Entscheidungsstichwort (Thema)
Befreiung vom Arzneikostenanteil gemäß § 182a RVO
Leitsatz (amtlich)
1. In dem Rechtsstreit um eine Befreiung ohne zeitliche Begrenzung von der in § 14 S 1 KVLG (= § 182a S 1 RVO) angeordneten Zahlung von Kostenanteilen ist die Berufung nicht durch § 144 Abs 1 SGG ausgeschlossen.
2. Die Entscheidung der Krankenkasse über eine Befreiung nach § 14 S 2 KVLG (= § 182a S 2 RVO) ist eine reine Ermessensentscheidung (Anschluß an BSG 1979-03-28 3 RK 29/78 = SozR 2200 § 182a Nr 1).
3. Die Krankenkasse handelt ermessensfehlerhaft, wenn sie Versicherte, die laufend Arzneimittel benötigen, ohne ihre Kostenbelastung durch § 14 S 1 KVLG festzustellen, von der dort angeordneten Zahlung gemäß § 14 S 2 KVLG (= § 182a S 2 RVO) nur befreit, wenn ihr Bruttoeinkommen ein auf der Grundlage von einem Drittel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 gebildete Grenze nicht übersteigt (Anschluß an BSG 1980-10-21 3 RK 21/80).
4. Wenn die Krankenkasse die Befreiung von der in § 14 S 1 KVLG angeordneten Zahlung von dem für den allgemeinen Lebensbedarf verfügbaren Einkommen des Versicherten abhängig macht, darf sie die Grundrente eines Beschädigten nach dem BVG nur in dem Betrag berücksichtigen, der nicht durch schädigungsbedingte Mehraufwendungen verbraucht wird.
Orientierungssatz
1. Die in § 182a S 2 RVO/§ 14 S 2 KVLG enthaltenen Begriffe (besonderer Härtefall, laufendes Benötigen von Arzneimitteln usw) umschreiben nicht als unbestimmte Rechtsbegriffe die Voraussetzungen einer Ermessensausübung, sondern sie sollen als Ermessensbegriffe lediglich Inhalt und Grenzen des der Krankenkasse zustehenden Ermessens bestimmen (dh Ermessensrichtschnur sein); sie unterliegen somit keiner vollen gerichtlichen Nachprüfung.
2. Es erscheint noch nicht als ein unbedingter Widerspruch zum Zweck der Ermächtigung in § 182a S 2 RVO/§ 14 S 2 KVLG, wenn die Krankenkasse aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bei einem laufenden Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nicht auf die sich daraus für den Versicherten ergebende konkrete finanzielle Belastung, sondern nur auf die für die Kostentragung vorhandenen finanziellen Mittel und damit nur auf das Einkommen des Versicherten abstellt. Die Krankenkasse darf dann aber nicht diese Einkommensgrenze so festsetzen, daß Versicherte, deren Befreiung der Gesetzgeber ersichtlich gewollt hat, keine Befreiung erlangen. Das Einkommen von mehr als einem Drittel der Bezugsgröße iS des § 18 SGB 4 rechtfertigt nicht grundsätzlich die Versagung der Befreiung.
Normenkette
KVLG § 14 S 2 Fassung: 1977-06-27; RVO § 182a S 2 Fassung: 1977-06-27; SGG § 144 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 31
Verfahrensgang
Tatbestand
Der als Bezieher von Altersgeld bei der beklagten Landwirtschaftlichen Krankenkasse gegen Krankheit versicherte Kläger beantragte am 1. Februar 1978, ihn von der Zahlung des Arzneikostenanteils gemäß § 14 Satz 2 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) - idF des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes vom 1977-06-27 (BGBl I 1069) - zu befreien. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil das monatliche Einkommen des Klägers einschließlich seiner Grundrente von 123,-- DM mit insgesamt 664,60 DM die in ihren Richtlinien festgelegte Einkommensgrenze von 650,-- DM überschreite und deshalb ein Härtefall im Sinne von § 14 Satz 2 KVLG nicht vorliege (Bescheid vom 10. Februar 1978; Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 1978).
Die Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 28. Februar 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hingegen verurteilte die Beklagte zur Befreiung des Klägers ab 1. Februar 1978 (Urteil vom 6. August 1980). Zur Begründung führte es aus, die Beklagte könne sich nicht auf ihre Richtlinien berufen, wonach ein Versicherter, der voraussichtlich für mindestens drei Monate laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötige, in der Regel vom Kostenanteil zu befreien sei, wenn sein Bruttoeinkommen ein Drittel der Bezugsgröße des § 18 Sozialgesetzbuch (SGB) 4 nicht übersteige. Da der Freibetrag sich am allgemeinen Unterhaltsbedarf orientiere, die Grundrente aber nicht diesem Zweck diene, dürfe sie nicht auf den Freibetrag angerechnet werden. Ohne die Grundrente habe das Einkommen des Klägers bis zur Verhandlung vor dem Berufungsgericht die Einkommensgrenze nicht überschritten. Da die Beklagte die Ablehnung der Befreiung allein auf die Überschreitung der Einkommensgrenze stütze, sei somit nur noch Raum für eine positive Ermessensentscheidung und die Beklagte demgemäß zur Befreiung zu verurteilen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 14 Satz 2 KVLG. Das LSG habe rechtsfehlerhaft die Grundrente nicht als Einkommen angesehen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung
des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als die Beklagte nicht zur Befreiung des Klägers, sondern zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verurteilen ist.
Zu Recht hat das LSG allerdings, wenn auch ohne Begründung, die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG als zulässig angesehen. Sie war insbesondere nicht nach § 144 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen, weil sie keinen Anspruch auf eine einmalige Leistung (Nr 1) oder auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen bzw 3 Monaten (Nr 2) betraf. Leistung in diesem Sinne kann zwar jede Handlung eines Leistungsträgers sein, aus der dem einzelnen ein rechtlicher Vorteil erwächst (SozR Nr 30 zu § 144 SGG), mithin auch die Befreiung von Kostenanteilen. Die vom Kläger erstrebte Befreiung wäre aber zum einen als Leistung keine "einmalige" gewesen. Denn obgleich in einem einmaligen Akt zu vollziehen, sollte sie sich (für die Dauer ihres Bestandes) in dem fortlaufenden Entfallen von Kostenanteilen beim Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln auswirken; eine solche Dauerwirkung steht der Charakterisierung als einmalige Leistung entgegen (BSGE 42, 212, 214, dort zur Arbeitserlaubnis). Da diese Wirkung des weiteren nicht auf einen Zeitraum bis zu einem Vierteljahr beschränkt sein sollte, konnte andererseits auch Nr 2 des § 144 Abs 1 SGG die Berufung nicht ausschließen.
Zu Unrecht hat das LSG jedoch die Beklagte zur Befreiung des Klägers ab 1. Februar 1978 verurteilt. Dabei hat das LSG die mit der Klage angefochtene Befreiungsversagung zutreffend als eine Ermessensentscheidung gewertet. Für die gerichtliche Nachprüfung bedeutet dies (zunächst), daß ungeachtet der mit der Anfechtungsklage verbundenen Verpflichtungs- bzw Bescheidungsklage die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides nach der Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist, die bei Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 1978 für die Zeit ab der Antragstellung (1. Februar 1978) maßgebend war. Es läßt sich zwar fragen, ob wegen der auch einer Befreiungsversagung zuzumessenden "Dauerwirkung" aus verfahrensökonomischen Gründen nicht außerdem spätere Veränderungen dieser Lage - zum Vorteil wie zum Nachteil des Klägers - berücksichtigt werden müßten (vgl BSGE 38, 168, 173 bei Versagung rentengleicher Härteleistungen); die Frage kann hier jedoch offenbleiben, weil das LSG keine Veränderungen festgestellt hat, die als erheblich gelten könnten.
Die gerichtliche Nachprüfung wird darüber hinaus im Umfang entscheidend durch die Art der nach § 14 Satz 2 KVLG zu treffenden Ermessensentscheidung bestimmt. Nach der Vorschrift, die § 182a Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entspricht, "kann" die Krankenkasse "in besonderen Härtefällen, vor allem, wenn laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigt werden", den Versicherten von der in Satz 1 angeordneten Zahlung von 1,-- DM für jedes verordnete Mittel befreien. Wegen dieses Inhalts gehört § 14 Satz 2 KVLG zu den sog Koppelungsvorschriften, bei denen nach der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 (BVerwGE 39, 355) jeweils zu prüfen ist, ob es sich um die Koppelung eines unbestimmten Rechtsbegriffes mit einer anschließenden Ermessensausübung oder um eine sich an Begriffen bloß orientierende reine Ermessensentscheidung handelt. Für die Parallelvorschrift des § 182a Satz 2 RVO hat der 3. Senat in seinem Urteil vom 28. März 1979 (SozR 2200 § 182a Nr 1) das letztere angenommen (vgl ferner das Urteil vom 21. Oktober 1980 - 3 RK 21/80). Dem schließt sich der erkennende Senat für § 14 Satz 2 KVLG an. Er ist demnach der Auffassung, daß die in der Vorschrift enthaltenen Begriffe (besonderer Härtefall, laufendes Benötigen von Arznei-, Verband- und Heilmitteln) nicht als unbestimmte Rechtsbegriffe Voraussetzungen der Ermessensausübung umschreiben; sie sollen (als Ermessensbegriffe) lediglich Inhalt und Grenzen des der Krankenkasse zustehenden Ermessens bestimmen (dh Ermessensrichtschnur sein) und unterliegen somit keiner vollen gerichtlichen Nachprüfung.
Für dieses Verständnis der Vorschrift spricht nicht nur die vom 3. Senat dargestellte Entstehungsgeschichte, aus der sich ergibt, daß eine auf den Einzelfall abgestellte Regelung gewollt war und der Selbstverwaltung der Krankenkassen absichtlich ein größerer Entscheidungsspielraum gelassen werden sollte; auf eine reine Ermessensvorschrift weist ferner die unlösbare Verknüpfung der Befreiung mit besonderen Härtefällen hin (so schon BSGE 34, 269, 270 für "Härtefälle" im Sinne des § 602 RVO; vgl andererseits aber BSGE 36, 143 für die "besondere Härte" im Sinne des § 89 Bundesversorgungsgesetz -BVG-). Für § 14 S 2 KVLG läßt sich jedenfalls kein Anhalt dafür finden, daß hier das Vorliegen eines besonderen Härtefalles zwar bejaht, dennoch aber die Befreiung abgelehnt werden dürfte. Eine gerichtliche volle Prüfung des besonderen Härtefalles als unbestimmter Rechtsbegriff müßte somit - im Widerspruch zu den Absichten des Gesetzgebers - § 14 Satz 2 KVLG im Ganzen den Charakter der Ermessensvorschrift nehmen. Das gilt auch in Anbetracht des sich anschließenden Satzteiles: "Vor allem, wenn laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigt werden". Denn obgleich dieser Tatbestand eher der vollen gerichtlichen Prüfung zugänglich wäre, handelt es sich insoweit nur um eine teilweise Konkretisierung des besonderen Härtefalles (so auch der 3. Senat in den genannten Urteilen). Der Gesetzeswortlaut ist allerdings mißverständlich formuliert. Er soll nicht besagen, daß bei jeder laufenden - also ggf auch geringfügigen - Benötigung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln stets ein besonderer Härtefall vorliegt. Das ist unter diesen Umständen vielmehr immer noch zu prüfen. Der "besondere Härtefall" ist der Oberbegriff, der nach dem Gesetz "vor allem" bei einem laufenden Mittelbezug gegeben sein kann. Der Gesetzgeber stellt sich diesen Fall lediglich als den Hauptfall einer besonderen Härte vor.
Die ablehnende Entscheidung der Beklagten ist hiernach allein daraufhin zu prüfen, ob die Beklagte nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit des Widerspruchsbescheides die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat - das ist hier von vornherein auszuschließen - oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Letzteres trifft zu.
Das ergibt sich allerdings noch nicht aus dem Gesichtspunkt einer Selbstbindung an die von ihrem Vorstand erlassenen Richtlinien, die Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen entsprechen. Diese Richtlinien erfassen zwei Fallgruppen; die erste betrifft Versicherte, die voraussichtlich für einen Zeitraum von mindestens drei Monaten laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigen, die zweite Fälle, in denen die Zuzahlung "aus anderen Gründen" eine unzumutbare Härte bedeutet. Die Beklagte hat den Kläger der ersten Gruppe zugeordnet. Die dieser Gruppe angehörenden Personen "werden" nach den Richtlinien "befreit, wenn das Bruttoeinkommen (Einkünfte im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO) des Versicherten" ein Drittel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 nicht übersteigt (die weiteren Bestimmungen zur Einkommensgrenze haben hier keine Bedeutung). Damit hat die Beklagte auf die Einkünfte im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO abgehoben; diese Vorschrift setzt für freiwillig Versicherte den Grundlohn aufgrund "des Arbeitsentgeltes und sonstiger Einnahmen zum Lebensunterhalt" fest. Die Beklagte hat hierzu die Grundrente eines Beschädigten gerechnet. Inzwischen hat jedoch der 3. Senat mit Urteil vom 21. Oktober 1980 - 3 RK 53/79 - entschieden, daß die Grundrente keine Einnahme zum Lebensunterhalt im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO ist; er hat dies wesentlich daraus abgeleitet, daß die Vorschrift nur die für den "allgemeinen Lebensunterhalt" bestimmten Einnahmen meine. Für die Frage einer Selbstbindung der Beklagten kommt es jedoch nicht auf die richtige Auslegung des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO an, sondern wie die Beklagte in ihrer Verwaltungspraxis ihre Richtlinien handhabt, dh welche Einkünfte sie hiernach zu dem für die dortige erste Gruppe maßgebenden Bruttoeinkommen rechnet. Eine "Selbstbindung" könnte sich daher nur dann gegen sie auswirken, wenn sie im Falle des Klägers ohne verständigen Grund von ihrer Verwaltungsübung abgewichen wäre; ein solches Abweichen liegt nicht vor.
Damit ist zu klären, ob die Richtlinien der Beklagten für die dort erfaßte erste Gruppe in der tatsächlichen Handhabung mit dem Zweck der ihr in § 14 Satz 2 KVLG erteilten Ermächtigung im Einklang stehen. Das ist aus mehreren Gründen zu verneinen.
Durch § 14 Satz 2 KVLG sollen besondere Härten vermieten werden, die ohne eine Befreiung infolge der in Satz 1 angeordneten Zahlungspflicht von 1,-- DM für jedes dort genannte Mittel entstehen würden. Demnach muß es sich um Fälle handeln, in denen diese Zahlungspflicht den Versicherten finanziell unzumutbar belasten und deshalb besonders hart treffen würde. Daraus müßte sich eigentlich ergeben - zumal § 14 Satz 2 KVLG gerade die Einzelfallprüfung bezweckt (SozR 2200 § 182a Nr 1) -, daß zunächst ermittelt wird, wieviele DM der Versicherte zur Zeit der Verwaltungsentscheidung etwa pro Monat oder Vierteljahr gemäß Satz 1 zahlen mußte oder müßte; dem wären die finanziellen Mittel gegenüberzustellen, die ihm für die Zahlung dieses Betrages - bei Berücksichtigung sonstiger besonderer Lasten - zur Verfügung standen bzw stehen.
Die Beklagte ist nicht so verfahren. Wie hoch die Kostenbelastung des Klägers aufgrund der Zahlungspflicht nach § 14 Satz 1 KVLG bei Abschluß des Verwaltungsverfahrens tatsächlich war und mit welcher Höhe weiterhin gerechnet werden mußte, hat auch das LSG nicht festgestellt. Unter solchen Umständen ist die Gefahr zu sehen, daß Entscheidungen über Befreiungsanträge den Boden der Wirklichkeit verlassen. Das gilt auch beim laufenden Mittelbezug, weil selbst dann im Einzelfall die Kostenbelastung gering sein kann (zB bei einem sechsmaligen Bezug im Monat 6,-- DM).
Gleichwohl erscheint es noch nicht als ein unbedingter Widerspruch zum Zweck der Ermächtigung in § 14 Satz 2 KVLG, wenn die Beklagte aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bei einem laufenden Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nur auf die für die Kostentragung vorhandenen finanziellen Mittel und dabei nur auf das Einkommen des Versicherten abstellt. In diesem Falle hätte sie im Hinblick auf den Befreiungszweck jedoch folgendes beachten müssen:
1. Wenn sie nur bis zu einer Einkommensgrenze befreien will, darüber hinaus aber nicht mehr, dann darf sie diese Grenze nicht so festsetzen, daß Versicherte, deren Befreiung der Gesetzgeber ersichtlich gewollt hat, keine Befreiung erlangen. Wie schon dargetan, hatte der Gesetzgeber als Hauptfall einer besonderen Härte die laufende Benötigung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln vor Augen. Er hat zwar nicht in jedem derartigen Fall die besondere Härte für gegeben sehen wollen und es letztlich sogar an Abgrenzungen insoweit fehlen lassen; aus der Art, wie er § 14 Satz 2 KVLG gestaltet hat, muß man aber doch wohl annehmen, daß er immerhin bei einer beträchtlichen, wenn nicht sogar der überwiegenden Zahl dieser Versicherten eine besondere Härte bejahen wollte. Von diesem dem Gesetzgeber vor Augen stehenden Personenkreis von Versicherten mit laufendem Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln schließen die Richtlinien der Beklagten aber jedenfalls einen nicht mehr unbedeutenden Teil von der Befreiung aus, wenn sie die Einkommensgrenze schon bei einem Drittel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 ziehen. Auch der 3. Senat hat in seinen angeführten Urteilen diese Grenze für eine generelle Handhabung als zu niedrig erachtet. Dem schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an. Zu beachten ist nämlich auch, daß die Beklagte bei ihrem Verfahren, wie schon gesagt, von einer Ermittlung der jeweiligen Kostenbelastung absieht. Gerade dann muß sie aber bei der Festsetzung der Einkommensgrenze alle die Fälle berücksichtigen, in denen die Belastung schon für sich eine hohe ist; sie muß dann also von wirtschaftlich erheblichen Kosten ausgehen.
2. Wenn die Beklagte ein generelles Verfahren wählt, dann muß sie des weiteren immer Raum für eine Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles lassen; das gilt schon für Ermessensvorschriften allgemein und für § 14 Satz 2 KVLG, der gerade die Einzelfallprüfung erstrebt, erst recht. Der Wortlaut ihrer Richtlinien für die erste Gruppe ist jedoch so gefaßt, daß er bei Überschreiten der Einkommensgrenze Ausnahmen nicht zuläßt; auch in den angefochtenen Bescheiden hat die Beklagte die Richtlinien als eine Regel ohne mögliche Ausnahme gehandhabt. Ob beim Kläger Umstände vorliegen, die zu einer Ausnahme Anlaß gäben, ist infolgedessen nicht oder doch nicht in erkennbarer Weise geprüft worden.
3. Bei der Erfassung der für die Zahlung von Kostenanteilen verfügbaren finanziellen Mittel kann die Beklagte zwar unbedenklich alle Einkünfte berücksichtigen, die der Bestreitung des Lebensunterhalts dienen sollen. Das hat sie auch offenbar im Sinne, wenn sie sich in den Richtlinien mittels einer Klammerverweisung auf die "Einkünfte im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO", also auf die dort genannten "Einnahmen zum Lebensunterhalt" bezieht. Das Urteil des 3. Senats vom 21. Oktober 1980 zu § 180 Abs 4 Satz 1 RVO hat jedoch deutlich gemacht, daß der dortige Einnahmebegriff wesentlich vom Sinn und Zweck dieser Vorschrift her zu verstehen ist. Insoweit besteht keine Identität mit dem Sinn und Zweck des § 14 Satz 2 KVLG. Unterschiedliche Folgen ergeben sich für die vom Senat hier zu treffende Entscheidung daraus freilich noch nicht. Auch wenn die Einkünfte zum Lebensunterhalt nur aus der Sicht der letzteren Vorschrift bestimmt werden, hat die Beklagte nämlich die Grundrente des Klägers nicht als ein Einkommen für den allgemeinen Lebensbedarf ansehen dürfen. Der Senat hat bereits mehrfach dargelegt (SozR 5420 § 2 Nr 8; Urteil vom 10. September 1980 - 11 RK 1/80 -), daß die Grundrente des Beschädigten der Bestreitung des Lebensunterhalts nur insofern dient, als sie den - zum Lebensunterhalt gehörenden - schädigungsbedingten Mehraufwand ausgleichen soll. Das schließt ihre einschränkungslose Zurechnung zu den "Einnahmen zum Lebensunterhalt" aus.
4. Hieraus muß nicht abgeleitet werden, die Beklagte dürfe die Grundrente wie auch sonstige zweckbestimmte Leistungen Oberhaupt nicht bei den verfügbaren Mitteln berücksichtigen. Wenn die Grundrente der Abgeltung eines schädigungsbedingten Mehraufwandes dienen soll, so heißt das nicht, daß jeder Beschädigte tatsächlich Mehraufwendungen im Betrag der Grundrente hat. Auch der 3. Senat hat das in seinem Urteil vom 21. Oktober 1980 zu § 180 Abs 4 Satz 1 RVO ua wegen der Höhe der Grundrente in Betracht gezogen. Ähnliches kann auf andere zweckbestimmte Leistungen zutreffen. In diesen Fällen darf die Beklagte, wenn sie die Einkommensgrenze am allgemeinen Lebensbedarf ausrichtet, die zweckbestimmten Leistungen nur in dem Betrag berücksichtigen, der nicht durch die zweckbedingten Aufwendungen verbraucht wird. Ob und inwieweit eine solche Teilung möglich ist, hat der Senat hier nicht zu entscheiden. Wenn sich bei zweckbedingten Leistungen ein dem Empfänger zur freien Verfügung verbleibender Teil feststellen läßt, trägt dessen Berücksichtigung jedenfalls dem Sinn und Zweck des § 14 Satz 2 KVLG Rechnung. Die Vorschrift läßt, wie nochmals hervorzuheben ist, die Befreiung nur "in besonderen Härtefällen" zu. Diese setzen, wie der 3. Senat zutreffend dargelegt hat (SozR 2200 § 182a Nr 1), Umstände voraus, die den jeweiligen Sachverhalt über einen bloßen Härtefall hinaus noch besonders qualifizieren, so daß der besondere Härtefall nicht ohne weiteres mit einer finanziellen Bedürftigkeit gleichgesetzt werden kann. Unter diesen Umständen ist dem Versicherten zuzumuten, bei seinen Kostenanteilen ggf auch auf zweckbestimmte Leistungen zurückzugreifen, soweit sie nicht durch Aufwendungen für den ihnen zugedachten Zweck verbraucht werden. Im vorliegenden Falle hat die Beklagte für die Überschreitung der Einkommensgrenze jedoch nahezu die gesamte Grundrente in Anspruch genommen, ohne hierzu festzustellen, daß der Kläger sie in dieser Höhe nicht für schädigungsbedingte Mehraufwendungen verbraucht.
Aus allen diesen Gründen folgt, daß der ablehnende Bescheid der Beklagten nach § 54 Abs 2 Satz 2 SGG rechtswidrig ist. Er ist deshalb aufzuheben und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verurteilen. Der Senat stimmt nicht der Ansicht des Berufungsgerichts zu, daß schon jetzt der Ermessensspielraum der Beklagten so eingeengt sei, daß nur eine Befreiung von der in § 14 Satz 1 KVLG angeordneten Zahlung in Betracht komme. Dieser Schluß träfe zwar zu, wenn die Beklagte bei der bisherigen Struktur ihrer Ermessensrichtlinien verbleibt, also nicht nach der Höhe der Kosten für den Versicherten fragt und nur seine Einnahmen zum allgemeinen Lebensunterhalt berücksichtigt. Die Beklagte ist jedoch an eine solche Gestaltung von Richtlinien nicht gebunden. Daher lassen sich noch nicht alle Möglichkeiten für eine ermessensfehlerfreie Ablehnung der Befreiung ausschließen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1658167 |
BSGE, 147 |