesondere nicht vorstellbar, daß das Vorliegen eines besonderen Härtefalles bejaht, eine Befreiung aber abgelehnt werden könnte.

Damit ist der angefochtene Bescheid allein daraufhin zu prüfen, ob die Beklagte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Das ist der Fall.

Ein Ermessensmißbrauch läßt sich freilich entgegen der Ansicht des LSG nicht schon mit der Begründung bejahen, daß die Beklagte von ihren eigenen Richtlinien abgewichen sei. Eine "Selbstbindung" der Beklagten an ihre Richtlinien könnte sich nur dann gegen sie auswirken, wenn sie im Falle der Klägerin von der eigenen Auslegung und Handhabung der Richtlinien ohne verständigen Grund abgewichen wäre. Ein solches Abweichen liegt nicht vor, weil die Beklagte auch in anderen Fällen die Witwengrundrente zum Einkommen im Sinne ihrer Richtlinien rechnet.

Dennoch ist der der Klägerin erteilte Bescheid nach § 54 Abs 2 Satz 2 SGG aus folgenden Gründen rechtswidrig:

§ 14 Satz 2 KVLG bezweckt eine Vermeidung von Härten, die ohne eine Befreiung entstehen würden. Dabei hat der Gesetzgeber offensichtlich Fälle im Auge, in denen die Zahlungspflicht nach § 14 Satz 1 KVLG den Versicherten finanziell unzumutbar belasten und dadurch besonders hart treffen würde. Ob eine solche unzumutbare Belastung zu besorgen ist, läßt sich im Grunde nur einer Gegenüberstellung der vorhandenen oder zu erwartenden Belastung durch die Zahlung von Arzneikostenanteilen und der im selben Zeitraum erzielten Einkünfte unter Berücksichtigung anderweitiger besonderer Lasten entnehmen. Eine solche Gegenüberstellung ist in den Richtlinien der Beklagten nicht vorgesehen und auch im vorliegenden Fall nicht vorgenommen worden. Die Höhe der Belastung der Klägerin durch die Zahlungspflicht nach § 14 Satz 1 KVLG ist weder vom LSG festgestellt noch von der Beklagten bei ihrer Entscheidung erkennbar in Erwägung gezogen worden.

Nun ist es freilich, wie der Senat in seinem heutigen Urteil in der Sache 11 RK 7/80 näher ausgeführt hat, nicht schlechthin ausgeschlossen, daß nur auf den laufenden Arzneimittelbezug an sich, dh ohne Rücksicht auf die tatsächliche finanzielle Belastung im Einzelfall, und auf die Höhe des verfügbaren Einkommens abgehoben wird; ein solches Verfahren birgt zwar die Gefahr, daß in einer großen Zahl von Fällen, in denen es an einer besonderen Härte in Wahrheit fehlt, eine Befreiung ausgesprochen wird; zu dem Zweck der Ermächtigung widersprechender Ablehnungen kann es aber nur kommen, wenn die Einkommensgrenze zu niedrig angesetzt und kein Raum für eine Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles gelassen wird. Die Einkommensgrenze ist zu niedrig angesetzt, wenn sie einen nicht unbedeutenden Teil der Versicherten, die laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigen, von der Befreiung ausschließt, wie das bei einer Begrenzung durch ein Drittel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 der Fall ist; es ist hier zu bedenken, daß bei einem Absehen von einer Prüfung der konkreten Belastung durch die Zahlungspflicht nach § 14 Satz 1 KVLG eine hohe Belastung unterstellt werden muß. Es widerspricht ferner dem Sinn und Zweck des § 14 Satz 2 KVLG, Härten zu vermeiden, wenn eine Berücksichtigung von Umständen des Einzelfalles, die sich im voraus nicht übersehen lassen, nicht erkennbar ermöglicht wird. Die Richtlinien der Beklagten lassen aber Ausnahmen bei einem Überschreiten der Einkommensgrenze nicht zu; sie sind auch hier von der Beklagten so angewandt worden.

Entgegen der Ansicht des LSG ist es allerdings nicht zu beanstanden, daß die Beklagte bei dem verfügbaren Einkommen der Klägerin deren Witwengrundrente mitberücksichtigt hat. In seinem Urteil in der Sache 11 RK 7/80 hat der Senat dargelegt, daß bei der Erfassung der für die Zahlung der Kostenanteile verfügbaren finanziellen Mittel Einkünfte, die der Bestreitung des allgemeinen Lebensunterhalts dienen sollen, uneingeschränkt und zweckbestimmte Leistungen in dem durch die zweckbedingten Aufwendungen nicht verbrauchten Umfang berücksichtigt werden dürfen. Der Senat hat dort die Grundrente eines Beschädigten zu den letzteren Leistungen gerechnet. Die Witwengrundrente dagegen gehört zu den erstgenannten Einkünften, auch wenn man sich dabei nicht an der einem anderen Sinn und Zweck als § 14 Satz 2 KVLG dienenden Vorschrift des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO orientiert. Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat in seinem Urteil vom 21. Oktober 1980 - 3 RK 21/80 - eingehend dargelegt, daß die Witwengrundrente eine für den allgemeinen Lebensunterhalt bestimmte Leistung darstellt, bei der ein zugleich gewollter Ausgleich eines immateriellen Schadens oder etwaiger Mehraufwendungen - anders als bei der Grundrente des Beschädigten - völlig in den Hintergrund trete. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Die uneingeschränkte Berücksichtigung der Witwengrundrente erscheint hier besonders deshalb begründet, weil § 14 Satz 2 KVLG, was das LSG nicht bedacht hat, der Vermeidung besonderer Härten dienen soll, die nicht ohne weiteres schon bei einer finanziellen Bedürftigkeit bestehen. Bei einer derartigen Voraussetzung für die erstrebte Befreiung sind auch immaterielle Opfer zumutbar. Sollte eine Witwe im Einzelfall infolge des Verlustes ihres Ehemannes höhere finanzielle Lasten als andere Versicherte zu tragen haben, wäre dies von der Beklagten im Rahmen der immer offenzuhaltenden Einzelfallprüfung zu berücksichtigen.

Der Senat hat hiernach die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig erachtet und sie sowie die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben. Er hat die Beklagte nur zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, weil sich noch nicht alle Möglichkeiten der Beklagten für eine ermessensfehlerfreie Ablehnung der Befreiung ausschließen lassen, zumal die Beklagte an die bisherige Gestaltung ihrer Richtlinien nicht gebunden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655694

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